Sebastiens verpasste Chance(n)

Weiss am Zug, was tun? Weiss am Zug, was tun?

Auch bei der derzeit noch laufenden französischen Mannschaftsmeisterschaft wurden viele interessante Partien gespielt, aber eine hat mich besonders fasziniert und bietet mehr als genug Stoff für einen Artikel. Bevor ich die Spieler vorstelle und die gesamte Partie bespreche, heute eine doppelte Aufgabe zum Titeldiagramm: 1) Was ist der bei weitem beste Zug für Weiss? 2) Warum nicht das - in der Partie gespielte - 33.Lxe5 Lxe5 34.Txf7 ? Kleiner Hinweis: Wer 2) findet, kann eventuell auch 1) leichter finden.

Beteiligt sind Sebastien und Ivan. Sebastien ist vermutlich auch in Frankreich nicht allzu bekannt - Nachname ist nicht Feller (der wieder mitspielen darf) sondern Tranchant. Er hat Elo 2275 und spielt in Frankreich offenbar vor allem Mannschaftskämpfe, ab und zu auch ein Open. Ausserhalb Frankreichs hat er offenbar noch nie gespielt [für derlei Dinge verwende ich BigDatabase, nicht um mich auf eigene Gegner vorzubereiten]. Ivan ist in mindestens drei Ländern recht bekannt, aber wohl auch in einigen anderen wie z.B. Deutschland. Gemeint sind seine alte Heimat Bosnien, seine Wahlheimat Niederlande sowie die Vereinigten Arabischen Emirate wo er inzwischen als Trainer tätig ist. Nachname ist Sokolov, Elo ist momentan 2623 - war mal knapp über 2700, ist auch nach diesem Turnier (oder jedenfalls im Moment virtuell) mehr da er mit insgesamt 7/9 durchaus erfolgreich spielte. Aber in dieser Partie ist kein Klassenunterschied erkennbar, sonst hätte ich sie nicht ausgewählt. Legen wir los - die Gefahr, dass ich mich später im Chaos der Computervarianten verzettele ist reell, das nehme ich in Kauf. Wer sich zunächst nur die Diagramme anschauen will: maple-braun wie üblich sind Stellungen die tatsächlich auf dem Brett standen, metallisch grau sind Varianten die hinter den Kulissen blieben. Nicht dass letztere nicht interessant sind, aber irgendwie will ich das optisch voneinander trennen. Etwas übersichtlicher und mit, der Reihe nach, allen Diagrammen, gibt es das auch hier. Und auf der Startseite unter dem 'Teaser' zum Artikel gibt es auch die pgn-Datei (keine Ahnung, warum sie da als pgn.txt steht - ich mache das zum ersten Mal ...).

Tranchant (2275) - GM Sokolov (2623)

1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4 4.e3 Tranchant spielt nicht im Stile seines Namens (Tranchant bedeutet "scharf", bzw. a double tranchant ist zweischneidig). Mit Schwarz spielt er Benoni, mit Weiss wird heute der Gegner für die nötige Schärfe sorgen. 4.- 0-0 5.Sge2 Te8 6.a3 Lf8 7.Sg3 d5 8.Le2 g6 9.0-0 h5

Tranchant Sokolov move 9

 

 

 

 

 

 

 

Schon haben wir das erste Diagramm. Der Grossmeister geht offenbar nicht davon aus, dass sein Gegner irgendwann freiwillig eine Figur oder auch nur einen Bauern einstellen wird, sondern wird aktiv. Wann genau er den Bogen überspannen wird, ist mir etwas unklar. 10.f3 c5 11.dxc5 h4 12.Sh1 ein hässliches Feld für den Springer, aber nur vorübergehend 12.- Lxc5 13.b4 Ld6 14.Lb2 Sc6 15.Sf2 siehe Kommentar zum 12. Zug 15.- Lf8 warum nicht bereits im 12. Zug? Aber der (potentielle) Verlustzug ist es sicher nicht. 16.Te1 Lg7 17.Db3 d4 18.Tad1 e5 19.Sb5

Tranchant Sokolov move 19

 

 

 

 

 

 

 

Warum nun nicht 19.-a6 um den Springer zu vertreiben? Das war wohl aus schwarzer Sicht am besten, allerdings muss Weiss dann nicht reumütig 20.Sc3 spielen sondern hat 20.exd4 axb5 21.dxe5 Sd7 22.cxb5  (22.f4!? Dc7 23.cxb5 Sd8 24.Tc1 mit viel Kompensation für die Figur geht auch) 22.-Scxe5 (22.-Scb8 oder 22.-Sa7, jeweils 23.Lc4 überlebt Schwarz nicht - Material hin oder her)23.f4 mit Rückgewinn der Figur und einem einigermassen gesunden Mehrbauern für Weiss.

In der Partie kam 19.-Sh5?! 20.c5! Ab hier steht Schwarz schlecht, solange der Gegner richtig fortsetzt. 20.-Tf8 21.Lc4 h3?! konsequent aber nicht gut 22.g4 Dh4

 

 

 

 

 

 

 

Nun hat Weiss ein (Luxus-)Problem: Soll ich oder soll ich nicht? Er spielte 23.gxh5? - es gab Besseres, nämlich A) 23.Sd6 (hat er doch mit 20.c5 vorbereitet) mit totaler Dominanz, z.B. 23.-dxe3 24.Txe3 und ich breche hier ab, oder auch B) 23.exd4 exd4 24.gxh5 (erst jetzt - der Unterschied wird gleich deutlich:) 24.-Dg5+ 25.Sg4 Lxg4 26.fxg4 Dxg4+ 27.Dg3 Dxh5 Schwarz hat hier nicht genug für die Figur). Des Pudels Kern ist, dass Weiss die dritte Reihe geöffnet hat und damit den schwarzen Königsangriff abfedern kann. Warum hat Schwarz eigentlich (jedenfalls ein bisschen) Königsangriff, obwohl sein Damenflügel noch schläft? Der Läufer kann oft sofort mit Schach eingreifen, und die Türme sind in dieser Stellung ohnehin kaum einsatzfähig.

23.-Dg5+ 24.Kf1 muss jetzt sein 24.-e4!

Tranchant Sokolov move 24

 

 

 

 

 

 

 

Und nun? Mut (plus Intuition und/oder genaue Berechnung war angesagt), nämlich 25.Ke2 und nun A) 25.-exf3+ 26.Kd2 Dxh5 27.Kc1 Dh4 28.Td2

Tranchant Sokolov variante 25Ke2

 

 

 

 

 

 

 

Alles ist gedeckt, und der "lang rochierte" weisse König steht ziemlich sicher. Oder (statt 26.-Dxh5) 26.-Dg2 27.Tf1 dxe3+ 28.Dxe3 Lxb2 29.hxg6 Lf5 30.gxf7+ Kh7

Tranchant Sokolov variante 25Ke2II

 

 

 

 

 

 

 

Bevor Schwarz mit -Tad8+ aktiv wird (was man ohnehin mit Sd6 abfedern kann) ist Weiss dran: 31.Ld3 Lxd3 32.Dxd3+ usw. B) Sofort 25.-Dg2 27.Tf1 dxe3+ 28.Dxe3 Lxb2 29.hxg6 ähnlich wie in der gerade erwähnten Variante.

In der Partie geschah 25.hxg6? exf3? - Pflicht war 25.-Dg2+ 26.Ke2 d3+

Tranchant Sokolov variante 25 Dg2I

 

 

 

 

 

 

 

Nun gibt es einen Verlustzug (27.Dxd3??) und drei Alternativen, die Engines alle mit 0.00 bewerten:

A) 27.Kd2 Dxf2+ 28.Kc1 d2+ 29.Txd2 Dxe1+ 30.Kc2

Tranchant Sokolov variante 25 Dg2II

 

 

 

 

 

 

 

Warum das trotz schwarzem Mehrturm total ausgeglichen ist - weiter habe ich nicht rechnen lassen ..... .

B) 27.Lxd3 exf3+ 28.Kd2 Dxf2+ 29.Kc1 Dxb2+ 20.Dxb2 Lxb2+ 31.Kxb2 fxg6 - Quasi-Endspiel mit ausgeglichenem Material, hier setze ich mal kein Diagramm.

C) 27. Txd3 exd3+ 28.Dxd3 Lxb2 29.gxf7+ Kg7 30.Db1 Le5 31.Tg1 Lxh2 32.Txg2+ hxg2 

Tranchant Sokolov variante 25 Dg2A

 

 

 

 

 

 

 

Und auch das ist ausgeglichen, wobei die Varianten noch weiter gehen ... .

Zurück zur Partie: (25.-exf3?) 26.gxf7+ Kh8 27.Te2? Vielleicht empfindet der Leser diverse Fragezeichen als übertrieben, aber sie entsprechen nun einmal der objektiven Wahrheit. Pflicht war für Weiss 27.Sg4! Lxg4 28.Td2- so ähnlich hatten wir das schon einmal, nur dass Weiss hier die zweite Reihe räumt und sich auf dieser verteidigt. 27.-Dg2+?

Findet ein Mensch den Computerzug 27.-Txf7! ? Idee ist, den Lc4 abzulenken (und nebenbei einen weissen Gegentrumpf zu beseitigen sowie die f-Linie zu öffnen). Zum Beispiel A) 28.Lxf7 Dg2+ 29.Ke1 fxe2 30.Lc4 (30.Lf7xe2 ist illegal!) 30.-Df1+ (noch besser ist offenbar 30.-Le6 mit erneuter Ablenkung) usw., oder hier 30.Kxe2 Lg4+ (hatte ich erwähnt, dass der Lc8 nur auf diese Chance wartete?) 31.Kd2 Dxf2+ 32.Kc1 Lxd1 33.Dxd1 Dxf7 und hier hat Schwarz schlicht und ergreifend einen Turm mehr.

Oder B) 28.Sd6 fxe2+ 29.Kxe2 Lg4+ (siehe oben) 30.Sxg4 Dxg4+ 31.Kd2 Tf2+ 32.Kc1 Taf8 Schwarz hat das Kommando übernommen.

In der Partie kam, wie gesagt, 27.-Dg2+? 28.Ke1 fxe2 29.Lxe2 und das ist, nach all den Aufregungen, ausgeglichen - aber Sokolov entkorkte 29.-Se5? und nun wurde die Stellung plötzlich turmfreundlich, einen hat Weiss ja noch: 30.Txd4 (einen halben Zug zuvor noch nicht spielbar) 30.-Txf7 Schwarz hat auch einen mitspielenden Turm, aber nur vorübergehend: 31.Th4+! Kg8 32.Tf4 Dg6 und wir haben das Titeldiagramm, hier nochmals:

Tranchant Sokolov move 32

 

 

 

 

 

 

 

Was tun? Richtig ist 33.Sc7!- warum sehen wir gleich im Lichte der falschen Partiefortsetzung. Und, um nur eine Variante zu nennen, nach 33.-Lf5 nicht materialistisch 34.Sxa8 (34.-Le6 35.Dd1 Td7 36.Ld4 Lh6 usw. - die verbleibenden schwarzen Figuren sind koordiniert, die weissen nicht), sondern 34.e4 Dg1+ 35.Lf1 Tc8 36.exf5 Tcxc7 37.f6 Sg6 38.Sxh3 Dxh2 39.Tg4 Weiss gewinnt.

Sebastien spielte das durchaus verlockende 33.Lxe5? Lxe5 34.Txf7 und rechnete vielleicht damit, dass der Gegner aufgibt:

Tranchant Sokolov move 34

 

 

 

 

 

 

 

Dummerweise - aus weisser Sicht - muss Schwarz nicht 34.-Dxf7? 35.Lc4 spielen, sondern hat den Zwischenzug 34.-Le6! . Ab hier war die Stellung durchweg ausgeglichen, der Rest und auch alles bereits Erwähnte daher nur hier zum Durchklicken. Ich habe auch einen pgn-file zum runterladen - wer will, kann die gesamte Partie mit oder vielleicht gar ohne Computer noch weiter analysieren.

Das Ganze war ein für mich neues Experiment - ob ich ähnliches noch einmal machen werde und dann womöglich anders aufbaue/strukturiere, weiss ich noch nicht. Um nochmals auf Schmidts Kommentar zum letzten Artikel einzugehen: War es unterhaltsam? Für mich ist es eine sehr unterhaltsame Partie - wenn das nicht unterhaltsam ist, was ist unterhaltsam?? Ist es auch lehrreich?

Da hole ich etwas aus: Letzte Saison hatte ich vereinsintern den Auftrag, die gemeinsame Analyse des letzten Mannschaftskampfs vorzubereiten. Das hiess acht Partien in Chessbase eingeben und Computer dazu befragen - nur so kann man, kann jedenfalls ich bei beschränkter Zeit untersuchen, was in den Partien los war und welche Momente kritisch waren. Das fiel grob in drei Kategorien: 1) Computer waren mit dem Gebotenen weitgehend einverstanden - das gibt es gelegentlich auch bei Spielern mit Elo unter 2000. 2) Verbesserungen fallen in die Kategorie "das hätte man selber sehen können" und "ähnliche Ideen oder Motive kann man bei anderer Gelegenheit vielleicht selbst anwenden". 3) Computer-Vorschläge sind "absurd" oder "unmenschlich", Ideen/Motive sind so speziell dass man sie kaum recyclen kann.

Für mich und die Zielgruppe Elo unter 2000 (zu der ich inzwischen selbst gehöre) bot Tranchant-Sokolov jede Menge drei und eventuell ein bisschen zwei bis zweieinhalb. Darunter fällt am ehesten der 23. und 33. Zug von Weiss, nach dem Motto "keine Eile mit (vermeintlichem) Materialgewinn" sowie zwei Klischees mit wahrem Kern: 1) Wenn Du einen (vermeintlich) guten Zug siehst, suche nach einem besseren; 2) "Die Drohung ist stärker als die Ausführung". Keine Regel ohne Ausnahme: Bei Bok-Commercon im letzten Beitrag musste Weiss seine Chance sofort nutzen, ansonsten war sie dahin. Schach ist schwierig, Schach ist faszinierend.


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