The modern Tiger - Tiger Hillarp Persson

The modern Tiger The modern Tiger Schach Niggemann

Was gibt es über Tiger Hillarp Persson zu sagen? Zunächst einmal: Ja, er heißt wirklich Tiger. Der aktuell zweitstärkste Schwede spielt seit Jahren konstant zwischen 2500 und 2600 Elo und ist der vermutlich bekannteste Spieler, der regelmäßig die moderne Verteidigung spielt. Ein Hinweis noch: Tiger ist seit einiger Zeit mein Trainer. Obwohl ich mir auf meine Objektivität etwas einbilde, bin ich mir nicht sicher, ob ich hier wirklich objektiv bleiben kann. Ich versuche es.

Tiger´s Modern aus dem Jahr 2005, Tiger´s Erstlingswerk zur modernen Verteidigung, wurde ein Klassiker der Eröffnungslehre. Er beschäftigte sich, wie der Name schon sagt, mit der modernen Verteidigung (aus schwarzer Sicht). Dass seine Eröffnung lebt, kann leicht dadurch bewiesen werden, dass sie mindestens gelegentlich auch von anderen GMs erfolgreich gespielt wird, z. B. von Caruana. Knapp 10 Jahre später packt der Autor sozusagen Version 2.0 seines Buches aus. Dabei schaut er besonders auf seine Hausvariante 1. e4 g6 2. d4 Lg7 3. Sc3 d6 4. … a6!? Damals noch exzentrisch, heute akzeptiert.

Zum Buch:

Zu Beginn erläutert Tiger, wie sich seine eigene Einstellung zur modernen Verteidigung über die Jahre verändert hat - von der „besten Eröffnung überhaupt“ zu einer immer noch sehr interessanten Eröffnung, die aber nicht jedermann zu empfehlen ist. Wenn man die Spielweise und Stärken des Tigers kennt, erklärt sich seine Vorliebe für die moderne Verteidung. Er hat eine starke Neigung, hochkomplexe positionelle Stellungen spielen zu wollen, um den Gegner von Beginn des Spiels an unter Druck zu setzen, weil er ein ausgezeichnetes Gefühl für komplexe Stellungen hat und kreativ ist. Eine Eröffnung, in der Verständnis mehr zählt als Auswendiglernen, weil man hochgradig flexibel auf die Aufstellung des Weißen reagieren kann und oft auch muss, um nicht unter die Räder zu kommen. Im Gegenzug bekommt man oft sehr komplexe (auf neudeutsch: „abgefahrene“) Stellungen, in denen nicht nur schwächere Schachspieler den Überblick sehr schnell verlieren, dafür aber die Partie so schnell nicht mehr vergessen. Da kommt dann der Vorsprung durch Erfahrung als Schwarzspieler zum Tragen.

Diese Eröffnung ist folglich das Richtige für kreative Spieler mit überdurchschnittlichem positionellen Verständnis, die komplexe Stellungen spielen wollen. Mein früherer Trainer hat mal gesagt, dass die moderne Verteidigung für Anfänger und nicht starke Spieler eher eine schlechte Wahl ist. Dem kann ich nur zustimmen.

Zur Sprache: Der Autor geht feinsinnig mit der Sprache um, subtiler Humor und klare Aussagen machen das Lesen der Anmerkungen sehr unterhaltsam. Wer englisch nicht so gut versteht, kommt vielleicht mit dem Humor nicht immer mit, immer aber mit den schachlichen Aussagen.

Ich selbst hatte inhaltlich etwas anderes erwartet als das, was das Buch nun geworden ist. Ich rechnete mit einem Lehrbuch, um die Massen von dieser Eröffnung zu begeistern und weil Tiger lehren kann. Nun halte ich stattdessen ein ausgewachsenes Nachschlagewerk in Händen. Über 520 Seiten voller Varianten, Analysen und fundierten Bewertungen auf hohem Niveau.

Tiger hat jede einzelne Variante intensiv durchleuchtet und noch einmal bewertet, insbesondere hat er sein Erstlingswerk nicht geschont. Man bekommt auch ohne Beschönigung die Bewertung eines anerkannten Spezialisten der Eröffnung über die einzelnen Varianten und kritischen Abspiele. Von wegen Erstlingswerk: Der Name "The modern Tiger" ist natürlich eine platte Anspielung auf "Tiger´s Modern" - die Idee kam vom Verlag, Tiger hat allerdings leicht beschämt zugegeben, sich nicht energisch genug gegen diesen Titel gewehrt zu haben...

Neben einer groben Variantenübersicht zu Beginn der Kapitel stellt Tiger auch mehrfach die typischen Pläne von Weiß dar und in welchen der folgenden Partien dieser Plan behandelt wird. Das bringt Überblick und gibt ein besseres Gefühl für die Strukturen.

Um ein Gefühl für die richtige Platzierung der Figuren und Bauern zu bekommen, muss man die Anmerkungen, auch in den Partien, sorgfältig lesen, weil sie leider nicht wie in einem guten Lehrbuch systematisch sortiert sind, sondern sich mal hier, mal dort „verstecken“. Überfliegen reicht da nicht. Und erstaunlicherweise sollte man wirklich vorne mit dem Durcharbeiten anfangen. Warum erstaunlicherweise, wo man Bücher doch meistens von vorne nach hinten liest? Bei den meisten Schachbüchern macht es keinen nennenswerten Unterschied, wenn man sich die Kapitel einzeln vornimmt, je nachdem, was man gerade gespielt hat oder spielen will. In diesem Buch lesen sich die Kapitel von vorne nach hinten irgendwie sehr logisch und man nimmt die mitgegebenen Faustregeln besser im Gedächtnis auf, um in den Folgekapiteln davon zu profitieren. Also doch eher Lehrbuch? Vom Aufbau her wahrscheinlich schon, vom Inhalt her überwiegend nicht. Von einem Lehrbuch erwarte ich mehr Erläuterungen, wo es lang geht und worauf es ankommt. Die vorhandenen Erläuterungen sind sehr nützlich, aber eben nicht so ausführlich, dass ein Anfänger oder mittelmäßiger Spieler (jeder definiere diese Bewertung nach eigenem Geschmack) ein echtes Gefühl entwickeln kann, wo die Figuren hingehören. Dafür findet man ungefähr jede halbwegs brauchbare Variante in diesem Buch und eine entsprechende Bewertung.

Was mir an den meisten Eröffnungsbüchern nicht gefällt, ist die Besprechung ganzer Partien, so auch hier. Ganze Partien blähen das Buch auf und haben üblicherweise einen überschaubaren Lehreffekt. Immerhin werden die eröffnungstheoretisch nicht mehr relevanten Passagen kürzer besprochen. An manchen Stellen weist Tiger aber auch aktiv darauf hin, wenn es sich um typische Endspielstrukturen handelt. Immerhin.

Ein weiterer Kritikpunkt ist für mich, dass mitunter Partien verwendet wurden, in denen schon früh schlechte Züge gespielt wurden. Dadurch ist eröffnungstheoretisch der Rest der Partie unwichtig geworden, was für ein Eröffnungsbuch ja gerade nicht optimal ist... Andererseits sind nicht so viele Partien gespielt worden, die theoretisch bis zum 20. Zug fehlerfrei waren. Und es soll niemand auf die Idee kommen, dass diese Eröffnung nur von mittelmäßigen Spielern gespielt würde. Neben dem am Anfang erwähnten Caruana stehen unter anderem Weltklassespieler wie Tkachiev, Bologan, Benjamin, Gulko, Gurevich, Kramnik, Khalifman, Seirawan und Wojtaszek auf der Liste der Schwarzspieler. Das sagt etwas darüber aus, wie komplex die Eröffnung werden kann.

Dafür bekommt man auch allerhand Abspiele, die auf Clubniveau gespielt werden, um damit umgehen zu können.

Fazit:

Am Ende ist es eine Mischung aus Lehrbuch und Nachschlagewerk geworden. Die gesuchten Informationen sind im Buch, nur nicht so übersichtlich, wie ich es mir gewünscht hätte. Daher:

Deutlich fortgeschrittene Spieler (ab Rating von mindestens (!) 1800, passender wäre ab 2000) werden beim Durcharbeiten von den Anmerkungen bestimmt stark profitieren. Für schwächere Spieler ist es meines Erachtens zu komplex.

The Modern Tiger wird wieder ein Klassiker für Anhänger der modernen Verteidung oder solche, die es werden wollen. Als Nachschlagewerk für diese Zielgruppe unverzichtbar. Es hätte etwas übersichtlicher sein können. Als Lehrbuch ist es auch geeignet, allerdings braucht es mehr Aufwand, um die Infos zusammenzutragen.

Bereitgestellt wurde dieses Rezensionsexemplar vom freundlichen Schachversand Niggemann (schachversand.de)

Dennis Calder

Fide Instructor

Sterne4

Dennis Calder

Engagierter Schach-Spüler mit Hang zu salopper und ironischer Ausdrucksweise. Außerdem noch Fide-lizenzierter Trainer (Fide Instructor) und Buch-Rezensent.

Kommentare   

#1 Losso 2015-05-11 09:10
Eine Frage:
Was bekommt derjenige, der Tiger's Modern schon besitzt, hier geboten?
#2 easyrider 2015-05-11 11:36
Habe den Vorgänger Tigers Modern nicht. Spiele diese Verteidigung seit vielen Jahren und finde das Buch echt gelungen. Einzig die Empfehlung, auf 1.e4 g6 2.d4 Lg7 3.Sc3 d6 4. Le2 dann 4. - e6!? zu spielen ist recht speziell. Aber es schadet nicht, zum normalen Pirc oder dem Hippo etwas anderes in der Hinterhand zu haben.
#3 Dennis Calder 2015-05-13 13:23
Hallo Losso,
man bekommt eine komplette Überarbeitung und Aktualisierung von Tiger´s Modern. Da hat sich naturgemäß in der Zwischenzeit die eine oder andere Variante entscheidend weiterentwickelt.
Falls Du mit Deiner zweideutig lesbaren Frage allerdings nur Tiger´s Modern verkaufen willst, empfehle ich ebay :P

Die Teilnahme an unserer Kommentarfunktion ist nur registrierten Mitgliedern möglich.
Login und Registrierung finden Sie in der rechten Spalte.