Russische Stimmen zur WM

Die Sieger der russischen Meisterschaft Die Sieger der russischen Meisterschaft chesspro.ru

Olaf Steffens hat ja bereits von der WM in Bad Harzburg berichtet, ich wage einen Ausblick auf die Veranstaltung in Chennai - das ist ja schon deshalb keine richtige Weltmeisterschaft weil nur zwei Spieler dabei sind, dennoch wird sie uns wohl noch beschäftigen. Gleichzeitig ist mein Beitrag auch ein Rückblick auf ein kleines aber feines Rundenturnier in Nizhny Novgorod, dessen Sieger sich möglicherweise für das nächste Kandidatenturnier qualifiziert hat. Und gewisse Parallelen zu Bad Harzburg sensu Steffens gibt es schon: auch diesmal werden unter anderem Essen und Kaffeetrinken angesprochen.

Zu Chennai (ehemals Madras): Alle sagen, dass Carlsen klarer haushoher Favorit ist - "alle" sind zumindest Kollege Raymund Stolze der schrieb, dass Titelverteidiger Anand "allerorts als krasser Aussenseiter gehandelt" wird. Alle? Einige Experten aus einem dünn besiedelten Land, eingeklemmt zwischen Ostsee und Pazifischem Ozean, sind sich da nicht so sicher. Später bekommt ein Spieler aus St. Petersburg (ehemals Leningrad) das Wort, zuerst die für mich einfachste Übersetzung da im Original auf Englisch: Chessbase zitiert Dreev zu den Chancen der beiden Kontrahenten: "Anand ist motiviert und Carlsen ist auch sehr stark. Beide sind grossartige Spieler und haben ihre Chancen." Damit hat er nichts gesagt und doch eine Menge? Dreev ist immerhin ehemaliger Weltklassespieler und hat gerade (Thema des Chessbase-Artikels) ein starkes Open in Indonesien gewonnen, einen oder mehr Punkte Rückstand auf ihn hatten u.a. der amtierende Europameister, ein ehemaliger WM-Kandidat, eine Ex-Weltmeisterin und die beste deutsche Spielerin. Bei einer anderen Gelegenheit hatte Dreev dieses gesagt (sinngemäss): Karjakin versucht seine Gegner zu überspielen, Carlsen wartet vor allem auf gegnerische Fehler, Karjakin ist mir lieber. Auch ein Zeichen, dass Russland oder einzelne Russen gegen den Carlsen-Hype (nicht unbedingt eine Krankheit, aber jedenfalls ansteckend) immun sind.

Und jetzt Svidler (Gold in Nizhny Novgorod) und auch ein bisschen Vitiugov (Bronze) - auf dem Titelfoto zwischen ihnen Nepomniachtchi (Silber), der hat sich meines Wissens nicht geäussert. Ich will und kann Chessintranslation nicht ersetzen (wobei ich die russischen Quellen mal wieder von Colin McGourty habe) und muss mich stattdessen auf Google-Übersetzungen verlassen. Die waren diesmal nicht immer einfach zu interpretieren - einiges musste ich zwei, dreimal lesen um es (vermutlich) zu verstehen - aber ich gehe davon aus, dass es inhaltlich schon stimmt, wobei meine deutsche Übersetzung von Googles englischer Übersetzung (direkt auf Deutsch ist reinstes Chaos) wiederum etwas frei ist. Das erste Original (Interviewer GM Kryakvin) erschien auf russiachess.org.

- Wer ist im bevorstehenden Match zwischen Anand und Carlsen Favorit? Du [Svidler] bist einer der wenigen Spieler, die gegen Magnus kämpfen können.

Aber nicht wirklich gegen Anand! Mit mir als Barometer ist Anand offensichtlich Favorit, aber das spielt natürlich keine Rolle. Sehr wichtig ist, was in der Eröffnung passiert, nur Anand ist  "debyutchik" (Eröffnungs-Experte). Wenn das weiterhin so ist, dann wird es ein interessantes Match mit etwa gleichen Chancen für beide. Wenn Magnus es schafft, in diesem Bereich mit gründlicher Vorbereitung Anand einzuholen und mit Weiss Vorteile zu erzielen, dann wird es sehr schwer für Vishy. ... Alles ist möglich. Warten wir ab, es wird sicher interessant!

- Hast Du Turniere in Indien gespielt? In der Schachpresse kann man oft lesen, dass es für Europäer nicht leicht ist, im Osten zu spielen. Und zuletzt haben sich Usheninas Sekundanten über das nicht allzu korrekte Verhalten der (chinesischen) Organisatoren beschwert. [Das wurde in der westlichen Schachpresse kaum erwähnt - u.a. bekam Team Ushenina statt des versprochenen europäischen nur scharf gewürztes chinesisches Essen, und einmal haben sie ihren Sekundanten Khalifman um 1:00 nachts aufgeweckt um Bescheid zu geben, dass tags darauf womöglich das Wasser abgestellt wird.]

Ich habe einmal in Indien gespielt, den Weltcup 2001. Betrifft Ushenina - Hou Yifan, so etwas wird in Chennai nicht passieren. Wenn das was Khalifman sagte nur zu 25% stimmt ... und ich vermute dass die prozentuale Quote viel höher ist, denn ich kenne ihn seit vielen Jahren und er neigt nicht zu derlei extremer künstlerischer Übertreibung. Es war ekelhaft (disgusting), und die Organisatoren haben Hou Yifan damit keinen Gefallen getan. Hou Yifan war ohnehin Favorit und hatte derlei Hilfe nicht nötig. Aber ich habe keinerlei Zweifel daran, dass in Indien nichts Vergleichbares geschehen wird.

- Warum?

Es gibt einen Riesen-Unterschied zwischen der effizienten Maschine hinter Magnus, und der Unterstützung die Ushenina hatte. Anna hatte sehr gute Sekundanten [neben Khalifman noch Korobov], aber - so wie ich es verstehe - hat sich der ukrainische Schachverband völlig herausgehalten, und es gab keinen offiziellen Protest. Beim kleinsten Hinweis, dass in Indien etwas schief laufen könnte, wird Magnus' Umfeld sofort eingreifen. Ich bin mir absolut sicher, dass sie (die indischen Ausrichter) es gar nicht erst versuchen werden.

- Und das indische Essen?

Das Risiko was Essen und Wasser betrifft ist völlig übertrieben. Dass Carlsen seinen eigenen Koch mitnimmt, das kann und darf er natürlich. Aber das Risiko einer Lebensmittelvergiftung ist in einem indischen Fünfsternehotel genauso hoch wie in einem Fünfsternehotel anderswo. In Strassenrestaurants kann natürlich was passieren. Beim Weltcup 2001 waren wir im Hyatt-Hotel untergebracht, und alleine im Erdgeschoss gab es sechs Restaurants mit verschiedenen Küchen, alles sehr schmackhaft und keinerlei Probleme.

 

Das zweite - von Vladimir Barsky, insgesamt etwa 90% Svidler und 10% Vitiugov - steht auf chesspro.ru .

- Das WM-Match wird "Jugend gegen Erfahrung". Deine Prognose zum Resultat?

Svidler:  Ich hoffe, es wird ein sehr interessantes Match. Vishy in Turnieren und Vishy in Matches - das sind zwei verschiedene Spieler, und wenn Anand den Kampf in Topform bestreiten kann wird es wohl ein ausgeglichenes und spektakuläres Match. Es ist fast unmöglich, gegen Magnus eine nicht spektakuläre Partie zu spielen, denn er gibt immer alles. Wir werden ziemlich sicher die volle Distanz von 12 Partien erleben. ... Natürlich hängt viel davon ab, wie fit beide sind. Wenn ich einen Spieler bevorzugen muss, dann doch Magnus. Aber aus meiner Sicht sind die Chancen von Carlsen in Topform gegen Anand in Topform höchstens 60-40, eher 55-45.

- Nikita, Dein Tip?

Vitiugov: Ich habe gerade nachgedacht während Peter seine Meinung äusserte. Anfangs hätte ich wohl gesagt, dass Carlsen gewinnen wird und in weniger als 12 Partien. Aber, angesichts der Tatsache dass es ein Match ist, in Indien und die Matcherfahrung der Rivalen nicht zu vergleichen ist ... . Ich kann mir kaum vorstellen, dass Carlsen nicht gewinnt, das Match wird vielleicht mehr oder weniger ausgeglichen, aber es erscheint mir logisch dass Carlsen am Ende gewinnt. Wenn Anand es nochmal schafft, verdient er allen Respekt. Ich setze auf Carlsen vor allem weil ich mir kaum vorstellen kann, dass er viele Partien verliert.

Svidler: Das stimmt! Ich sehe das auch so: wenn das Match nicht über die volle Distanz geht, dann gewinnt Carlsen. Ich kann mir kein Szenario vorstellen in dem Anand, sagen wir, 6,5-4,5 gewinnt. Wenn das Match nicht in die Verlängerung geht, heisst es dass die Eröffnungsvorbereitung irgendwie überwunden wurde. Wenn Magnus am Anfang ein paar Partien gewinnt - ja, dann gibt es keine Verlängerung. Dennoch, betrifft Eröffnungen ... Magnus war immer vor allem ein praktischer Spieler, aber gegen einen einzelnen gut vorbereiteten Spieler wird es nicht einfach. Von den beiden ist offensichtlich Vishy der "debyutchik". Ob man es mag oder nicht, die Eröffnung spielt im modernen Schach eine wichtige Rolle. Nach derzeitigem Stand betrifft Niveau der Eröffnungsvorbereitung: wenn Vishy immer wieder mit Schwarz gute Stellungen bekommt, ist er nicht leicht zu schlagen.

Warten wir ab - eine ganze Weile! Bald sind all diese Erwägungen irrelevant und können wir das Match selbst bewerten-kommentieren-analysieren.

 

Zwischendurch ein paar Bemerkungen von mir, und dann ein bisschen zum Rest der Interviews (WM-Vorschau war jeweils nur 10-20%). Ist es Zufall, dass von den drei erwähnten Spielern der jüngste (Vitiugov) am ehesten oder meisten an Carlsen glaubt? Aus seiner 'verzögerten' Antwort lese ich auch Respekt für Svidler, was hätte er gesagt wenn Barsky ihn zuerst gefragt hätte? Meine eigene Meinung werde ich später anderswo noch ausführlicher geben und begründen, hier nur soviel: ich gebe Vitiugov recht, einen erfahrenen und kompetenten Spieler wie Svidler kann man nicht einfach ignorieren. Generell betrachte ich alle drei als unabhängige Experten - bei manch anderen bin ich mir da nicht so sicher: (anonyme) Kommentatoren z.B. auf Chessvibes kopieren sich vielleicht gegenseitig, und auch manche Journalisten schreiben vielleicht eher was die Leser vermeintlich gerne lesen wollen? Natürlich bin ich selbst auch Schwachspieler, und - ob das eine Rolle spielt sei dahingestellt - noch neun Jahre älter als Svidler und zwei Jahre älter als Dreev.

Die kompletten Interviews kann ich wärmstens empfehlen - Russischkenntnisse sind da sicher hilfreich, andernfalls Erfahrung, Geduld und Phantasie zu Google-Übersetzungen. Kandidatenturnier hatte ich schon erwähnt, auch das ist in westlichen Medien ziemlich untergegangen - vielleicht auch angesichts des ganzen Rummels um eine Person, die zuerst Schachspieler war, dann Quasi-Politiker und nun Schachpolitiker werden will. Khanty-Mansiysk bekam den Zuschlag, kurze Zusammenfassung russischer Quellen: Bulgarien (Kosloduj) hatte sich auch beworben, bot deutlich mehr Preisgeld aber keine Bankgarantie - offenbar auch nicht nachdem sie dafür noch eine Woche Verlängerung bekamen. Wer wird der achte Teilnehmer? Auf jeden Fall ein Russe, wohl entweder Svidler oder Grischuk - das will der russische Schachverband jetzt in Ruhe besprechen und entscheiden.

Hauptthema und Anlass für die Interviews war die russische Meisterschaft - wer das Turnier nicht verfolgt hat kann sich z.B. hier und hier informieren; natürlich gibt es noch diverse andere Quellen (die der Autor dieser Artikel auch mit einfliessen liess). Svidler war hinterher eher bescheiden, meinte dass er anfangs (gegen Nepomniachtchi und Shomoev) durchaus ein bisschen Glück hatte, und dann das: "Vielleicht komisch das zu sagen über jemand der zwei Partien verloren hat, und ich keine, aber ich denke dass Volodya [Kramnik] besser gespielt hat als ich" - bzw. auf Englisch "brighter" und auf Deutsch "heller", was immer damit bzw. im russischen O-Ton genau gemeint ist. Man vergleiche das mit Carlsen nach dem Kandidatenturnier - Kernaussage: Kramnik hat gut gespielt, aber ich - Carlsen - habe das beste Schach gespielt und verdient gewonnen.

Und dann habe ich Olaf bzw. dem Publikum noch Kaffee versprochen, das bezieht sich auf die alles entscheidende letzte Runde nebst Verlängerung (Schnellschach-Stichkampf gegen Nepomniachtchi): Nach seiner Partie gegen Karjakin ging Svidler zusammen mit Ilya Levitov zurück ins Hotel. Was die erwähnte Partie betrifft, wunderte er sich dass Chessbase (und später u.a. ich) das als "simples Remis" abhakten: "Niemals dachte ich, dass es einfach war, und hinterher war ich erschöpft". Als Svidler ins Hotel verschwand, hatte Kramnik klaren Vorteil gegen Nepomniachtchi, und im Falle eines Sieges dürfte/müsste er gegen Svidler stechen. Später war die Partie remislich; da Svidler seinem eigenen Hirn nicht vertraute fragte er Engines nach ihrem Urteil - "the unit wrote zeros". Svidler und Levitov tranken Kaffee, und Svidler spielte mit dem Gedanken, seinen zweiten Kaffee alkoholisch zu verdünnen da er an diesem Tag nicht mehr arbeiten müsste. Dann die überraschende Wendung: Kramnik patzte, und Alkohol war nicht mehr angesagt (bzw. erst nach den nun fälligen beiden Schnellpartien).

Das war's - für heute - von mir, nun ist der Leser am Zug: eigene Kommentare zu Dreev, Svidler, Vitiugov, Anand und/oder Carlsen gerne per Kommentar!

 

 

Kommentare   

#1 Friedrich 2013-10-21 08:46
Vielen Dank für den launigen Artikel. Die Aussage Svidlers, dass der Matchplayer Anand ein völlig anderer sei als der Turnierspieler bringt es m.E. auf den Punkt. Das Match ist völlig offen. Bin gespannt ob es Anand in der Eröffnung gelingen wird Carlsen irgendwie zu überumpeln. Das wäre eine Meisterleistung.


Zitat:
Kernaussage: Kramnik hat gut gespielt, aber ich - Carlsen - habe das beste Schach gespielt und verdient gewonnen.
habe ich anders Erinnerung: Carlsen sagte, er habe verdient gewonnen, habe in den ersten Runden sein bestes Schach gespielt. Das wäre ja einen völlig andere Aussage. Gut möglich, dass ich mich täusche. Habe Sie eine Quelle für ihr `Zitat` ?

Carlsen ist nicht unbedingt bescheiden, aber nach meinem Eindruck versuchter objektiv zu sein. Nach seiner am Ende gewonnene Partie beim Siquefield Cup gegen Aronian gab er zu in der ersten Phase komplett ausgepielt worden zu sein.
#2 Thomas Richter 2013-10-21 17:46
@Friedrich: Carlsens Aussagen stammen aus einem Video (Interview bzw. Pressekonferenz) direkt nach dem Kandidatenturnier, auf london2013.fide.com noch verfügbar. Ich glaube, das zweite Video - das erste war direkt nach seiner Partie gegen Svidler während Ivanchuk-Kramnik noch lief, das zweite nachdem er definitiver Tiebreak-Sieger war.(habe momentan nicht die Zeit, um mir die 16+10 Minuten nochmal komplett anzuhören).

Videos sind für (Hobby-)Journalisten ein bisschen problematisch - um alles 100% korrekt zu erfassen muss man sie mehrfach abspulen und am besten mitschreiben. Ich habe meinen Eindruck wiedergegeben - Carlsen sagte ausserdem, dass Kramnik eröffnungsmässig am besten war ("aber das ist nicht alles") und dass er in den ersten 11 Runden alles unter Kontrolle hatte [seine Verluststellung in der ersten Partie gegen Radjabov hat er da ignoriert?].
#3 Michael Schwerteck 2013-10-21 21:04
Zitat:
einmal haben sie ihren Sekundanten Khalifman um 1:00 nachts aufgeweckt
Ein WM-Sekundant, der um 1 Uhr nachts schläft? Damit konnte ja wirklich keiner rechnen!

Die Teilnahme an unserer Kommentarfunktion ist nur registrierten Mitgliedern möglich.
Login und Registrierung finden Sie in der rechten Spalte.