Eindrücke von der NL-Meisterschaft

Austragungsort Manor Hotel Amsterdam Austragungsort Manor Hotel Amsterdam

Wie angekündigt wird dies vor allem ein atmosphärischer Bericht - da ich für ein vor allem deutsches Publikum schreibe ist Schwerpunkt oder Leitmotiv "Was ist in NL anders als in Deutschland, und warum?". Ich sage "anders", nicht unbedingt besser oder schlechter - wer dazu eine Meinung hat, darf sie gerne im Kommentarbereich erwähnen, auch wenn das schon mehrfach diskutiert wurde. Um die wesentlichen Unterschiede eingangs zu nennen: Die NL-Meisterschaft ist traditionell ein Rundenturnier, oft (nahezu) in Bestbesetzung. Die deutsche Meisterschaft ist ein Turnier nach Schweizer System, mit Vertretern aller Landesverbände aber tendenziell (fast) ohne die besten deutschen Spieler. Die NL-Meisterschaft wird meistens in einer Grosstadt ausgetragen, die deutsche Meisterschaft meistens irgendwo in der Provinz (Ausnahmen bestätigten die Regel).

Nun chronologisch aus meiner Sicht - mit Schwerpunkt Freitag vor Ort, aber ich hatte mich vorher etwas vorbereitet. Natürlich wirft man einen Blick auf die Turnierseite - recht ausführlich einschliesslich Hinweise zum Rahmenprogramm, naturgemäss auf Niederländisch aber das ist für mich (und wohl die meisten potentiellen Leser) kein Problem. Da wurde auch ein Presseraum erwähnt sowie eine Kontakt-email. Die habe ich angeschrieben mit der Bitte um Zugang zum Presseraum, prompte Antwort: "Dag Thomas, Presse- und VIP-Raum sind zusammen im Tuinzaal. Ich freue mich, Dich dort Freitag zu treffen. Grüsse Paul." Wer ist Paul? Da muss sich der Leser noch etwas gedulden. Donnerstag hat Peter Doggers auf chess.com zur NL-Meisterschaft was geschrieben, auf Englisch - er konnte (im Gegensatz zu mir) wohl mit dem Fahrrad anreisen und hatte (im Gegensatz zu mir) eine Kamera dabei. Auch er erwähnt das Rahmenprogramm und schrieb ergänzend im Kommentarbereich (etwas frei übersetzt) "Das ist 'nice' - vor 2014 war es für mehrere Jahre ein sehr 'einfaches' Turnier." Zum rein schachlichen Geschehen steht, wieder auf Niederländisch, jede Menge (mehr als auf der Turnierseite) auf schaaksite.nl . Ich werde nur die fünfte Runde etwas streifen.

Freitag verlief zunächst so: Anreise per Zug nach Amsterdam Hauptbahnhof, dann weiter zum Bahnhof Amsterdam-Muiderpoort, dann 300m zu Fuss. Auf der Hotelterrasse lief der "alternative NK" bereits, aber ich bin nicht schlecht genug um da mitspielen zu dürfen - es war ein Schnellturnier für Spieler ohne nationale Elo oder mit Elo <1500. Ausserdem hätte ich früh aufstehen müssen, um rechtzeitig vor Ort zu sein, und wäre ich altersmässig eher ein Fremdkörper: die meisten Teilnehmer waren (geschätzt) unter 14 oder über 60. Drinnen im Hotel checkte gerade Gert Ligterink mit Frau ein, als nächstes suchte und fand ich den Tuinzaal. Das ist ein eher kleiner Raum: VIPs waren die Leute, die mit dem Turnier zu tun haben (Organisation, Kommentatoren, später auch die Spieler), Presse an diesem Tag ausser mir offenbar Fehlanzeige - mal abgesehen davon, dass Kommentator (zusammen mit Robert Ris) Gert Ligterink für die Zeitung 'De Volkskrant' schreibt und bereits zwei Artikel im Sportteil unterbringen konnte.

Die anderen und öffentlichen Schauplätze sind, neben der bereits erwähnten Terrasse, der Spielsaal im ersten Stock sowie das Hotelrestaurant für Livekommentar und kulturelles Rahmenprogramm. Was da im Laufe der Woche alles geboten wurde und noch wird, siehe dieses Poster:

PosterFestivalSchakenEnCultuur

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alles auf Niederländisch, aber Theater, Dichter, Film, Quiz usw. sollte auch der deutsche Leser verstehen. Als nächstes ging ich in den Spielsaal: ca. zehn Minuten vor Rundenbeginn lief da noch, wie überall im Hotel, Musik - die Robin Van Kampen wohl nicht zusagte, denn er hatte sein eigenes Programm per Kopfhörer. Auch andere sassen konzentriert am Brett und investierten vielleicht (bei noch nicht laufender Uhr) viel Bedenkzeit für "1.e4 oder 1.d4 ?". Nur Tea Lanchava und Bianca de Jong-Muhren unterhielten sich angeregt. Dann wurde die Musik abgestellt, es ging der Gong zum Start der Runde (von Mieke Ligterink) und es ging los. Vor recht zahlreichem und zum Teil sehr jungem Publikum - der alternative NK wurde vorübergehend unterbrochen. Einige spielten die Eröffnungsphase flott, das war nicht so in der Spitzenpartie im Damenturnier Haast-Peng: 1.e4 e6 2.b3!? c5 3.Lb2 b6 - Pause, nach 20 Minuten 4.Sf3. In dieser Partie sollte noch einiges passieren .... wie auch in anderen Partien.

30 Minuten nach Rundenanfang begann der Livekommentar, der sich neben der bereits erwähnten Partie der Damen den Schlüsselpartien der Herren widmete, also Ernst-Giri und Van Wely-Tiviakov. Giri tat sich mit Schwarz gegen den soliden Sipke Ernst zunächst schwer. Thema im Livekommentar war auch Giris bevorstehende Hochzeit und eventuelle Konsequenzen für seine schachlichen Ergebnisse - irgendein GM hatte nämlich mal gesagt, dass das angenommene Damengambit keine gute Eröffnung ist. Nach 1.d4 d5 2.c4 spielte Giri dann aber nicht 2.-dxc4 sondern 2.-e6, später entstand ein ruhiger Halbslawe. Van Wely-Tiviakov war ein Dameninder á la Tiviakov - 7.-Sa6 sieht krumm aus, aber so spielt er oft und wohl gerne. King Loek stand optisch sehr gut; die Karriere des schwarzen Damenspringers ging weiter mit 9.-Sb4, 11.-Sa6, 13.-Sb8 und 14.-Sd7. Andererseits: Tiviakov hatte sich auf den letzten drei Reihen aufgebaut und hatte keine Schwächen. Später gewann van Wely die Dame gegen Turm und Läufer und bot dann Remis, was Tivi akzeptierte: die schwarze Festung hat keine Schwächen, also kann man sie nicht knacken. "Vorteil van Wely" im Titelduell gegen Giri war also trügerisch, auch angesichts des abrupten Endes von Ernst-Giri, aber ich greife den Ereignissen voraus!

Zwischendurch wurde der Livekommentar für das kulturelle Rahmenprogramm unterbrochen, heute war das Thema Fotografie: Zwei Studenten der Königlichen Kunstakademie Den Haag hatten acht Teilnehmer(innen) porträtiert, und berichteten über ihre Erfahrungen und wie sie dabei vorgingen. Fabian hat Schwerpunkt "Dokumentation" (späteres Arbeitsfeld Journalismus?), Liv Schwerpunkt "Fiktion" bzw. Kunst (späteres Arbeitsfeld z.B. Modefotografie?).

Dann wieder Livekommentar, und etwas danach ging ich zurück in den Tuinzaal, wo Pressechef Tom Bottema gerade zu seinem Monitor "was ist das denn?" (oder so ähnlich) sagte. Ich wusste bereits Bescheid, das war die Schlusstellung von Ernst-Giri:

Ernst Giri

 

 

 

 

 

 

 

Zuletzt geschah 29.-Lxh2+ 30.Kxh2 Dh5+ 31.Kg3?? g5 0-1. Nach 31.Kg1 hat Weiss, sagen jedenfalls Computer, volle Kompensation für den Minusbauer - nach 31.Kg3 hatte Schwarz mehr als Dauerschach.

Giri und ein relativ gut gelaunter Ernst erschienen zur Analyse. Danach wurden beide "entführt" - Sipke Ernst von einem Erwachsenen mit dem einen Wort "Biertje?", Giri von einem ca. 14-jährigen mit den Worten "Du musst beim Livekommentar vorbeischauen!". Gesagt, getan, ich hinterher. Giri begann seine Analyse mit "Die Partie hatte nur eine schöne Stellung, die Schlusstellung". Später sagte er "auch in einer ausgeglichenen Stellung kann der Gegner noch eine Ungenauigkeit begehen, dann noch eine, dann ein Fehler, dann ein Patzer - und schon hat man gewonnen." Thema war auch, was für Giri wichtiger ist - Turniersieg oder seine Elozahl verteidigen. Antwort war tendenziell "sowohl als auch": "Ich brauche 5,5/7 um meine Elo zu halten - wenn dann einer 6/7 erzielt, meinetwegen, dann ist er verdienter NL-Meister."

Danach schnappte ich mir Giri und stellte meine Standardfrage: "Ich schreibe für eine deutsche Schachseite. Warum gibt es in den Niederlanden - im Gegensatz zu Deutschland - eine Meisterschaft in Bestbesetzung?". Giri redete Klartext: "Die Konditionen stimmen! Die Deutschen sind ja untereinander zerstritten. Aber wenn das Finanzielle stimmt, machen alle mit - auch Naiditsch". Für Schachprofis zählt vor allem Geld, wer will es ihnen verdenken? Anderes mag auch eine Rolle spielen - attraktives Ambiente, alle machen mit also machen alle mit, die niederländische Schachfamilie ist (wie später offensichtlich wurde) nicht zerstritten, usw. . Zu meiner dummen Frage "ist Elo an sich wichtig, oder geht es auch um die Qualifikation für das Kandidatenturnier?" war die Antwort wiederum "sowohl als auch". Dann sagte Giri noch "die NL-Meisterschaft war ein bisschen gefährdet, aber dank Paul Rump ist sie quicklebendig."

Damit ist Pauls Nachname genannt, den muss ich wohl auch befragen - bzw. das war ohnehin geplant. Paul Rump ist Turnierdirektor, ihn sprach ich etwas abseits vom Trubel draussen auf der Terrasse. Zur Standardfrage sagte er unter anderem: "Die Tradition der NL-Meisterschaft _als Rundenturnier_ muss bleiben. Das ist gut für den Schachsport, damit gut für die Spieler, das wissen die Spieler, also machen alle mit." Ausgewählt wurden die Teilnehmer so: die drei Besten der letzten Meisterschaft, die drei (nächst)besten nach Elo, der beste Niederländer der offenen NL-Meisterschaft [das war Roeland Pruijssers, nach Elo recht klarer Aussenseiter im Turnier], und dann gab es noch ein Qualifikationsturnier. Da wurden Nummer 8-11 nach Elo eingeladen (Bok, Reinderman, Spoelman, Nijboer), alle akzeptierten, Bok gewann. Spezialfälle: Sokolov hat die Einladung abgelehnt [er hat als Trainer in den Vereinigten Arabischen Emiraten derzeit Urlaub, wollte den aber lieber mit seiner Familie verbringen], Smeets galt als inaktiv [er bekam eine Einladung zum Quali-Turnier und lehnte ab], Timman bekam eine Wildcard angeboten und lehnte ab. Zur deutschen Meisterschaft nach Schweizer System hat Rump eine klare Meinung: "für eine nationale Meisterschaft kein gutes System. Da kann ja einer mit 0,5/2 beginnen und am Ende mit 7,5/9 Meister werden fast ohne starke Gegner."

Zu Sponsoren - warum werden auf der Webseite gar keine erwähnt? Das ist zum einen das Hotel (Saalmiete und Übernachtungskosten Null), zum anderen der niederländische Schachbund - "die nationale Meisterschaft ist wichtig und wird entsprechend gefördert". Was das Hotel davon hat: Mir war es zuvor kein Begriff - ob ich oder andere Besucher nun deswegen mal dort übernachten, steht auf einem anderen Blatt, man kann es zumindest nicht ausschliessen. Rump ist sehr zufrieden mit Turnier und Zuschauerresonanz, Freitag waren wohl ca. 100 Zuschauer vor Ort - trotz herrlichem Sommerwetter in Amsterdam. Zu seiner Person ("Dein Name war mir gar kein Begriff!?"): "Das hier mache ich seit letztem Jahr. Schon 1983 war ich Brettjunge bei Turnieren, in den 90er Jahren machte ich Pressearbeit für die OHRA-Turniere. Dann habe ich kürzer getreten. Aber ich kenne diverse Leute in der Schachszene, z.B. ist Jeroen van den Berg (Turnierdirektor in Wijk aan Zee) Mitglied meines Vereins."

Dann zurück in den Tuinzaal, wo inzwischen munter analysiert wurde, und nahezu alle machten mit. Besonders ausführlich wurde etwa ab dieser Stellung in Bok-Pruijssers analysiert - mit dabei jedenfalls van Wely, Giri und l'Ami (nicht Sipke Ernst, der war vielleicht inzwischen betrunken).

Bok Pruijssers

 

 

 

 

 

 

 

Wie ist das als Damenendspiel zu bewerten? Klare Tendenz "Weiss gewinnt". Wie als Turmendspiel? "Kommt drauf an" - auf kleine Details. Giri war mitunter inaktiv, blieb aber in der Nähe und wurde mehrfach gerufen: "Anish, was meinst Du dazu?". Nur das Bauernendspiel haben sie, warum auch immer, nicht analysiert. Andererseits widmeten sie sich auch dem Endspiel Paulet(2197) - Ratsma(2088) aus dem Damenturnier.

Einerseits war das (womöglich) auch für mich lehrreich, zumindest wenn ich mir das merken kann/könnte. Andererseits wollte ich zwar Spieler befragen, aber nicht unterbrechen. Irgendwann waren sie fertig, und ich konnte Benjamin Bok zu einem anderen Turnier befragen: "Kannst Du Dich noch an Lc8 beim Limburg-Open erinnern?" Breites Lächeln und "Ja, natürlich!". "Wie/warum hast Du das gefunden?". Die Antwort war lakonisch: "Entweder man sieht es, oder man sieht es nicht". Er hatte es offenbar nicht auf Anhieb gesehen, aber nach ein oder zwei Minuten. Auch ein gerade auf chess24 erschienener Artikel "Vallejo: Players rated 2600-2720 are in limbo" wurde vor Ort diskutiert - Bok dazu: "mich meint er ja nicht". Neben Pruijssers ist er der einzige mit Elo unter 2600, dagegen hat ja ein Spieler Elo über 2720.

Auch Erwin l'Ami bekam noch meine Standardfrage und meinte dazu: "Das haben wir Paul Rump zu verdanken. Da ist er, ihn solltest Du auch noch sprechen!". Hab' ich doch schon gemacht, Erwin - konnte er nicht wissen. Van Wely habe ich nicht mehr erwischt, aber zwei Aussagen von voll etablierten GMs reichen wohl auch.

Ich will noch kurz nachreichen, was in der Partie Haast-Peng alles passierte. Haast stand später schlecht, opferte etwas aus der Not geboren einen Bauern und rettete sich in ein schlechteres aber wohl haltbares Endspiel. Da opferte sie plötzlich inkorrekt eine Qualität und stand verloren, gewann aber letztendlich im Damenendspiel. So wird es nichts mit einem weiteren Titel für Rekordmeisterin Zhaoqin Peng, nun hat Anne Haast die besten Karten (für Titel Nummer 2, aber sie ist noch jung). Einziger Wermutstropfen für mich: Auf dem Weg zurück zum Hauptbahnhof, nun per Strassenbahn, kam ich vorbei an allerlei vollen Strassencafes - aber ich musste mich beeilen um die letzte Fähre nach Texel nicht zu verpassen, daher für mich kein Biertje.

 

 

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