Wie Magnus Carlsen spielend seine Gegner überrennt

Magnus Carlsen Magnus Carlsen Frank Jarchov
 „Schach ist einfach – wenn man kann“ so oder ähnlich ließ es Vlastimil Hort seine zahlreiche Fangemeinde wissen. Auch beim Weltranglistenersten Magnus Carlsen wunderte mich, wie er seine illustren Gegner zuweilen alt aussehen lässt. Und dabei legt er die Partie gern harmlos an, als wolle er seine Widersacher in Sicherheit wiegen. Die Hauptaussage meines Artikels, den ich eigentlich schon gestern beenden wollte, ist nun etwas konterkariert worden durch den Ausgang der gestrigen 1. Runde in London: da ist Carlsen tatsächlich auf ähnlich glatte Weise vorgeführt worden von Luke McShane, und zwar ebenso mit einer völlig anspruchslosen symmetrischen Englischen Eröffnung – passend zum Ort des Turnieres!
Nichtsdestotrotz rechne ich damit, dass sich Carlsen im Turnier noch berappeln und ein paar Siege einfahren wird. Ich will trotzdem versuchen, Ihnen was vielleicht Charakteristisches des jungen Norwegers aus seinem letzten Turnier im fernen China aufzuzeigen:
 

Carlsen,M (2825) - Bacrot,E (2715) Schottisch [C45]

3rd Pearl Spring (1), 2010

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.d4 exd4 4.Sxd4 Lc5 5.Sb3 Die erste Überraschung. Zwar hat Carlsen schon öfters Schottisch hervorgeholt, aber dann mit 5.Le3. Fast immer auf Superniveau sieht man entweder das komplexere 5.Le3 Df6 6.c3 oder die Holzhackervariante 5.Sxc6 Df6 6.Dd2 bzw. 6.Df3, um schnellstmöglich die Damen vom Brett zu bekommen und auf leichte strukturelle Endspielvorteile zu hoffen. Der Partiezug gilt als wenig ambitioniert. 5...Lb6 6.Sc3 Sf6 Schwarz muss die Fesselung durch Lg5 nicht zulassen, er kann auch erst 6...d6 ziehen und auf das ruhige 7.Le2 warten, womit Weiß im Prinzip zu erkennen gibt, dass er die kurze Rochade anpeilt. 7.De2!?

 Aber hallo! Dass Weiß so einen hässlichen Zug wählen kann verblüffte mich – ich mutmaßte, dass es sich um eine Neuerung handeln würde. Doch dem war nicht so. Ganze 25 Partien wurden zuvor schon mit diesem Zug gespielt! Aber genauer betrachtet ist das nicht so viel, denn Lg5, der Hauptzug, kam schon rund 6xhäufiger vor und alle möglichen anderen Züge wurden auch noch gespielt, also es ist nicht unbedingt ein zu erwartender Zug. Viel interessanter ist die Strategie dahinter! Weiß strebt offenkundig die lange Rochade an – und dann droht dem schwarzen König, falls er kurz rochieren sollte, ein Bauernstrum auf dem Königsflügel. Weiß will mattsetzen - dieser Plan ist somit ebenso riskant wie einfach! Übrigens fällt mir dabei eine alte Geschichte ein. Als ich noch Jugendlicher war spielte mein Mannschaftskollege in einer etwas anderen, aber doch in mancher Hinsicht ganz ähnlichen Situation auch De2. Dabei sah die Alternative Dd2 viel vernünftiger aus, zumal schon ein Läufer auf e3 stand. Auf meine Anfrage, warum er diesen skurril aussehenden Zug gespielt habe, antwortete er zuversichtlich: „das steht in meinem Theoriebuch!“ Hinterher stellte sich heraus, dass es sich um einen Druckfehler handelte.  
7...0–0!? Nimmt die Herausforderung an, sicherer erscheint schon 7...d6 nebst …Le6, was die lange Rochade  noch offen lässt.
8.Lg5! h6 9.Lh4!

Erst das war wohl die Neuerung. Aber die versteht sich von selbst! Die Fesselung ist recht unangenehm für Schwarz, nachdem er rochiert hat und sein Schwarzfelder auf b6 vor der Verteidigung platziert ist. Manchmal muss man einfach simpel spielen und Carlsen scheint es gegeben zu sein, solche Linien auf dem Brett oder zuhause in weniger erforschten Stellungen zu finden. Der Rest jedenfalls ist schnell erzählt, Carlsen gewann die Partie im Sturmangriff: 
a5 10.a4 Sd4 11.Dd3 Sxb3 12.cxb3 Te8 13.0–0–0 d6 14.Dc2 Ld7 15.Lc4 Le6 16.The1 De7 17.e5 dxe5 18.Txe5 Df8 19.Lxf6 gxf6 20.Te2 Dg7 21.Lxe6 Txe6 22.Txe6 fxe6 23.Td3 Kh8 24.Tg3 Dh7 25.Dd2 Lc5 26.Se4 Le7 27.Th3 Kg7 28.Dd7 Kf7 29.Sg5+ fxg5 30.Tf3+ Kg8 31.Dxe6+ Kh8 32.Tf7 Ld6 33.Txh7+ Kxh7 34.Df7+ Kh8 35.g3 Ta6 36.Kb1 Lb4 37.f4 gxf4 38.gxf4 1–0

Am Bildschirm nachspielen:


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Magnus Carlsen                                                                     Foto: Jarchov

Beeindruckend fand ich auch, wie er ein paar Runden später den früheren Weltmeister Topalov, der anscheinend meilenweit von seiner früheren Form entfernt ist, mit einer praktischen Eröffnungswahl überspielte:

Carlsen,M (2825) - Topalov,V (2800) [C84]

3rd Pearl Spring (5), 2010
 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.0–0 Le7 6.d3(!)

Geht den forcierten Möglichkeiten, die nach 6.Te1 b5 7.Lb3 0-0 aus dem Wege, wie dem Marshall-Gambit nach 8.c3 d5. Früher, beim Blitzen, galt so was wie 6.d3 als „Patzerzug“. Wer so spielte gab zu erkennen, dass er von Theorie keine Ahnung hat. Ich wunderte mich trotzdem jedes Mal, wenn ich gegen so eine „Type“  mit Schwarz blitzte, wie schwer ich mich trotzdem tat. Jedenfalls ist es so, dass Weiß gar nicht erst versucht, einen Vorteil aus der Eröffnung nachzuweisen. Es reicht ihm völlig, eine ordentliche Stellung zu haben, die eher dem Weißen Aussichten einräumt, später doch noch die Initiative zu ergreifen. Nach ein paar indifferenten Zügen von Toppi schnappt sich Carlsen später das Läuferpaar und eröffnet mit f2-f4 den Kampf um Zentrum und Initiative.
b5 7.Lb3 d6 8.a4 Tb8 9.axb5 axb5 10.Sbd2 0–0 11.Te1 Ld7 12.c3 Ta8 13.Txa8 Dxa8 14.d4 h6 15.Sf1 Te8 16.Sg3 Dc8 17.Sh4 Lf8 18.Sg6 Sa5 19.Sxf8 Txf8 20.Lc2 Te8 21.f4 Lg4 22.Dd3 exf4 23.Lxf4 Sc4 24.Lc1 c5 25.Tf1 cxd4 26.cxd4 Dd8 27.h3 Le6 28.b3 Da5 29.Kh2 Sh7 30.e5 g6 31.d5 Sxe5 32.dxe6 1–0 
Alles wirkt kraftvoll, aber ebenso einfach wie verständlich. 

Am Bildschirm nachspielen:

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