Ein Freund fühlte sich beschissen. Er konnte es nicht beweisen, aber er war überzeugt, dass sein letzter Gegner betrogen hatte. Es gab so viele Verdachtsmomente: Dass sein Gegner anders spielte als in den Partien aus der Datenbank. Dass er ein Remisgebot als 150 Elopunkte Schwächerer sofort ablehnte. Dass er ständig mit den Händen fummelte. Dass er für 0815-Züge in der Eröffnung ewig brauchte, aber fast im Minutentakt zog, als er seinen positionellen Vorteil ausbaute und schließlich mit einem feinen Bauernopfer ein Mattnetz knüpfte.
Kurz vor Ende hatte mein Freund genug und holte die Schiedsrichterin. Er habe nichts Stichhaltiges, aber sein Gegner spiele verdächtig stark. In folgender Stellung forderte die Schiedsrichterin also seinen Gegner auf, seine Taschen zu leeren. Theatralisch packte er ein paar Sachen auf einen Tisch, auch ein ausgeschaltetes Handy, und sagte schließlich ein Matt an. Zum vermeintlichen Beweis schmetterte er in dieser Stellung Kh1-g2 aufs Brett.
Für meinen Freund war das auch eine Art Beweis. Nicht sofort. Aber als er die Partie später am Computer nachspielte, habe fast jeder weiße Zug gepasst. Nur eben Kg2 nicht, was sein Gegner zog, als er durch die Schiedsrichterin unter Druck war. Offensichtlich habe sein Gegner gewusst, dass es matt ist, aber nicht wie. Eine brillante Opferzugfolge hätte tatsächlich mattgesetzt. Sehen Sie wie?
Nach Kh1-g2 droht zwar sowohl h2-h3 matt als auch Se8-f6 matt, aber mein Freund war mit f7-f5 wieder im Spiel. Doch in Zeitnot patzte er gleich wieder und verlor. Der Gegner meines Freundes hatte in dem Turnier damit nun eine um 300 Elo höhere Performance als seine Elozahl erwarten ließ. Das alles schien mir Grund genug, Ken Regan einzuschalten. Der Informatikprofessor an der State University of New York Buffalo ist derzeit die Anlaufstelle für alle, die während eines Turniers einen Betrugsverdacht haben und diskret prüfen lassen wollen. In der Anfangszeit, bis zum Fall Feller bei der Schacholympiade 2010, sei es noch meist darum gegangen, falsche Anschuldigungen zu entkräften, so Regan. Inzwischen habe er fast täglich Anfragen.
Doch die Partien des Gegners meines Freundes zeigen nur eine leicht höhere Übereinstimmung mit Houdini-Zügen als seine Elozahl erwarten lässt. Er wuchs nicht annähernd so über sich hinaus wie ein Jens Kotainy. In den späteren Runden fiel seine Eloleistung wieder ab. Selbst in der besagten Partie muss Regan mehrere Konfigurationen testen, bis die Quote in einen halbverdächtigen Bereich rutscht. Regans Analyse entlastet ihn. Der Fall sei aber interessant, und er will ihn, anonymisiert versteht sich, mit den Kollegen der gemeinsamen Antibetrugskommission von FIDE und Spielervereinigung ACP diskutieren.
Wie es aussieht, bin ich wohl selbst der von mir kürzlich in einem FAZ-Artikel über Betrug im Schach beschriebenen Paranoia verfallen. Wer über seiner Eloleistung spielt und sich ein wenig ungewöhnlich benimmt, macht sich heutzutage verdächtig. Ich glaube nicht, dass der Gegner meines Freunds den Betrugsverdacht mit Absicht weckte. Aber viel spricht dafür, dass wer erfolgreich einen falschen Betrugsverdacht weckt, die Spielleistung seines Gegners ganz schön drücken kann. Wenn ich mir die Züge meines Freund heute nochmal ansehe, wird mir klar: Er hatte einen ziemlich schlechten Tag. Das sieht er mittlerweile selbst so.
Kommentare
150 Elopunkte Unterschied heißt, der eine Spieler ist einen Tick besser, mehr nicht. Ein Remis anzunehmen bringt dem schwächeren Spieler kaum Elo und wenn er sich in der Stellung wohlfühlt, wäre er dumm, nicht weiterzuspielen.
Abgesehen davon sollte man sich nicht anmaßen, das "angemessene" Spielniveau eines nur marginal schwächeren Spielers korrekt einschätzen zu können.
Manchmal fühle ich mich auch beschissen. Meist ist es ein Infekt.
Zitat: Jaja, die ungeschriebenen Gesetze des Schach.
Der (ELO)Schwächere darf kein Remis anbieten, sondern hat es gefälligst anzunehmen.
Ich hab mal in einem Open gesehen, wie ein GM in schlechter Stellung von seinem (natürlich ELO-schwächeren) Gegener Remis angeboten bekam. Er hat dies wortlos ignoriert und die Partie mit Anstand verloren.
Zitat: Ken Regan ist ein seriöser Wissenschaftler. Er fummelt nicht an Konfigurationen bis die Verdachtszahlen passen.
Das zeigt, dass es schwierig ist, eine gesunde Balance zwischen notwendigen Kampf gegen Cheating und hysterischer Hexenjagt zu finden.
Ausführlicher im englischen Original: "The larger issue ... is that the opponent reported the (short) game as being very Houdini-like, whereas in the critical stretch of moves 15--22 my scripted test obtains 7-of-8 non-matches to Houdini. At Move 16 there is a match for 1 second, but by the time you get to depth 17 (14 seconds on 1 core thread on my 2008-vintage hardware in Single-PV mode) it is clear that the played move is about 0.25 pawns inferior, and it is listed 15th-best in Multi-PV mode by both Rybka and Houdini."
Demnach wäre 2/8 (also 25% Uebereinstimmung) "halbverdächtig"?
Generell sehe ich die ganze Cheating-Diskussion, und sicher den vorliegenden Fall, wie Darth Frank: "Hysterische Hexenjagd" ist mindestens genauso problematisch wie konkrete Verdachtsmomente gegen potentielle Cheater (auch dann gilt für mich die Unschuldsvermutung) - das ist auch ein Leitmotiv meiner eigenen Beiträge zum Themenkomplex.
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