August 2015
Reti Eröffnung – ein modernes Repertoire von Martin Breutigam
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Chessbase (chessbase.de) hat mir erneut eine DVD zur Rezension überlassen. Es sei erwähnt, dass der Vater von Martin Breutigam, Manfred Breutigam, der Grund war, weshalb ich während meiner Bremer Zeit bei der Bremer Schachgesellschaft aktiv war. Es besteht sozusagen eine Familiensympathie, ohne dass ich ihn je kennengelernt hätte. Zur Sache:

IM Martin Breutigam (sein Elo Rating liegt seit einiger Zeit bei ca. 2400) hat schon einige Werke veröffentlicht. Seine neue DVD behandelt die Reti Eröffnung (1. Sf3 d5 2. c4) aus weißer Sicht.

Nach eingehender Prüfung der 20 Videos und 15 interaktiven Testaufgaben habe ich entschieden, keine klare Bewertung abzugeben, sondern überwiegend nur zu beschreiben, was mir aufgefallen ist. Warum? Weil Schachfreund Breutigam ein paar Dinge gemacht hat, die nicht meinem persönlichen Geschmack entsprechen, aber von anderen Schachfreunden nachweislich geschätzt werden. Und unter meinem rein persönlichen Geschmack soll er nicht leiden. Daher zunächst die Auffälligkeiten in der Reihenfolge ihres Erscheinens:

Die DVD mit einer Gesamtlaufzeit von über 5,5 Stunden ist systematisch nach den naheliegenden schwarzen Antwortzügen gegliedert: Zunächst behandelt Breutigam die Damengambit-artige Antwort 2. … e6, danach die Slawisch-artige Antwort 2. … c6, um danach die außergewöhnlicheren Varianten 2. … d4 und 2. … dxc4 zu bearbeiten. Im Anschluss an die Theorievideos gibt es noch 15 sehr gut gemachte - aber schwer zu beschreibende - interaktive Testaufgaben, die näher erläutert werden. Weiterhin gibt es einen Link auf sogenannte Modellpartien, die die einzelnen Abspiele mit ihren Stärken und Schwächen beleuchten sollen. Diese Systematik gefällt mir sehr gut.

In einem Video hustet / hüstelt Schachfreund Breutigam so oft, dass ich eine Wiederholungsaufnahme mit geölter Stimme besser gefunden hätte.

Ansonsten allerdings kommt er gut in Schwung und beschreibt mit hanseatischer Ruhe (er hat seine Wurzeln bei der oben erwähnten altehrwürdigen Bremer Schachgesellschaft) und sachlich die Vorzüge und Nachteile der einzelnen relevanten Abspiele. Dabei stellt er auch immer wieder gelungen dar, warum bestimmte Varianten gerade nicht - oder nicht mehr - geeignet sind, um weißen Vorteil herauszuspielen. Er veranschaulicht seine Erläuterungen nur selten mit den graphischen Möglichkeiten, die Chessbase bietet, z. B. Pfeilen oder farblich markierten Feldern. Stattdessen zeigt er die Abspiele bis zur „Auflösung“ der jeweiligen Variante, dem Ende der kritischen Abspiele, sozusagen. Beide Darstellungsformen haben ihre Fans, so dass es meines Erachtens in diesem Punkt kein besser oder schlechter gibt.

Je weiter ich die Videos durchgesehen hatte, desto irritierter wurde ich: Breutigam bietet konsequent keine Empfehlung für Schwarz, was ich persönlich als großen Nachteil bei Eröffnungsabhandlungen ansehe. Und er landet immer wieder bei für Weiß vorteilhaften Varianten, obwohl es auch unklarere oder spannendere Abspiele geben muss, sonst würden viel mehr Super-GMs Reti mit Weiß spielen... Andererseits brauchen viele Spieler beim Lernen von Eröffnungen das Gefühl, dass eine Eröffnung rundum gut geeignet ist, um dann in der Praxis die kritischen Abspiele zu erleben und zu bearbeiten - vom Selbstbewussten zum Realistischen sozusagen. Auch hier kenne ich Anhänger beider „Philosophien“, so dass ich mich darauf beschränken möchte, auf den von Martin Breutigam gewählten Aufbau hinzuweisen.

Die ausgewählten Beispielpartien sind in jedem Fall sehr gut ausgesucht, weil ich das Gefühl bekam, dass alle halbwegs einleuchtenden Züge in der frühen Eröffnung besprochen worden sind.

Fazit:

Wer als Schwarzspieler ein geeignetes Abspiel gegen Reti sucht, sollte an anderer Stelle suchen. Für Spieler, die eine positionell geprägte Weißeröffnung suchen, ist diese DVD ein angenehmer, weil sehr übersichtlicher Einstieg, um sich in die Eröffnung einzuarbeiten.

Auf ins Münsterland!
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Einmal im Leben sollte man ja mal im Münsterland gewesen sein - hier ist es schön, die Sonne scheint von früh bis spät, und auf den Wiesen stehen Nutztiere und viel, viel, wirklich sehr viel Mais.
Schachlich bekannt ist das Münsterland vor allem durch das Aushängeschild der Region, den SK Turm Emsdetten, und ebenfalls durch die Pionierarbeit des SK Königsspringer Nordwalde. Aus diesem Club fanden in den Achtziger Jahren viele verwegene Eröffnungsideen den Weg in die Welt, erdacht und an vielen Vereinsabenden beharrlich getestet von Stefan Bücker und seinem Bruder Peter: der Geier ist ein Münsterländer,  ebenso wie das Wusel, das Habichd, und sicherlich die Nordwalder Variante im Königsgambit 1.e4, e5 2.f4, Df6! .

So wundern wir uns nicht, dass nun auch der internationale Schachgroßmeister Jörg Hickl die Region an diesem Wochenende mit seiner Anwesenheit beehrte, angereist aus dem bezaubernden Hessen in den halbhohen Norden und drei Tage zu Gast beim Schachclub Steinfurt. Am Freitag gab der deutsche Meister von 1998 vor Ort eine großmeisterliche Trainingseinheit für interessierte Zuhörer, ehe er sich am Sonnabend in einem kniffligen Uhrensimultan seiner Haut erwehren musste und gegen ein respektables Feld mit 9,0 : 1,0 obsiegte - neben Thorsten Niering war es der frühere Vorsitzende des SC Steinfurt, Rainer Janning, der dem hohen Gast einen halben Punkt entringen konnte.

Somit war alles bereitet für das große Finale am Sonntag - und aus Münster, dem münsterländischen Umland und dem rauhen Norden (Bremen! Oldenburg!) trafen sie ein, die schachhungrigen Adepten, um im nunmehr 10. Steinfurter Sparkassen-Schnellschachturnier (StSpSchSchT) ihr Glück zu versuchen. Auch ich hatte mich auf den Weg gemacht, obschon die Anwesenheit meines verehrten Blog-Chefs Jörg alle meine Hoffnungen auf den ersten Preis ja schon im Vorhinein zunichte gemacht hatte. Doch letztlich geht es beim Schach ja immer auch um das Spielen, und darum, nette Menschen zu treffen - und wenn so etwas möglich ist in dieser Welt, dann natürlich beim Schnellschach und in Steinfurt. Gerne hätte ich natürlich einmal, nur einmal im Leben eine Partie gegen GM Hickl gespielt, doch nach einem hübschen Erstrunden-Sieg führte mich ein leichter Einbruch mit nur zwei Remisen aus den nächsten vier Spielen bis hinunter an das 24.Brett und weit weg vom Schachwelt-Blogchef, der an Brett Eins und Brett Zwei zusammen mit dem verdienten Altmeister IM Podzielny und der pfiffigen Oldenburger Schachfachkraft Sebastian Müer seine Runden zog.

Das Münsterland war also nicht so nett zu mir - wenn ich nochmal wiederkommen soll, muss das besser werden, Leute! Zweimal stand ich zwar, wie man so sagt, aussichtsreich, doch heißt das nicht viel, wenn man danach noch so allerlei Material wegstellt. Aus, aus, aus - kein Turnier für mich heute, doch zur Ehrenrettung der Schachwelt-Redaktionsstube gab es ja noch Jörg Hickl, der in seinem Punktedrang allein durch IM Carsten Lingnau vorübergehend gebremst wurde, sonst aber alles hübsch gewann und am Ende mit acht von neun möglichen Punkten über die Ziellinie kam. Seit Jahren schon haucht Jörg mit a) seinen Schachreisen und b) gewagtem Eröffnungsspiel dem königlichen Spiel neue Energie ein. Bei ihm muss man oft schon im ersten Zug mit dem gewagten 1.g2-g3 rechnen, gefolgt von einer organisch zu nennenden Partienanlage, die er mit einer Art schachlichem Multitasking an beiden Flügeln des Brettes minimal expansiv betreibt - allerdings nur auf den ersten drei Reihen, maximal! Spät, sehr spät erst gelangen seine Figuren in Schlagweite mit der gegnerischen Mannschaft, und dann wird es konkret! und komplex! Im Münsterland beim heutigen StSpSchSchT war dies der richtige Ansatz, und Jörg kam am Ende souverän auf Platz eins durch einen Finalsieg gegen Podzielny.

Nur wenig dahinter der trickreiche Sebastian Müer, der seinen Stellungen auch bei knappster Zeit noch einen gelungenen taktischen Wirbel zu entlocken wusste und hellwach bis zur letzten Runde auf 7,5 Punkte kam. Platz Drei ging an Jan-Eric Chilla vom SK Münster, der IM Lingnau in der letzten Runde mit seinem Sieg noch auf die Plätze verweisen konnte. (Wie bei so vielen Turnieren gab es nur drei Hauptpreise für die besten Spieler des Tages, während die etwas undankbaren Platz vier und fünf nicht mehr mit einem Geldgewinn belohnt wurden. Alternativ konnte man allerdings zahlreiche Ratingpreisen in den Kategorien erobern.)

So also war es im Münsterland, beim Schnellschach! Gibt es noch etwas zu ergänzen? Ja, zumindest eine Frage - was machen die Leute hier eigentlich mit dem ganzen schönen Mais, der hier an jeder Ecke wächst? Kann es wirklich sein, dass der am Ende des Sommers mal so eben verbrannt oder zu Biogas gemacht wird? Kaum zu glauben, und schade um die gute Nahrung! Und da heißt es immer, wir Schachspieler wären ein wenig schräg.

Turniersaal
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13. August 2015

Buntes Treiben in Riga

Es juckt mich schon wieder in der Tastatur, denn in der vierten Runde des Riga Technical University Opens geschah jede Menge - wieder mal aus der Rubrik unterhaltsam und/oder lehrreich. Das Titelbild zeigt das noch nicht, aber später sassen dann Spieler aus aller Herren Länder auf den hier noch leeren Stühlen. Bevor ich zur Sache komme, ein kleiner Exkurs: Kollege Olaf Steffens hat vor kurzem dem deutsch-lettischen Neu-Aserbaidschaner Arkadij Naiditsch einen Artikel gewidmet. Eine Quelle kannte er da vielleicht noch nicht, ein ausführliches Naiditsch-Interview von Hartmut Metz für Schach-Magazin 64. Grund genug für mich, dieses Heft käuflich zu erwerben, aber wegen Urheberrecht undsoweiter und weil es nur peripher zum heutigen Bericht passt bringe ich nur zwei Perlen aus diesem Interview. AN: "Ich kann es zum Beispiel nicht verstehen, warum wir als grösster europäischer Schachverband keine Turniere organisieren. Lediglich dank der Privatinitiative von Wolfgang Grenke in Baden-Baden und durch die Sparkasse in Dortmund bestehen zwei Gelegenheiten pro Jahr. Die kleinsten Republiken organisieren Topwettbewerbe, nur wir nicht ... ." Mal abgesehen von dem Detail, dass (auch) der Schachbund Dortmund sponsort, welche kleinsten Republiken meint er?? Vielleicht Lettland, da tut sich seit der Rückkehr von Alexei Schirow einiges - dank Herrn Schirow, der vielleicht mitunter der Doppelrolle als Spieler und Organisator Tribut zollen musste. Dafür bekommt er von mir, nicht zum ersten Mal, ein Foto (Quelle ebenfalls Turnierseite):

Schirov2

 

 

 

 

 

 

 

 

Dann hatte Naiditsch noch kollegiales Lob für Daniel Fridman: Er arbeite nicht an seinem Schach, sondern "spielt nonstop irgendwelche kleinen Turniere". Es hat sicher seine Gründe, warum Fridman (wie übrigens auch Naiditsch) gelegentlich in Lettland spielt. Es hatte wohl auch seine Gründe, warum er mehrfach das wirklich kleine Oster-Open in Oberhausen spielte. Davon abgesehen und generell ist er nun einmal Schachprofi und im Gegensatz zu Naiditsch auch Familienvater.

Und nun Schach - mit unter anderem Daniel Fridman, aber vor allem jungen russischen IMs. Bei der Fülle an Material kann ich das durchaus interessante GM-Duell Dragun-Schirov an Brett 1 (remis) glatt ignorieren und beginne mit Brett 2:

GM Fridman - IM Chigaev nach 28 Zügen

Fridman Chigaev move 28

 

 

 

 

 

 

 

Maksim Chigaev (*1996) hatte seinen Königsinder gerade mit 27.-h4 28.g4 g5 gewürzt, was tun aus weisser Sicht? Die (Computer-)Lösung verrate ich später, nur soviel: die Partiefortsetzung 29.Sxd7 Txe1 SCHACH 30.Dxe1 Sxd7 war nicht die beste Möglichkeit. Fridman stand im weiteren Partieverlauf dennoch mitunter besser, so stand es dann nach 41.-Ld4:

Fridman Chigaev move 41

 

 

 

 

 

 

 

Schwarz verschaffte sich zwischenzeitlich einen Freibauern auf der a-Linie (noch nicht aber latent-potentiell) und steht nun nicht mehr schlechter. Weiss musste sich auf 42.Sxd4 cxd4 43.Kg1! d3 44.Df6! einlassen, und das geht (Computerurteil 0.00). Zeitkontrolle gibt es in Riga keine, bzw. nur eine für die gesamte Partie (90 Minuten plus 30 Sekunden Inkrement pro Zug). Fridman investierte hier 8 1/2 Minuten und entkorkte 42.Sh6+?!? Kh7 43.Dxf7+ Kh6 44.h4 und verlor kurzzügig, da Schwarz neben einer Mehrfigur auch (eigenen) Königsangriff hatte. Was er übersehen oder falsch gesehen hatte, da bin ich überfragt.

Auch Brett 3 stand unter dem Motto GM gegen Jung-IM:

GM Melkumyan - IM Lugovskoy nach 18.Sdf3

Melkumyan Lugovskoy

 

 

 

 

 

 

 

Abwechslung muss sein, Lugovskoys Vorname ist nicht etwa Maksim sondern Maxim. Aber man sollte es auch nicht übertreiben, auch er ist Baujahr 1996. Wie dem auch sei, der armenische GM hatte mutig bis übermütig geopfert, immerhin hat Schwarz noch nicht rochiert. Das konnte er nun tun, und wo ist dann die weisse Kompensation? Stattdessen eroberte er mit 18.-Txe5?! 19.Sxe5 Dxe5 noch mehr Material, und Weiss steuerte mit 20.Dc8+ Ld8 21.Tfd1 Ke7 (nach 21. - 0-0 nicht etwa 22.Txd8? sondern 22.Dxd8!) usw. sein schwankendes Schiff in den Remishafen.

An Brett 4 stand es zwischen den GMs Kovalev und Socko nach 63 Zügen so:

Kovalev Socko

 

 

 

 

 

 

 

Computer rufen "Weiss gewinnt!", aber wie genau?? Diese Partie endete jedenfalls später remis - wenn ein Grossmeister den Gewinnweg nicht findet, dann finde ich ihn auch nicht. Erinnerungen werden wach an das Halbfinale des letzten Weltcups, damals konnte Herr K(ramnik) eine etwa vergleichbare Stellung auch nicht gewinnen.

Brett 5 überspringe ich, an Brett 6 spielte wieder ein russischer IM gegen einen GM:

IM Usmanov - GM Bartel vor 54.-Ld8?

Usmanov Bartel

 

 

 

 

 

 

 

Auch Vasily Usmanov ist Baujahr 1996, nach 54.-Ld8? 55.Td6+ Kc7 (55.-Ke8 ist offenbar nicht besser) 56.f6 usw. gewann er den schwarzen Läufer und kurz danach die Partie - diese Version Endspiel mit Mehrfigur ist relativ einfach. Warum genau z.B. 54.-Lb6 viel besser war, darf der Leser erforschen.

Wieder überspringe ich zwei Bretter und komme zum chaotischen Höhepunkt der Runde:

IM Kozionov - GM Neiksans nach 15.-Dd8??!

Kozionov Neiksans

 

 

 

 

 

 

 

Die Dame kam von c7, kostet das nicht eine Figur?? Ja schon, wobei der lettische GM sich etwas dabei gedacht hat - und am Ende funktionierte es, auch wenn es objektiv gesehen Quatsch war. Lawrence Trent (für seine diversen Rollen inklusiv der neuesten siehe sein Twitter-account) tweetete hier: "If it's too good to be true, it normally is. White to play and win!" [Wenn es zu gut ist um wahr zu sein, dann ist dem so. Weiss am Zug gewinnt!]. Kozionov spielte 16.Sxh5 (warum auch nicht?) Dxh4 17.b4!? (halb-richtig) Lxb4 18.Sf4 (falsch!). Auch hier verrate ich die Lösung erst später. Nach 18.-Lc5 usw. war die Stellung (jedenfalls in einer praktischen Partie) "unklar", und nach 24.-Ld4 stand es so:

Kozionov Neiksans move 24

 

 

 

 

 

 

 

25.Sxe5? Lxe5 26.Dc1 Dh4 27.f4 gxf3 28.Tfxf3 Thg8 29.De1 Th5 30.Dg1 Txg3 0-1 ! Im Nachhinein war 15.-Dd8 ein zum Sieg führender grober Fehler. Kirill Kozionov ist übrigens Jahrgang 1998.

Einen habe ich noch - Brett 15 ganz unten in der Liveübertragung:

Bernotas - GM Ankit nach 26.-Txh4

Bernotas Ankit

 

 

 

 

 

 

 

Chaos pur - dabei zeigte sich, dass man seinen König besser hinter gegnerischen als hinter eigenen Bauern verstecken kann. Auch vor 27.Sd2?! exd2 SCHACH stand Weiss hoffnungslos verloren. Bernotas ist titellos, Lette und relativ alt (*1995), nur etwa ein Jahr jünger als sein indischer Gegner.

Die Lösungen: Fridman musste 29.Tee2 spielen, dann droht alles mögliche und Schwarz kann sich nicht mehr mit -Txe1+ entlasten. Wieder mal ein Motiv aus der Rubrik "entweder man sieht es, oder man sieht es nicht"? Kozionov konnte mit 17.Lxe5 dxe5 18.Dxg4 Dxg4 19.Sf6+ das schwarze Konzept widerlegen - das ging auch noch ab dem 18. Zug.

Turniersaal in Vlissingen
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Ich hatte auch andere Titel erwogen, z.B. "Fragmente aus Vlissingen" (vom Hogeschool Zeeland Open im tiefen Südwesten der Niederlande) oder "Tücken der Turmendspiele" (auch auf hohem Niveau, FM gegen GM, und selbst auf Weltklasse-Niveau). Gängige Kost in offenen Turnieren ist, dass der nominell (viel) bessere Spieler mitunter keinen Vorteil erreicht, dann ein Endspiel endlos knetet und am Ende doch noch gewinnt. So auch im heutigen Beispiel, mit unterwegs einigen Irrungen und Wirrungen. Die Mischung macht es bei offenen Turnieren - mehr oder weniger bekannte Grossmeister dürfen/müssen gegen aufstrebende Jugendliche antreten. Einige Teilnehmer dieses Opens habe ich bereits persönlich gesprochen - neben den recht bekannten Loek van Wely und Baadur Jobava auch den nicht ganz so bekannten IM Jorden Van Foreest oder auch international unbekannte Jugendliche wie Thomas Beerdsen. Jobava ist heute nicht Schwerpunkt, er wird anderswo gewürdigt - "Jobava does his thing" ist Punkt 6 auf chess24 (jedenfalls vorläufig nur auf Englisch).

Ich sollte wohl zunächst die Protagonisten vorstellen und beginne mit dem indirekt Beteiligten: Magnus Carlsen ist Weltklassespieler mit gewissen Schwächen im Endspiel - hoppla, jetzt habe ich die Carlsen-Fanpolizei aufgeweckt. Gemeint ist z.B. seine Niederlage bei der Olympiade gegen Arkadij Naiditsch, die direkte Parallele zum heutigen Bericht ist natürlich eine Jugendsünde:

Aronian Carlsen move 73

 

 

 

 

 

 

So stand es in der Partie Aronian-Carlsen, Tal Memorial 2006 nach Aronians trickreichem 73.Td6. Carlsen spielte 73.-Ta7+? und gab nach 74.Ke8 auf. Nur 73.-Kg6 hätte remis gehalten, wie in Kommentaren auf chessgames.com erläutert. Moral der Geschichte: Nur weil das Spiel so heisst, muss man nicht unbedingt immer Schach geben (vergleiche unten). Inzwischen verliert Aronian gerne mal unnötig gegen Carlsen, aber das ist nicht Thema dieses Berichts.

Der bereits erwähnte Thomas Beerdsen ist Jahrgang 1998 und immerhin FM mit Elo 2317, ihn sprach ich Pfingsten 2014 beim Limburg-Open und zitiere aus meinem damaligen Bericht: "Halb im Jux fragte ich [Beerdsen], ob er Schachprofi werden will, und die Antwort war ein entschiedenes JA. Daneben stand der ein Jahr ältere Mischa Senders: “Du willst also in Armut leben?! Ich werde studieren und dann einen normalen Beruf ausüben …”. Gegen Ende des Berichts noch ein Zwischenton zu diesem Thema – ohnehin müssen sie sich ja noch nicht entscheiden." Der Zwischenton kam später von Jorden Van Foreest. Beerdsen spielte in der vorgestellten Partie wie Carlsen damals 2006, wird es weitere Parallelen geben??? Er hatte Schwarz gegen GM Jan Werle - mir vom Namen her ein Begriff, aber ehrlich gesagt war ich mir nicht sicher ob er noch aktiv ist. Zumindest ist er für mich allenfalls Jan Nummer 4 hinter (da will ich mich qua Reihenfolge nicht festlegen) Gustafsson, Timman und Smeets.

Ich steige erst spät in die Partie ein bzw. setze zu den ersten ca. 70 Zügen nur ein paar Diagramme:

Werle Beerdsen move 28

 

 

 

 

 

 

Nach 28 gepflegt-ruhigen Zügen (orthodoxes Damengambit) stand dieses Endspiel auf dem Brett - Schwarz hat einen Isolani auf d5, aber das sollte man doch halten können?

Werle Beerdsen move 50

 

 

 

 

 

 

Nach 50 Zügen - gerade wurden die Läufer abgetauscht.

Werle Beerdsen move 66

 

 

 

 

 

 

Nach 66 Zügen.

Werle Beerdsen move 72

 

 

 

 

 

 

Nach 72 Zügen - Weiss hat immerhin einen Mehrbauern, und nun steige ich ein ins Geschehen. Noch braucht man (nicht frei verfügbare) 7 Men Tablebases, um als Laie zu wissen was genau Sache ist. Nun folgte 72.-Tf1? (72.-Te1 und Weiss kann keine weiteren Fortschritte machen) 73.Ke4 Td1 74.Tb5 Kd6 75.Kf5 Tf1 76.Tb6+ Kxd5 77.Txf6

Werle Beerdsen move 77

 

 

 

 

 

 

Das ist nun ein Tablebase-gewonnenes Turmendspiel mit Mehrbauer - aber wenn Werle das souverän gewonnen hätte gäbe es diesen Bericht eher nicht. 77.-Kd4 78.Td6+ Ke3 79.Te6+ Kf3

Werle Beerdsen move 79

 

 

 

 

 

 

Und nun? Nur 80.Te4 gewinnt, Werle spielte 80.Ta6? und der schwarze König landete auf Umwegen da, wo er hin gehört: 80.-Kg3 81.Ta4 Kh4! 82.Kf6 Kh5 83.f5 Tb1 84.Te4 Tf1? (fast alle Turmzüge auf der b-Linie halten remis, ebenso 84.-Tc1 oder 84.-Ta1 - Schwarz braucht Platz für Turm-Seitenschachs) 85.Te5? (nur 85.Te8 oder 85.Te2 gewinnt - warum da bin ich auf die Schnelle überfragt) 85.-Tb1 (schnell zurück!) 86.Kf7 Tb7+ 87.Te7 Tb6 88.f6 Kg5? (88.-Kh6, nur so!) 89. Te5+? ("Patzer sieht ein Schach, Patzer gibt ein Schach" - vielleicht etwas frech, einen GM als Patzer zu bezeichnen, aber hier gewann [nur] 89.Te6) 89.-Kh6! (er bekam seine zweite Chance) 90.Te6 (nun zwar trickreich, aber nicht mehr gewinnbringend, es sei denn ...)

Werle Beerdsen move 90

 

 

 

 

 

 

90.-Tb7+? (Patzer sieht ein Schach, Patzer gibt ein Schach - die Patzer heissen Thomas Beerdsen und Magnus Carlsen. Nach 90.-Tb8 ist es weiterhin, oder auf die heutige Partie bezogen mal wieder, remis). 91.Kf8! (Ausrufezeichen beziehen sich hier und zuvor darauf, dass dies laut Tablebases der einzige Gewinn- oder Remiszug ist. Carlsen hat in sehr ähnlicher Stellung aufgegeben, Beerdsen spielte noch ein paar Züge:) 91.-Kg6 92.f7+ Kh7 93.Te2 Tb8+ 94.Ke7 Tb7+ 95.Kf6 Tb6+ 96.Te6 Tb8 97.Te8 Tb6+ 98.Ke5 1-0.

Rundenbeginn ist übrigens jeweils um 18:30 - damit dauern die Partien mitunter bis in den späten Abend, aber tagsüber kann man sich anderweitig beschäftigen. Womit, da hat die Turnierseite (Flickr-Fotoserie Rubrik Vlissingen) ein paar Ideen:

Vlissingen Stadt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Downtown Vlissingen

Vlissingen Strand

Vlissingen beach

Noch ein Foto von Thomas Beerdsen - in einer früheren Runde war er gegen King Loek van Wely relativ chancenlos:

van Wely Beerdsen

 

 

 

 

 

 

 

Und ein Foto zu einem anderen Endspiel in derselben siebten Runde, das ich nicht auch noch besprechen will - aber als Zugabe gibt es die beiden kompletten Partien.

Ankit Heltzel endgame

 

 

 

 

 

 

 

GM Ankit (2461) - CM Heltzel (2216), Remis nach 108 Zügen.

 

The Killer Dutch von Simon Williams
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Der englische GM Simon Williams ist mir in Island das erste Mal begegnet und aufgefallen. Seine Elo von über 2500 ist mittlerweile zwar auf 2426 gesunken, dafür ist er verstärkt als Chessbase DVD-Dozent, Schulschachtrainer und Autor unterwegs. Er hat seinerzeit in Island nicht nur die interessantesten Partien des Tages der Reykjavik Open sehr unterhaltsam kommentiert, sondern auch damals schon deutlich gemacht, wie und weshalb er Schach spielt. Er spielt sehr dynamisches Schach mit dem Fokus auf frühe Mattangriffe.

Das Buch ist über 460 Seiten stark und beinhaltet die Essenz von Williams´ liebster Schwarzverteidigung, dem Holländer (1. d4 f5). Mit Weiß spielt er, nebenbei erwähnt, vorzugsweise Königsgambit. Ein feinsinniges Eröffnungsrepertoire für Positionsspieler ist daher nicht zu erwarten, obwohl der Holländer auch regelmäßig von sehr soliden Positionsspielern gespielt und auch aktiv beworben wird, z. B. von GM Mihail Marin. Williams bietet, wenn möglich, natürlich aggressive Abspiele.

Das Buch selbst ist eine Fortsetzung der Williams´schen Live-Kommentierungen: Unterhaltsam, anschaulich und sehr eingängig. Und in diesem Fall auch ausführlich. Das würde schon fast als vollständige Beschreibung reichen.

Williams´ Anmerkungen geben dem Leser das gute Gefühl, den Verlauf der Partie nachvollziehen zu können und zu verstehen, worum es eigentlich in den Varianten geht, die Bauernstrukturen werden hinreichend besprochen. Als Lehrbuch kann man dieses üppige Werk somit bequem durchgehen lassen. Wenn es um die Details geht, lässt das Buch gelegentlich kleine Lücken, weshalb es nicht als gutes Nachschlagewerk durchgeht: In den verschiedenen Theorieteilen gibt der Autor zwar eine Übersicht über die jeweiligen theoretischen Varianten, das Gefühl der Vollständigkeit will sich aber nicht einstellen. Mehrere Varianten, die ich selbst mal mit Weiß oder Schwarz gespielt habe, befassten sich nicht sehr eingehend mit von GM mindestens gelegentlich gespielten Abspielen. Macht aber nichts. Ein Eröffnungsbuch muss nicht Lehrbuch und Nachschlagewerk in einem sein.

Fazit:

Zum Lernen der Eröffnung kann man das Buch schlicht von vorne bis hinten durchgehen. Danach hat man nicht nur eine Menge Spaß mit den Texten von Simon W. und den komplexen Holländisch-Partien gehabt, sondern auch noch Einiges über holländisch gelernt.

Sterne3bisSterne4

Gesponsort von Schach Niggemann (schachversand.de)

Dennis Calder

Fide Instructor, Juni 2015