Frage an die Leser
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Mittwoch, 08 Mai 2013 16:46

Frage an die Leser

Als Abwechslung zur endlosen Schachpolitik mal wieder etwas Handfestes: Die aktuelle "Schach"-Ausgabe wirft eine Endspielfrage auf, die ich mir genau so auch schon gestellt hatte. Die Sache ist mir bis heute etwas rätselhaft. Vielleicht können die Leser dabei helfen, Licht ins Dunkel zu bringen? Es geht um die Partie Carlsen-Gelfand vom Londoner Kandidatenturnier, Stellung nach dem 44. Zug von Weiß (siehe Diagramm). Zur Erinnerung kurz die Partiefortsetzung: 44...Dxf1+ 45.Kh2 Db1 46.b7 Db5 47.c6 Ld5 48.Dg3 1-0. So weit, so einfach. Was aber ist, wenn Schwarz auf f1 mit dem Läufer nimmt? Es ist verblüffend, wie wenig Beachtung diese Möglichkeit fand. Die Londoner Kommentatoren hielten sie für hoffnungslos, Carlsen im Interview ebenso und Peter Heine Nielsen, der die Partie für "Schach" kommentierte, erwähnte den Zug nicht einmal. Aber wenigstens findet sich nun eine "Anm. d. Red." (vermutlich von IM Dirk Poldauf), die ich hiermit zitiere: "Zu prüfen wäre, ob bzw. wie Weiß nach 44...Lxf1! 45.Dxf7+ Kh8 46.Df6+ Kh7 47.Kh2 De8 gewinnt." Endlich noch jemand, der sich diese Frage stellt - ich dachte schon, ich sei einfach zu blöd! Zur Veranschaulichung noch einmal ein Diagramm:

Schwarz plant, eine weißfeldrige Blockade zu errichten und, wenn möglich, seinen Läufer für die beiden Freibauern zu geben. 48.c6 Lb5! 49.c7 La6 führt zu nichts, ebenso wenig wie 48.b7 Db8+. Also was tun? Dazu noch eine Anmerkung: Jeder kann hier seine Lieblings-Engine einschalten und wird feststellen, dass sie eine Gewinnstellung für Weiß anzeigt. Eine ganz andere Frage ist aber, ob dabei auch ein Gewinnweg herauskommt, ob also z.B. diverse Festungsmotive verstanden werden. Branchenführer Houdini hat hier jedenfalls seine liebe Mühe. Ich glaube, dass ich inzwischen trotz allem einen gewinnträchtigen Plan gefunden habe, aber besonders klar ist die Sache keineswegs. Für mich liegt auf der Hand, dass Gelfand so hätte spielen müssen, und ich verstehe nicht, warum dies so wenig beachtet wurde. Zu viel Engine-Gläubigkeit? Oder gibt es doch eine einfache Lösung? Was meinen die Leser?

Two days in London
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Freitag, 12 April 2013 17:33

Two days in London

Was war das für ein Finale beim Kandidatenturnier in London! Dramatisch war's, kurios auch, nervenaufreibend, emotional, historisch - und ich war dabei. "Zufällig" hatte ich schon ein paar Wochen vorher meinen Oster-Kurzurlaub (Samstag bis Dienstag) in London gebucht und ich war dann auch wirklich zur richtigen Zeit am richtigen Ort, d.h. ich konnte die beiden letzten Runden live verfolgen. Diese Tage werde ich so schnell nicht vergessen. Was Schach betrifft, habe ich noch nie etwas Mitreißenderes erlebt. Die besten Spieler der Welt hautnah, ein Wechselbad der Gefühle, Hochspannung bis zur letzten Minute - und am Ende gewinnt auch noch mein Lieblingsspieler, Wahnsinn.

Schon bald war mir der Gedanke gekommen, dass ich für die Blogleser hier einen Stimmungsbericht verfassen könnte. Inzwischen bin ich seit über einer Woche wieder zu Hause und habe schon ungefähr zwanzig Mal erfolglos dazu angesetzt, etwas zu schreiben. Es ist nicht so, dass mir nichts einfallen würde, im Gegenteil fällt mir viel zu viel ein; ich bin immer noch ziemlich überwältigt von all den Eindrücken. Diese zu kanalisieren und in passende Worte zu kleiden, erweist sich als noch schwieriger, als ich anfangs dachte. Ich war ja nicht als neutraler Beobachter da, sondern in erster Linie als Carlsen-Fan. Und was habe ich gezittert und gebangt, meine Güte! Wenn man vor Ort dabei ist, hat es einfach eine ganz andere Intensität, als wenn man lässig zu Hause vor dem Computer sitzt, womöglich mit laufender Engine im Hintergrund. Man versteht viel besser die menschliche Ebene. Auch die vermeintlichen Halbgötter mit ihren gigantischen Elozahlen sind Menschen aus Fleisch und Blut, jeder ist anders veranlagt, aber alle sind von Emotionen geprägt. Was der Computer anzeigt, mag wissenschaftlich interessant sein, hat aber oft herzlich wenig mit dem zu tun, was in den Köpfen der Spieler vorgeht. Es ist auch z.B. einfach, aus der Ferne über Iwantschuks Zeitüberschreitungen zu lästern. Aber wenn der Mann wenige Meter vor einem sitzt und man jede Regung in seinem Gesicht studieren kann, beginnt man wenigstens annäherungsweise zu begreifen, wie er denkt, wie er fühlt, wie sensibel er ist. Iwantschuk verhält sich unwürdig, schmeißt leichtfertig oder gar absichtlich seine Partien weg? Wohl kaum.

Wie war denn nun die Atmosphäre vor Ort, wie fühlte es sich an? Zunächst ein bisschen wie Harry Potter, wenn er in Diagon Alley einkaufen geht. Man steht vor dem unauffälligen Gebäude, nichts lässt darauf schließen, was drinnen abläuft, aber man weiß ja Bescheid. Man lässt also die ahnungslosen Muggel stehen, tritt ein wie ein Mitglied einer verschworenen Gemeinschaft und legt seine alltägliche Existenz an der Garderobe ab. Willkommen in der Parallelwelt. Hier sind die Bretter, die die Welt bedeuten, hier im dunklen Halbrund wird Geschichte geschrieben. Nichts auf der Welt ist wichtiger als der nächste Zug. Nur der Tablet-Computer, mit dem man die Kommentare verfolgen können soll, erinnert ein wenig an die materielle Außenwelt. Das Ding funktioniert aber sowieso nicht vernünftig, die Übertragung ruckelt wie verrückt, also weg damit, Atmosphäre einsaugen. Nobles Ambiente hier drin, aber egal, entscheidend ist die Gestik und Mimik der Spieler. Was macht Carlsen für einen Eindruck?  Der sonst so lässige Junge sieht angespannt aus, sitzt steif am Brett, manchmal verzieht er gequält das Gesicht. Der Spaßfaktor spielt ja für ihn sonst eine große Rolle, er spielt einfach unheimlich gern Schach. Im Moment macht es aber offensichtlich keinen großen Spaß, der Druck ist immens, aber da muss er durch. 4.Dc2 gegen Nimzo-Indisch von Radja, na gut, das hat er gegen Grischuk auch schon gemacht. Trotzdem starrt Carlsen die Stellung an, als sähe er sie zum ersten Mal in seinem Leben. Was ist los? Mein Gott, bereitet er sich denn gar nicht vor? Was macht eigentlich sein Sekundant in London, außer Sightseeing? Aber wenigstens kommen nach und nach ein paar Züge, auch wenn sie vollkommen improvisiert und nicht sehr überzeugend aussehen. Verrückt wird man hingegen bei der zweiten zentralen Partie des Tages (s. Diagramm):

Kramnik hat gerade 5.e3 gezogen, kein üblicher Zug, aber weiß Gott auch nicht besonders furchteinflößend. Man könnte meinen, dass Schwarz z.B. 5...Lg7 antworten kann, ohne direkt zu verlieren. Aber Gelfand, die alte Schnarchnase, überlegt und überlegt und überlegt. Man wartet, sieht, wie die Zeit verrinnt (10, 20, 30 Minuten...) und wird schier wahnsinnig. Als ob in der Partie nicht noch viel kritischere Momente zu erwarten wären! Irgendwann erfolgt endlich 5...dxc4, Kramnik eilt ans Brett, zieht a tempo 6.Se2 und verschwindet wieder. Und Gelfand verfällt in die nächste Brütphase, nicht zu fassen!

Aber schließlich geht die Partie natürlich doch weiter, ich habe inwischen auch genug gesehen und siedle in den Kommentarraum um, wo eine deutlich lebhaftere Stimmung herrscht. Richtig voll ist es hier, bei weitem nicht alle haben einen Sitzplatz. Vorne gibt Lawrence Trent mit wechselnden Partnern den Chef-Moderator und -Kommentator und er macht es richtig klasse. Jeden Spieltag ist er von Anfang bis Ende da und muss sich den Mund fusselig reden, aber er beweist eine tolle Kondition und ist nie um einen guten Spruch verlegen. Vor allem findet er eine schöne Balance zwischen Sachlichkeit und Unterhaltung. Und langweilig wird es sowieso nicht, schon allein wegen der Turnierkonstellation. 

Vor allem die Partie Kramnik - Gelfand ist natürlich hochinteressant. Zunächst scheint Gelfand die Eröffnung doch ganz gut gemeistert zu haben, aber die Zeit läuft ihm davon. Je näher die Zeitkontrolle rückt, desto höher steigt die Spannungskurve. Gelfand steht kritisch, aber er verteidigt sich prächtig, findet immer wieder Ressourcen. Der ganze Raum fiebert mit, wohl über 100 Leute. Keiner weiß, was los ist. "Kramnik gewinnt!", heißt es zwischendurch, "nee, doch nicht!" Und so weiter. Nach der Zeitkontrolle ist die Lage immer noch unklar, aber zum Glück schaut in diesem Moment Peter Swidler vorbei. Er tut zwar wie üblich so, als hätte er keine Ahnung, sieht aber in einer Minute mehr als Trent & Co. in einer halben Stunde. Tja, deswegen darf er hier auch mitspielen. Der Weltklassemann prophezeit ein Remis und tätsachlich kommt es einige Zeit später auch so. Vorhang auf für Carlsens Endspiel-Magie!

Und damit sind wir bei meinem persönlichen Highlight der ganzen Veranstaltung. Die Schlussrunde war ja auch nicht von schlechten Eltern, aber wie Carlsen dieses Endspiel knetete, hat auf mich einen noch größeren Eindruck hinterlassen. Natürlich war Radjabow nicht besonders gut drauf, aber meine Güte, der Mann hat knapp 2800 Elo und ist (noch) die Nr. 4 der Welt. Und Carlsen drückt ihn aus wie einen Schulbuben! Wobei ich einen Moment herausgreifen möchte, in dem noch einmal richtig Zittern angesagt war:

 Wohin mit dem schwarzen König? Natürlich möchte man gerne nach b7, was die Kommentatoren zunächst auch empfohlen hatten, und auf 76.Sc4 folgt vermeintlich 76...Sc6 "mit sicherem Mehrbauern". Plötzlich stellte man aber fest, dass nach 77.Sb2! dann auf einmal der Läufer weg wäre. Hoppla, das kann man nach so langem Kampf schon mal übersehen! Und just in diesem Moment zieht Carlsen tatsächlich 75...Kb7. Er wird doch nicht etwa... Oh Gott! Alle Carlsen-Fans (ich bin natürlich nicht der Einzige) halten den Atem an, Manager Espen Agdestein mag gar nicht mehr hingucken. 76.Sc4 geschieht, jetzt AUFPASSEN, waaaaa... und man erkennt auf dem Bildschirm, wie Carlsen von der Erkenntnis durchzuckt wird. König zurück nach a6, in nächsten Anlauf nach a7 und weiter geht's. Puh! Man wischt sich die Schweißtropfen von der Stirn, aber Moment mal, wie steht's denn jetzt überhaupt? Carlsen hat zwar einen Bauern mehr, er hat nicht die Figur eingestellt, aber kommt jetzt nicht der weiße König reinmarschiert? 78.Kd4 schon gespielt! Oh je, jetzt wird's konkret. Man versucht zu rechnen, auf den Analysebrettern wird fleißig herumprobiert, wieder weiß zunächst keiner, was los ist. Trent unkt: "Das kann Carlsen auch noch verlieren!" Aaarg! Gibt's eigentlich einen Arzt hier? Aber Radjabow ist inzwischen auch ziemlich fertig und findet nicht die besten Züge. Ehe man sich's versieht, hat Carlsen eine Figur mehr, der Rest ist einfach. Alles bereit zum großen Finale!

 

Am letzten Tag herrscht dann eine Atmosphäre, wie man sie von Schachturnieren wirklich nicht gewohnt ist. Die Räumlichkeiten sind proppevoll und im Analyseraum geht es teilweise zu wie auf einem Rummelplatz. Von links und rechts wird reingerufen, obwohl dies wegen der Internet-Übertragung eigentlich untersagt wurde. Vor allem der direkt neben mir stehende Jonathan Speelman (der immerhin auch schon mal im Kandidaten-Halbfinale war) ist überhaupt nicht zu bändigen und gibt mehr oder weniger laut ständig Zugfolgen und Bewertungen von sich. Auch sonst sind viele englische Prominente da: von der älteren Generation Nunn und Mestel, von den jüngeren Leuten u.a. Jones und Williams, leider lässt Adams sich nicht blicken. Speelmans Prognosen gefallen mir überhaupt nicht: Bei Carlsen wird es remis und Kramnik gewinnt das noch, prophezeit er. So weit sind wir aber noch lange nicht. Die Spannung ist mit Händen zu greifen, mit zunehmender Dauer wird es fast unerträglich, aber man kann ja hier nichts anderes machen als gebannt auf die Bildschirme zu starren und das Beste zu hoffen. Einer hat einen Laptop dabei und analysiert mit Houdini, das gilt nicht! Die Computer-Vorschläge nicht zu kennen trägt außerordentlich zum Reiz der Sache bei. Auch ohne Hilfsmittel wird allerdings mit der Zeit immer klarer, dass beide Führenden die Kontrolle verlieren und somit wohl tatsächlich das eintritt, was vorher nur als Gag vorhergesagt wurde: Carlsen und Kramnik verlieren beide! Aber die Dramaturgie wäre nicht perfekt ohne ein retardierendes Moment: Carlsen hat bereits aufgegeben, Iwantschuk steht kurz vor dem Sieg. Plötzlich wird die Kunde verbreitet, auch die letzte Partie sei vorbei. "Iwantschuk hat Remis angeboten!" Lähmendes Entsetzen - wieso remis? In totaler Gewinnstellung? Iwantschuk schenkt Kramnik den Turniersieg? Skandal, Schiebung, Betrug? Doch da kommt die Auflösung: "April, April!" Tatsächlich, es ist der 1. April und fast könnte man meinen, dass der liebe Gott persönlich sich einen kleinen Scherz erlaubt hat... Mir ist aber eigentlich nicht zum Lachen zumute, sondern ich bin einfach überwältigt. Diese zwei Tage waren so intensiv, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Ein einzigartiges Erlebnis - Schach pur!

 

Schloss Schwetzingen: Einer von vielen Schauplätzen eines reichen Schachjahrs
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Sonntag, 06 Januar 2013 15:45

Ein tolles Jahr für (deutsche) Schachfans

2013 bringt keine Schacholympiade, wahrscheinlich keinen WM-Kampf, und doch verspricht das neue Jahr ein gutes Schachjahr zu werden. Das gilt insbesondere für die deutschen Schachfans: Gleich drei Weltklasseturniere sollen in den nächsten Monaten in Deutschland stattfinden: Am 6.-17. Februar in Baden-Baden mit Anand, Adams, Caruana, Fridman, Meier, Naiditsch und einem ganzen Schachfestival. Am 3.-17. Juli ein FIDE-Grandprixturnier in Berlin und ab 22. Juli das Dortmunder Sparkassen-Chess-Meeting.

Wer im Süden wohnt, hat es nicht weit nach Zürich, wo am 23.Februar bis 1. März Anand, Caruana, Kramnik und Gelfand antreten. Die im Nordwesten können sich einen Abstecher zum ersten Knaller des Jahres in Wijk aan Zee von 12. bis 27. Januar überlegen. Ein Leckerbissen für heimische Fans ist auch das zum zweiten Mal zentral ausgetragene Bundesligafinale am 5. bis 7. April im Schwetzinger Schloss.

Den sportlichen Höhepunkt des Jahres erwarte ich vom doppelrundig mit acht Teilnehmern (Carlsen, Kramnik, Aronjan, Radschabow, Grischtschuk, Swidler, Iwantschuk und Gelfand) ausgetragene Kandidatenturnier am 14. März bis 1. April in London, das eher nicht mit einem Aprilscherz sondern der Kürung von Anands designiertem Nachfolger endet. Dass der 43jährige Inder bei seinem Kraftakt in Wijk aan Zee, Baden-Baden und Zürich mit 29 Partien binnen sieben Wochen wieder seit Jahren vermisste Siegerqualitäten zeigt und sich wieder – seinem Titel gemäß – über die 2800 schwingt, erwarte ich nicht, lasse mich aber gerne eines Besseren belehren. Offenbar ist Anand klar, dass seine beste Chance, zu alter Größe zu finden, jetzt ist, bevor sein Herausforderer feststeht und die nächste WM beginnt, sich im Kopf breit zu machen.

Nach dem starken ersten Quartal wird das Schachjahr etwas ruhiger. Abgesehen von den schon erwähnten Ereignissen erwarten uns das Festival in Biel,  FIDE-Grandprixturniere in Lissabon, Madrid und Paris, im August der Weltcup in Tromsö als Generalprobe für die ziemlich genau ein Jahr später dort stattfindende Schacholympiade, und im Herbst dann wieder Bilbao, London und das Moskauer Tal-Memorial, falls es nicht beim voriges Jahr provisorischen Juni-Termin bleiben soll. Der WM-Kampf könnte zwar laut einer früheren Ankündigung der FIDE schon Ende des Jahres in Anands Heimatstadt Chennai über die Bühne gehen. Wahrscheinlicher ist aber 2014 und nach einer Ausschreibung, sobald der Herausforderer in London ermittelt ist.

Gespannt bin ich auch, ob es Andrew Paulson, dem von der FIDE beauftragten Impressario des Grandprix, Kandidatenturniers und der nächsten WM gelingt, die Präsentation des Spitzenschachs zu verbessern. Dass Veranstaltungen wie Linares oder die Amber-Turniere in Monte Carlo und Nizza verschwunden sind, merkt man dem gut gefüllten Kalender jedenfalls nicht an. Für Fans hochklassigen Schachs hat ein gutes Jahr begonnen.

Weltmeister Anand
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Mittwoch, 07 Dezember 2011 02:19

Anand zeigt uns die Sterne

In seinem Guardian-Interview verrät Anand kaum Neues. Vermutlich die Aufregung. Nein, nicht wegen seiner Partien, die er routiniert zum Remis herunterspult, wenn er nicht gerade von Hikaru Nakamuras Königsinder schwindlig gespielt wird (die dritte Niederlage des Weltmeisters in drei Monaten), sondern vor seinem ersten Auftritt als Astronomie-Professor. Am heutigen beim London Chess Classic spielfreien Mittwoch will er uns zusammen mit John Nunn die Sterne zeigen, erklären, wie Teleskope funktionieren und sich von seiner Schlappe gegen Naki erholen. Ein Livestream ab 20 Uhr ist geplant.

Verpasste Geschenke
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Freitag, 04 Februar 2011 01:05

Verpasste Geschenke

Was schenkt man jemand, der so gut wie alles hat oder zumindest haben kann? Peter Davies´ Bruder wusste um dessen Faible für Schach und entschied sich, ihm einen Schachlehrer zu besorgen. Das ungewöhnliche Geburtstagsgeschenk hat sich als Glücksfall für das Schach erwiesen. Und unser Glück könnte noch größer sein, stünde ihm nicht einmal mehr die FIDE im Weg, aber dazu gleich mehr.

Zunächst zu Peter Davies. Er ist Hedge-Fond-Manager, einer der erfolgreichsten in London. Er hatte schon einige Schachlehrer verschlissen. Mit Malcolm Pein verstand er sich auf Anhieb. Vielleicht weil Pein in seinem Metier selbst zu den Erfolgreichsten gehört. Sein Schachladen ist samt Versandgeschäft und Ableger in den USA der umsatzstärkste der Welt. Pein gibt eine Monatszeitschrift (Chess) heraus, verlegt Schachbücher (Everyman Chess), schreibt eine tägliche Schachkolumne (Telegraph),  gibt Privatstunden und organisiert Schachevents.

Ein halbes Jahr nach ihrer ersten Schachstunde reiste Davies mit seinem Schachlehrer nach Bonn. Er hatte Lust bekommen, einen WM-Kampf zu sehen. Anand, Kramnik und die ganze Inszenierung beeindruckten ihn, und er bohrte: Wann holen wir die WM nach London? Pein schlug vor, eine Spur kleiner zu beginnen und erst einmal ein Turnier auszurichten. So wurde auf einem Abstecher an den Rhein der Grundstein zum London Chess Classic gelegt.

Dieses nun schon zweimal in der Vorweihnachtszeit ausgerichtete Turnier hat neue Maßstäbe in Sachen Publikumsfreundlichkeit gesetzt. Nicht nur wer die tadellose Inszenierung im Kensington Olympia verfolgt hat, sondern auch Zehntausende, die nur online dabei waren, wurden überzeugt: Malcom Pein und sein Team sind derzeit die besten möglichen WM-Veranstalter. 

Im Juli vorigen Jahres hat Pein der FIDE ein Angebot vorlegt. Das Preisgeld sollte ähnlich hoch liegen wie vor zwei Jahren in Sofia (damals zwei Millionen Euro für die Spieler, 400 000 für die FIDE). Die geplante Inszenierung und der mögliche Werbeeffekt für Schach waren absehbar vielfach besser. Pein hat auch die von der FIDE als Voraussetzung für Verhandlungen verlangten 50 000 Euro eingezahlt. Weltmeister Anand unterstützte die Bewerbung. Selbst als Carlsen das Kandidatenturnier absagte, blieb London am Ball. Alles passte. Nur den FIDE-Unterhändlern passte etwas nicht.

Bis Ende Jänner brauchte Pein Klarheit. Die Option auf den geplanten, repräsentativen Spielort lief ab. Je kürzer die verbleibende Zeit bis zur ím Mai 2012, also drei Monate vor den Sommerspielen geplante Ausrichtung umso teurer und fehleranfälliger würde es. Die FIDE hat die von London gestellte Frist verstreichen lassen. Man kann nur (und besser privat als öffentlich in einem Blog) spekulieren, was die Unterhändler der FIDE noch von Pein erwartet haben. Er tat einfach, was er ihnen ankündigte und zog, wie er heute bekannt machtedie Bewerbung zurück.

Die WM in London wäre ein Geschenk für die Schachwelt gewesen. Die FIDE-Unterhändler haben entschieden, dass wir ein Geschenk nicht verdienen. Wir nicht... 

Freitag, 31 Dezember 2010 01:27

2010 im Schnelldurchlauf

Das zu Ende gehende Jahr war ein ereignisreiches Schachjahr, aber war es auch ein gutes? Welche Ereignisse, welche Spieler haben es geprägt? Einige Glanzpunkte setzte sicher die Jugend. Als Erinnerungsstütze ein kurzer, nicht ganz unsubjektiver Überblick.

Los ging es mit der Mannschafts-WM im türkischen Bursa und einem Favoritensieg Russlands. Überraschend holten die USA mit dem überragenden Nakamura und Indien, obwohl ohne Anand, die Medaillen vor den höher eingeschätzten Team aus Aserbaidschan und Armenien. Den besten Start des Jahres erwischte Alexei Schirow in Wijk aan Zee mit fünf Siegen en suite. Am Ende wurde er dann doch noch überholt von dem trotz seiner erst 19 Jahre seit 1.Januar Führenden der Weltrangliste Magnus Carlsen. Die B-Gruppe wurde eine Beute des nächsten Carlsen, des 15jährigen Anish Giri.

Weltmeister Anand riss sich in Wijk aan Zee bei seinem letzten Test vor seinem Titelkampf kein Bein aus und holte seine üblichen plus zwei. Anders einen Monat später Wesselin Topalow: Mit unberechenbarem, hoch riskantem Schach gewann der Herausforderer in Linares, wo allerdings weder Carlsen, Anand noch Kramnik am Start war. Das wahrscheinlich stärkste Open des Jahres gewann der 18jährige Vietname Le Quang Liem. Während die Nationalspieler bei der EM in Rijeka unter ferner liefen mit ansahen, wie der 19jährige Jan Nepomnjaschtschi als Nummer 35 der Setzliste Europameister wurde, holte sich ein anderer Junior, der 18jährige Hamburger Schüler Nicolas Huschenbeth den deutschen Titel.

In der Bundesliga war der Titelgewinn des hohen Favoriten Baden-Baden nach einer Niederlage gegen Werder Bremen dank der ebenfalls vorne mitmischenden Solinger erst im letzten Spiel perfekt. Spannend verlief auch die WM. Anfangs überschattet von der Flugsperre, die Anands Reise nach Sofia erschwerte, und Spekulationen über Provokationen in der Heimat des Herausforderers wurde es ein fairer und hochklassiger Zweikampf, den Anand knapp aber zu Recht gewann. Zur gleichen Zeit und ein halbes Jahr zu spät kam der FIDE-Grandprix in Astrachan doch noch zu einem Abschluss, der aber überschattet wurde von Mutmaßungen über eine Partieabsprache zwischen Mamedscharow und Radschabow, die letzterem zum letzten offenen Platz im Kandidatenturnier verholfen haben könnte.

Korruption ist im Weltschach sonst eher auf Funktionärsebene ein Problem. Hoffnungen auf Veränderung nährte die Kandidatur von Anatoli Karpow um die FIDE-Präsidentschaft mit maßgeblicher Unterstützung von Garri Kasparow und dessen Draht zu Financiers im Westen. Das Turnier im rumänischen Bazna mauserte sich zum Elitewettbewerb. Der Sieger hieß einmal mehr Carlsen. Derweil eskalierte ein seit längerem schwelender Streit zwischen den Nationalspielern und dem Deutschen Schachbund um Honorare und die Bedingungen für Profis in Deutschland. Dazu gehört etwa auch, dass in Dortmund nur Naiditsch willkommen ist (das unzureichend gemanagte Turnier gewann heuer Ponomarjow) und in Mainz, dem Treffpunkt des Schachs in Deutschland, aufgrund der Wirtschaftskrise das Programm auf zweieinhalb Tage eingedampft werden musste.

Bei der Schacholympiade holte dann eine Ersatzauswahl mit Platz 64 das mit Abstand schlechteste deutsche Ergebnis. Im sibirischen Chanti-Mansisk enttäuschte auch Gastgeber Russland und musste Gold den leidenschaftlicheren, von einem entfesselten Wassili Iwantschuk angeführten Ukrainern überlassen. Dafür dominierten die Russinnen den Frauenwettbewerb. Bei der FIDE-Wahl unterlag Karpow mit praktisch der selben Marge wie vier Jahre zuvor Bessel Kok gegen Kirsan Iljumschinow, dessen Hintermänner seit 1995 in die eigenen Taschen wirtschaftend das Chaos verwalten.
Als Finale der unabhängigen Grand-Slam-Turniere hatte Bilbao eine schiefe Optik, hatte doch nahezu alle Qualifikationswettbewerbe Carlsen gewonnen, der gerade eine Formkrise durchmachte, während der einzige andere Qualifizierte Topalow von vornherein absagte. Kramnik gewann. Nur wenige Tage später begann der neue Grand Slam Tausende Kilometer entfernt in Nanking, wo Carlsen wie verwandelt agierte und überlegen gewann.

Kurz danach schockte der Norweger, dessen WM-Sieg für viele nur eine Frage der Zeit ist, mit dem Rücktritt aus dem im Frühjahr anstehenden Kandidatenturnier. Keinen klaren Sieger gab es in Moskau. Aronjan (der anschließend die Blitz-WM gewann), Mamedscharow und Karjakin teilten am Ende Platz eins. Das wäre nach der üblichen Wertung auch in London der Fall gewesen. Weil ein Sieg dort aber drei Punkte wert war, wurde Carlsen vor McShane und Anand zum Sieger erklärt. Zwischendurch setzte Marc Lang, FIDE-Meister aus Günzburg, mit einem Blindsimultan gegen 35 Gegner das deutsche Schachhighlight des Jahres. Die Frauen-WM im türkischen Antakya wurde von den Chinesinnen dominiert. Den Titel holte sich die 16jährige Hou Yifan, so dass sie sich künftig wohl öfter mit Männern messen darf.

Russischer Meister wurde nach einem Stichkampf, in dem es nur Remisen gab, und obwohl er zuvor im regulären Vergleich gegen den gleichaltrigen Karjakin unterlegen war, der mittlerweile 20jährige Nepomnjaschtschi. An die Weltranglistenspitze kehrt aber, nachdem zwischenzeitlich Anand vorne war, Carlsen (ebenfalls 20) zurück.

Schachwelt anno Tobak - London 1851
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Sonntag, 12 Dezember 2010 16:07

Schachwelt anno Tobak - London 1851

Beim 2. London Chess Classic Turnier sind inzwischen 4 Runden gespielt. In Führung liegen Weltmeister Vishy Anand und der englische Großmeister Luke McShane mit jeweils 3 Punkten. Wie bereits im Vorjahr ist die Veranstaltung vorbildlich organisiert und  Spieler sowie Zuschauer werden bespielhaft „gepampert“. Die Spiellaune der Akteure ist ebenfalls blendend. In der dritten Runde wurde besonders hart gekämpft. So benötigte z.B. Weltmeister Anand 77 Züge, um Magnus Carlsen zur Aufgabe zu bewegen. In der Begegnung McShane-Kramnik (remis) wurde ein T+L vs. T Endspiel sogar bis zum 139 Zuge geübt. Allerdings reichen die modernen Schachhelden damit noch lange nicht an die Ausdauer der Turnierschachpioniere aus dem Jahre 1851 heran. Beim ersten, ebenfalls in London abgehaltenen, Schachturnier saßen die Spieler oftmals noch wesentlich länger am Brett. Sie produzierten zwar nicht mehr Züge, aber es gab damals noch keine Beschränkungen der Bedenkzeit. Die ersten Schachuhren wurden erst ca. 10 Jahre später eingeführt, so dass es vorkam, dass bei einzelnen Zügen über 2 Stunden (!) nachgedacht wurde. Einige Partien dauerten 12, 16 oder sogar 20 Stunden. Der Turniersieger Adolf Anderssen berichtete über die Zustände in einem Brief wie folgt:


„Der Komfort war nicht sonderlich; Tische und Stühle waren klein und niedrig; die großen Bretter ragten auf beiden Seiten über die Tischkanten hinaus; neben den Spielern wurde alle Räumlichkeit von einem Kopisten in Anspruch genommen; kurz, man hatte kein freies Plätzchen, um das sorgenvolle Haupt während des harten Kampfes zu unterstützen. Für den englischen Schachspieler ist allerdings eine bequemere Einrichtung überflüssig. Kerzengerade sitzt er auf seinem Stuhle, steckt die Daumen in die beiden Westentaschen und sieht, bevor er zieht, eine halbe Stunde regungslos aufs Brett. Hundert Seufzer hat sein Gegner ausgestoßen, wenn er endlich seinen Zug rasch und entschieden ausführt.“


Anderssens Ausführungen kann man entnehmen, dass es damals auch noch weitere Unterschiede zu den heutigen Standards gab. Aber wenigstens mussten die Spieler die Partien nicht eigenhändig mitschreiben, hierfür gab es die Kopisten bzw. Protokollführer. Diese waren um ihren Job aber wahrlich nicht zu beneiden. So konnte man im Turnierbuch in den Aufzeichnungen zur Begegnung Williams-Mucklow beispielsweise folgende Bemerkung finden:

„... beide Herren schlafen bereits.“

Wie lange diese Erholungspause angedauert hat wurde leider nicht übermittelt. Eventuell haben die Spieler die Partie auch in schlafzieherischer Weise beendet, jedenfalls gewann Williams später.

Das Turnierbuch wurde übrigens von Howard Staunton (siehe Artikelbild) herausgegeben. Er war auch der Organisator der Veranstaltung und einer der 16 Teilnehmer. Er galt im Vorfeld sogar als großer Favorit auf den Turniersieg. Eine solche Konstellation ist heutzutage kaum mehr vorstellbar. Es wäre so, als ob Vishy Anand das aktuelle Londoner Turnier als Organisator, Pressechef und Spieler in Personalunion bestreiten würde.


Staunton wurde übrigens in der dritten Runde (das Turnier fand im K.O.-System mit Mini-Matches statt) von Adolf Anderssen besiegt, welcher auch im Finale gegen Marmaduke Wyvill siegreich blieb. Zum Abschluss eine kleine Kombination aus der 4. Partie des Finalmatches:

Weiß: Wyvill  Schwarz: Anderssen

{fen}5rk1/p2p3r/1p2pn2/2pPqpp1/P1P1n3/B1PQP1P1/6KP/3R1RN1 b - - 0 25{end-fen}

25...Txh2+ 26.Kxh2 Dxg3+ 27.Kh1 Kg7. 0-1.

 



Magnus Carlsen
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 „Schach ist einfach – wenn man kann“ so oder ähnlich ließ es Vlastimil Hort seine zahlreiche Fangemeinde wissen. Auch beim Weltranglistenersten Magnus Carlsen wunderte mich, wie er seine illustren Gegner zuweilen alt aussehen lässt. Und dabei legt er die Partie gern harmlos an, als wolle er seine Widersacher in Sicherheit wiegen. Die Hauptaussage meines Artikels, den ich eigentlich schon gestern beenden wollte, ist nun etwas konterkariert worden durch den Ausgang der gestrigen 1. Runde in London: da ist Carlsen tatsächlich auf ähnlich glatte Weise vorgeführt worden von Luke McShane, und zwar ebenso mit einer völlig anspruchslosen symmetrischen Englischen Eröffnung – passend zum Ort des Turnieres!
Nichtsdestotrotz rechne ich damit, dass sich Carlsen im Turnier noch berappeln und ein paar Siege einfahren wird. Ich will trotzdem versuchen, Ihnen was vielleicht Charakteristisches des jungen Norwegers aus seinem letzten Turnier im fernen China aufzuzeigen:
 

Carlsen,M (2825) - Bacrot,E (2715) Schottisch [C45]

3rd Pearl Spring (1), 2010

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.d4 exd4 4.Sxd4 Lc5 5.Sb3 Die erste Überraschung. Zwar hat Carlsen schon öfters Schottisch hervorgeholt, aber dann mit 5.Le3. Fast immer auf Superniveau sieht man entweder das komplexere 5.Le3 Df6 6.c3 oder die Holzhackervariante 5.Sxc6 Df6 6.Dd2 bzw. 6.Df3, um schnellstmöglich die Damen vom Brett zu bekommen und auf leichte strukturelle Endspielvorteile zu hoffen. Der Partiezug gilt als wenig ambitioniert. 5...Lb6 6.Sc3 Sf6 Schwarz muss die Fesselung durch Lg5 nicht zulassen, er kann auch erst 6...d6 ziehen und auf das ruhige 7.Le2 warten, womit Weiß im Prinzip zu erkennen gibt, dass er die kurze Rochade anpeilt. 7.De2!?

 Aber hallo! Dass Weiß so einen hässlichen Zug wählen kann verblüffte mich – ich mutmaßte, dass es sich um eine Neuerung handeln würde. Doch dem war nicht so. Ganze 25 Partien wurden zuvor schon mit diesem Zug gespielt! Aber genauer betrachtet ist das nicht so viel, denn Lg5, der Hauptzug, kam schon rund 6xhäufiger vor und alle möglichen anderen Züge wurden auch noch gespielt, also es ist nicht unbedingt ein zu erwartender Zug. Viel interessanter ist die Strategie dahinter! Weiß strebt offenkundig die lange Rochade an – und dann droht dem schwarzen König, falls er kurz rochieren sollte, ein Bauernstrum auf dem Königsflügel. Weiß will mattsetzen - dieser Plan ist somit ebenso riskant wie einfach! Übrigens fällt mir dabei eine alte Geschichte ein. Als ich noch Jugendlicher war spielte mein Mannschaftskollege in einer etwas anderen, aber doch in mancher Hinsicht ganz ähnlichen Situation auch De2. Dabei sah die Alternative Dd2 viel vernünftiger aus, zumal schon ein Läufer auf e3 stand. Auf meine Anfrage, warum er diesen skurril aussehenden Zug gespielt habe, antwortete er zuversichtlich: „das steht in meinem Theoriebuch!“ Hinterher stellte sich heraus, dass es sich um einen Druckfehler handelte.  
7...0–0!? Nimmt die Herausforderung an, sicherer erscheint schon 7...d6 nebst …Le6, was die lange Rochade  noch offen lässt.
8.Lg5! h6 9.Lh4!

Erst das war wohl die Neuerung. Aber die versteht sich von selbst! Die Fesselung ist recht unangenehm für Schwarz, nachdem er rochiert hat und sein Schwarzfelder auf b6 vor der Verteidigung platziert ist. Manchmal muss man einfach simpel spielen und Carlsen scheint es gegeben zu sein, solche Linien auf dem Brett oder zuhause in weniger erforschten Stellungen zu finden. Der Rest jedenfalls ist schnell erzählt, Carlsen gewann die Partie im Sturmangriff: 
a5 10.a4 Sd4 11.Dd3 Sxb3 12.cxb3 Te8 13.0–0–0 d6 14.Dc2 Ld7 15.Lc4 Le6 16.The1 De7 17.e5 dxe5 18.Txe5 Df8 19.Lxf6 gxf6 20.Te2 Dg7 21.Lxe6 Txe6 22.Txe6 fxe6 23.Td3 Kh8 24.Tg3 Dh7 25.Dd2 Lc5 26.Se4 Le7 27.Th3 Kg7 28.Dd7 Kf7 29.Sg5+ fxg5 30.Tf3+ Kg8 31.Dxe6+ Kh8 32.Tf7 Ld6 33.Txh7+ Kxh7 34.Df7+ Kh8 35.g3 Ta6 36.Kb1 Lb4 37.f4 gxf4 38.gxf4 1–0

Am Bildschirm nachspielen:


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Magnus Carlsen                                                                     Foto: Jarchov

Beeindruckend fand ich auch, wie er ein paar Runden später den früheren Weltmeister Topalov, der anscheinend meilenweit von seiner früheren Form entfernt ist, mit einer praktischen Eröffnungswahl überspielte:

Carlsen,M (2825) - Topalov,V (2800) [C84]

3rd Pearl Spring (5), 2010
 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.0–0 Le7 6.d3(!)

Geht den forcierten Möglichkeiten, die nach 6.Te1 b5 7.Lb3 0-0 aus dem Wege, wie dem Marshall-Gambit nach 8.c3 d5. Früher, beim Blitzen, galt so was wie 6.d3 als „Patzerzug“. Wer so spielte gab zu erkennen, dass er von Theorie keine Ahnung hat. Ich wunderte mich trotzdem jedes Mal, wenn ich gegen so eine „Type“  mit Schwarz blitzte, wie schwer ich mich trotzdem tat. Jedenfalls ist es so, dass Weiß gar nicht erst versucht, einen Vorteil aus der Eröffnung nachzuweisen. Es reicht ihm völlig, eine ordentliche Stellung zu haben, die eher dem Weißen Aussichten einräumt, später doch noch die Initiative zu ergreifen. Nach ein paar indifferenten Zügen von Toppi schnappt sich Carlsen später das Läuferpaar und eröffnet mit f2-f4 den Kampf um Zentrum und Initiative.
b5 7.Lb3 d6 8.a4 Tb8 9.axb5 axb5 10.Sbd2 0–0 11.Te1 Ld7 12.c3 Ta8 13.Txa8 Dxa8 14.d4 h6 15.Sf1 Te8 16.Sg3 Dc8 17.Sh4 Lf8 18.Sg6 Sa5 19.Sxf8 Txf8 20.Lc2 Te8 21.f4 Lg4 22.Dd3 exf4 23.Lxf4 Sc4 24.Lc1 c5 25.Tf1 cxd4 26.cxd4 Dd8 27.h3 Le6 28.b3 Da5 29.Kh2 Sh7 30.e5 g6 31.d5 Sxe5 32.dxe6 1–0 
Alles wirkt kraftvoll, aber ebenso einfach wie verständlich. 

Am Bildschirm nachspielen:

Form seines Lebens
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Mittwoch, 08 Dezember 2010 22:44

Form seines Lebens

Schwarz gegen Anand, Schwarz gegen Kramnik. So geht das London Chess Classic für Hikaru Nakamura (wer seinen Namen googelt, stößt übrigens auf eine Manga-Zeichnerin (!) gleichen Namens) los. Gegen Anand hat er in der ersten Runde „eine schreckliche Partie“ gerade noch gehalten. „Zum Glück ist die Berliner Mauer ein forciertes Remis“, twitterte er gleich hinterher fröhlich. Und: „nun ist Zeit, mit Stil Geburtstag zu feiern“. Der ist am Donnerstag und wie schon erwähnt: Schwarz gegen Kramnik. 23 wird Nakamura und ist „in der Form meines Lebens“, wie er vor wenigen Tagen twitterte. Sein für ihn und seine Fans enttäuschendes Abschneiden bei der Blitz-WM in Moskau (und dass er seine Twitter-Ansage, er werde Grischtschuk beim Blitzen abschlachten wie ein Baby, nicht ganz einlöste) hat seinem Selbstbewusstsein anscheinend nichts anhaben können. Im Tal-Memorial selbst gab er sich keine Blöße, holte solide 5 aus 9 (überhaupt spielt er in hochrangigen Turnieren viel mehr Remis, als seinem Spitznamen H-Bomb entspricht). In der Liveratingliste ist Nakamura seitdem knapp aber doch in den Top Ten. Unter den Schachtwitterern ist er bereits die Nummer eins.

London Calling
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Samstag, 04 Dezember 2010 21:29

London Calling

Keine Sorge, dieser Blog wechselt nicht zur englischen Sprache.  Das ist nur die Vorfreude auf das am Mittwoch beginnende London Chess Classic, das bei seiner Erstauflage voriges Jahr auf Anhieb neue Maßstäbe in Sachen Publikumsfreundlichkeit setzte. Wo sonst kommen die Akteure nach den Partien nahezu alle zu den Zuschauern und erläutern ihre Partien selbst? Und das nicht etwa, weil es vorher an kompetenten und spannend anzuhörenden Kommentatoren gefehlt hätte. Es ist allererste Sahne, was der Londoner Schachhändler und -veranstalter Malcolm Pein auf die Beine gestellt hat.

Statt wie in Dortmund die immergleichen drei Lieblingsspieler des Veranstalters mit drei Weltklassespielern zu matchen, treffen in London vier Weltklassespieler auf die vier stärksten Engländer. Kritikwürdig ist dabei nur, dass sich das Teilnehmerfeld gegenüber vorigem Jahr nur auf einer Position geändert hat. Statt Ni Hua spielt Anand. Es macht Sinn, den Weltmeister mit den hohen Londoner Standards vertraut zu machen, denn 2012 soll er dort seinen WM-Titel verteidigen. Allerdings dann nicht gegen Vorjahressieger Carlsen, der sich ja aus dem laufenden Zyklus abgemeldet hat. Ihr in Bilbao begonnenes und in Nanking fortgesetztes Minimatch geht übrigens in Runde fünf. Ein zweiter kleiner Makel ist das Open. Das läuft zeitversetzt, aber nicht früher sondern später als die Spitzengruppe, so dass Openspieler weniger Gelegenheit zum Kiebitzen haben als möglich wäre. Ob sich deshalb nur vier Deutsche zur Teilnahme entschließen konnten? Und andere vielleicht ohne Openteilnahme kommen? Wie Hans-Walter Schmitt, der sich, obwohl Deutschlands führender Schachveranstalter, auch noch das eine oder andere abschauen kann, aber offiziell wegen des anstehenden 41.Geburtstags eines guten indischen Freundes nach London reist.  

Besonders wichtig sind dem Festival Besucher anderer Art. Für Schulkinder, die mit ihren Schachgruppen die ganz Großen besuchen kommen, gibt es ein volles Programm. Die Charity Chess in Schools and Communities, die hinter dem Festival steht, ist nämlich nicht dem Spitzenschach sondern dem Kinder- und Breitenschach verpflichtet. Ohne diese Schnittstelle macht das ganze und auch eine WM 2012 wenig Sinn.