Wie bemerkte jüngst ein befreundeter westfälischer, aber längst in Berlin ansässiger Schachspieler, als man mit einem geliehenen Wagen gemeinsam unterwegs war und ein wenig Vortrieb erforderlich wurde, um einen Überholvorgang zum Abschluss zu bringen so trefflich – und belegte damit die Markigkeit der Sprüche seines Herkunftsbundeslandes? „Der zieht ja keinen Hering vom Teller.“
So wird vermutlich auch mit dieser Überschrift kaum ein Hering vom Teller zu ziehen sein, geschweige denn einem Schachspieler, außer einem müden Gähnen, irgendeine andere Geste der Vorfreude, Euphorie oder Begeisterung zu entlocken sein. Man wird dennoch freundlich zum Weiterlesen gebeten, denn es verbirgt sich etwas ganz anderes dahinter als möglicherweise ein neuerlicher Vorschlag – wie jüngst gelesen gar von einem Deutschen geplant --, den Simultanweltrekord in dieser Disziplin zu brechen.
Nun muss man jedoch noch ein wenig Geduld aufbringen, wohin das Ganze führen soll und was sich hinter dem bereits anderweitig vergebenen Begriff in diesem kleinen Text verbergen soll. Dazu muss man, wie vom heutigen Autor sicher schon gewohnt, ein paar Vorüberlegungen anstellen. Diese beginnen beinahe ein wenig anekdotisch.
Die erste Begegnung mit diesem „Problem“ hatte man bei einem Blitzturnier, ausgetragen anlässlich der Deutschen Jugendmeisterschaft 1977 in Wallrabenstein – wo man im Übrigen die erste Begegnung mit dem damals für einiges Aufsehen sorgenden, noch sehr jugendlichen (und NICHT Teilnehmer der DJEM) Jörg Hickl, ebendort bis heute ansässig, hatte --, bei dem sämtliche lokalen Schachspieler herzlich eingeladen waren zu einem Kräftemessen mit der jugendlichen Elite. Nun geschah es in einer Partie, dass man persönlich in eine völlig hoffnungslose Lage geriet, der Gegner aber plötzlich so heftiges Muffensausen bekam – spürbar am Brett, da ihm das Skalp einer vermeintlichen Größe winkte – dass er die Partie unmittelbar danach verdarb.
Der eingefahrene Punkt wurde zwar vermeldet, sicher nicht gänzlich ohne Scham, er fand auch Eintrag in die Turniertabelle, versteht sich, jedoch hatte er auch diese frühe Folge: man begann, darüber zu sinnieren, ob einem möglicherweise nur die (vermutete) Größe des Namens, nicht aber die Größe der auf dem Brett ausgeführten Züge diesen Punkt eingebracht hatte.
Diese Überlegungen wurden beständig weiter geführt und auch hier nach Möglichkeit ein Erfahrungsaustausch vorgenommen, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Bis heute wird jedenfalls an allen Ecken und Enden der berühmte Spruch des ebenso berühmten „Praeceptor Germinae“, des deutschen Vorkämpfers, Dr. Siegbert Tarrasch zitiert, der sich vermutlich zu seiner Zeit bereits ähnliche Gedanken gemacht hatte: „Es genügt nicht, ein guter Spieler zu sein. Man muss auch gut spielen.“
Dieser Spruch hat natürlich noch etwas mehr Gehalt und kann auch an anderen Stellen sinnvoll eingesetzt werden, man sollte aber stets bedenken – und damit ein wenig anlehnend an einen Vorgängertext über Glück im Schach --, dass man Schachpartien an sich nur über möglichst konstant ausgeführte gute Züge gewinnen kann, sich bei jedem Zug erneut so gute wie mögliche Gedanken macht und ein wenig auf das Schicksal vertraut, dass sich dies auch in Resultaten niederschlägt. Sobald man versucht, mithilfe des Namens oder der Elo-Zahl, einfach aufgrund der ausgewiesenen und von Professor Elo mit der ausgeklügelten Formel errechneten Gewinnvorteils, die Punkte einzufahren, kann man recht bald und ebenso leicht Schiffbruch erleiden.
Aber halt; genau darum ging es ja eigentlich: welchen Einfluss hat nun die Kenntnis des Gegners und das Wissen um seine Überlegenheit auf den Partieausgang? Ist vielleicht die Zugauswahl davon beeinflusst? Kann man befangener werden und zu schwächeren Zügen greifen als gewohnt, nur, weil man in der Eloliste 250 Punkte weniger auf dem Konto hat? Kann man beflügelt werden von der Aussicht, ein Schwergewicht vor die Flinte zu bekommen und nun und gerade heute sein bestes Schach auspacken? Oder würde man vielleicht, unter dem gewaltigen Eindruck des Namens gar wie das Kaninchen vor der Schlange, gar nicht mehr agieren und auch nicht reagieren, sondern sich willenlos abschlachten lassen (was das Kaninchen ja mit der Taktik gerade zu verhindern gedenkt und so widersprüchlicherweise den Einzug in die Sprichwörterwelt fand)?
Nun ja, eine Vielzahl von Fragen, die vielleicht jeden – auch alle noch nicht Befragten – schon einmal in dieser oder jener Form angestellt haben – mit sicherlich offenem Ergebnis. Nur gäbe es dennoch diese kleine weitere Geschichte „aus dem Nähkästchen“ preis zu geben, die eine verblüffende Antwort zutage förderte.
Man hatte nun im Verlaufe der (noch andauernden, aber nicht mehr ganz jungen) Schachkarriere doch ausreichend viele Begegnungen mit etlichen Spitzenspielern, aus denen sich auch die eine oder andere anhaltende Bekanntschaft ergab. So wenig zugänglich der Mensch vielleicht wirken mag, aber man darf doch immerhin erwähnen, dass man einen gewissen Einblick in die Gedankenwelt des Dr. Robert Hübner – beinahe jahrzehntelang der deutsche Vorkämpfer ca. 100 Jahre nach dem vorzitierten anderen Doktor – erhalten zu haben. Man traf sich bei den zahlreichen Erstligakämpfen zumindest einmal jährlich (man war gar für zwei Jahre Reisepartner) und hatte auch sonst ein paar Begegnungen – beispielsweise einen Nachwuchstrainingslehrgang, welchen besagter Doktor leitete.
Nun tat man jedoch so ziemlich alles andere als Schachspielen und hat nicht eine einzige Partie gegeneinander ausgetragen. Vielmehr rühmte Robert Hübner die Eigenheiten des Backgammon – wessen man sich regelmäßig befleißigte --, bei welchem er vor allem auf den Umstand aufmerksam machte, dass man doch glücklicherweise im Anschluss an eine verdorbene Partie einen Verantwortlichen ausgemacht hätte, an denen sich die Wut entladen kann – natürlich, ja, die Würfel – während man im Schach sehr eigenhändig nach fünfstündigem Kampf den Turm auf jenes Feld platziert, wo ihn der Springer nach einem Doppelangriff auf König UND Turm im nächsten Zug vom Brett entfernen darf – damit sicherlich auf seine tragische Niederlage gegen Viktor Kortschnoi anspielend, in welchem ihm dieses Missgeschick widerfuhr und er die vorteilhafte, und zur Teilnahme an einem Kampf um die Krone bei Sieg, berechtigende Partie verdarb.
Aber auch sonst hatte man die Chance, ihn privat etwas näher kennen zu lernen und er überreichte einem gar zwei Mal sein Buch „Olli“, in welchem er Kurzgeschichten aus dem Finnischen übersetzt hat – um nur einen winzigen weiteren ihn so besonders machenden Charakterzug vorzustellen. So kam es auch zu einem Gespräch über die mögliche Auswirkung der Bekanntheit der Größe des Gegners: hilft es dem Besseren oder schadet es ihm? Wen anders als den praktisch immer Besseren könnte man dazu schon befragen?
Nun verblüffte eben Roberts Reaktion. Er war der Ansicht, dass es ein Nachteil für den Besseren wäre (ohne sich dabei endgültig festlegen zu wollen). Er meinte, dass sich die Außenseiter immer sehr besonders auf diese Partie freuen und vorbereiten würden, dass sie, noch dazu, sich praktisch immer mit Remisfortsetzungen begnügen würden, wodurch der zu brechende Widerstand noch anwüchse, anders als wenn jemand der Weltspitze gegen ihn mit offenem Visier kämpfen würde.
Nun, so sehr diese Argumente auch bedenkenswert erschienen, so wenig konnte man sich doch mit der letztendlichen Aussagen anfreunden. Man blieb bei der Konsequenz, dass es ein Vorteil für den Favoriten sei, dass er mit seinem Namen und seiner Elo-Zahl den Eindruck schindet, welcher dem Anderen die Lähmungserscheinungen – sich niederschlagend in schlichten Denkblockaden – zufügt. Man hat genügende Beispiele persönlich erlebt, in denen die Gegner zwar die Gewinnstellung herausspielen, aber in dem Moment, da sich der Sieg tatsächlich abzeichnet, aufgrund der Aufregung plötzlich völlig den Faden verlieren und die Partie wenige Züge später bereits komplett wegstellen.
Ebenso hat man selbstverständlich auf der Gegenseite die schmerzvolle Erfahrung gemacht, dass man, sobald der Gegner ein gewisses Potenzial ausweist, selbst in diesen Strudel geriet: die Stellung ist klar gewonnen, das weiß man wohl, aber auf einmal ist Tabula Rasa im Kopf, die Gedanken springen hin und her, die logische Gewinnführung bleibt aus – und gar der halbe Punkt entschwindet. So hat man zwar in letzter Zeit eine Reihe ausgezeichneter Ergebnisse erzielt in allen möglichen Schnellturnieren in und um Berlin, jedoch ausgerechnet gegen die beiden Externen mit der höchsten Elo-Zahl – Arik Braun und Normunds Miezis, mit jeweils 2550 etwa – sang- und klanglos verloren, jeweils mit Weiß, und dies zwei Mal mit groben Einstellern.
IM René Stern stand zwar mit seiner (sehr vernünftigen) Ansicht zur Verfügung und bemerkte, dass man gegen die Besseren aufgrund der länger andauernden Partie ohne derenseitige Fehler öfter die Gelegenheit hätte, selbst etwas einzustellen, jedoch genügt dies nicht, um die eigenen wirren Gedanken wahrhaftig zu erklären (diese verfluchte Eitelkeit: in beiden Turnieren waren dies die einzigen schwachen Partien und auch die einzigen Niederlagen; jeweils gewann der Favorit die Turniere klar und deutlich, für den Autor sprang einmal ein 3., einmal ein 4. Platz heraus, bei sehr guten Besetzungen).
Sicher mag es auch eine Frage des Charakters sein, ob man möglicherweise die David-Rolle lieber einnimmt und quasi unerschrocken einen Angriff anzettelt – vergleichbar vielleicht mit dem angeschlagenen Boxer, welcher, einmal auf der Verliererstraße, beinahe beliebige offensive Schläge austeilen kann, ohne Rücksicht auf eigene Malässen oder die Verteidigung, und gerade dadurch so gefährlich wird --, bei dessen Gelingen man das Schwergewicht zu Boden zwingt, und bei dessen Misslingen man einfach nur mit den Schultern zuckt, oder aber die etwas ängstlichere Spezies, welche ja keine unüberlegten Züge machen möchte, am liebsten auch dem Großmeister vorführen möchte, dass man durchaus in der Lage ist, sehr vernünftige spielen, letztendlich nach 48 Zügen das Partieformular doch unterzeichnet, aber im Bekanntenkreis nicht ohne Stolz herumerzählt, dass man „immerhin 48 Züge durchgehalten hat“, dass der Großmeister einem Lob gezollt hat und dass man kurz vor Schluss gar noch einen Remisweg ausgelassen hätte. Aber dennoch gibt es einen Einfluss, der für jeden gilt. Nur bleibt die Beantwortung der Frage – vorteilhaft für diesen oder für jenen – auf Dauer unbeantwortet.
Und damit wäre beinahe schon die Überleitung zur Erläuterung der Überschrift geschafft. Muss die Frage wirklich für immer unbeantwortet bleiben, schlichten Thesen, bald dieser oder bald jener, unterworfen, welche sich als reine Spekulationen ohne jede Nachweisbarkeit darstellen? Gibt es nicht doch eine Möglichkeit, sich der Beantwortung der Frage anzunähern, diesem Geheimnis auf die Schliche zu kommen? Und die Antwort auf diese letzte Frage lautet: JA, es gibt eine Möglichkeit!
Das Experiment erfordert eigentlich im Zeitalter des Internet (und dessen zahlreichen Blitzschachmöglichkeiten) kaum einen nennenswerten Aufwand. Man müsste lediglich Vertreter finden, die sich unter diesen Bedingungen zu einem Turnier anmelden. Wie müsste der Modus nun sein?
Die ganz schlichte Idee lautet: man meldet sich an zu dem „Blindschachturnier“, man wird normal ausgelost (natürlich am besten ohne Setzlisten), man bekommt, wie gewohnt, seinen Gegner, nur erfährt man von diesem weder Namen noch Rang. Man spielt einfach nur an seinem eigenen Brett seine eigene Stellung und seine eigenen Züge.
Wie anders wären die Überlegungen, welche man anstellte? Könnte man sich dies überhaupt noch vorstellen? Wäre es auf der anderen Seite nicht überaus spannend, sich nicht mit dem Gegner zu beschäftigen – selbst wenn ungewohnt? Wäre es nicht wirklich spannend, später zu erfahren, wie man nun „performed“ hat, gegen welchen viel schwächer eingestuften Gegner man meinte, es mit einem Großmeister zu tun zu haben, tatsächlich auch willenlos verloren hat, aber jener eben nur 1865 Elo hatte? Wie oft würde man glauben, es mit einem unterlegenen Gegner zu tun zu haben, jenen auch an den Rand einer Niederlage bringt, dieser einem aber ins Remis entfleucht, und man später doch konstatieren muss, dass es der Turnierfavorit war, der da so gar keinen Eindruck machen konnte, bis zum Schluss?
Natürlich würde, außer dem möglichen Unterhaltungswert und diesen vielen spannenden Fragen, jene auch möglicherweise beantwortet: hat nun der Schwächere den Vorteil oder der Stärkere, sobald man den Gegner kennt und eben nicht „blind“ spielt? Warum man dieses Ergebnis herausbekäme? Allein schon das Gefühl, mit welchem man spielt könnte einiges klären und den Teilnehmern darüber Aufschluss geben. Letztendlicher Gradmesser wäre natürlich (bei fortgesetzter Durchführung) die Entwicklung der Elo-Zahlen: würden die Schwergewichte bei derartiger (blinder) Ausführung langfristig eher Punkte einbüßen oder eher hinzugewinnen? Daran könnte man es ablesen, es wäre tatsächlich messbar.
Wer wäre dabei, wer führt ein Turnier durch?
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