Es juckt mich schon wieder in der Tastatur, denn in der vierten Runde des Riga Technical University Opens geschah jede Menge - wieder mal aus der Rubrik unterhaltsam und/oder lehrreich. Das Titelbild zeigt das noch nicht, aber später sassen dann Spieler aus aller Herren Länder auf den hier noch leeren Stühlen. Bevor ich zur Sache komme, ein kleiner Exkurs: Kollege Olaf Steffens hat vor kurzem dem deutsch-lettischen Neu-Aserbaidschaner Arkadij Naiditsch einen Artikel gewidmet. Eine Quelle kannte er da vielleicht noch nicht, ein ausführliches Naiditsch-Interview von Hartmut Metz für Schach-Magazin 64. Grund genug für mich, dieses Heft käuflich zu erwerben, aber wegen Urheberrecht undsoweiter und weil es nur peripher zum heutigen Bericht passt bringe ich nur zwei Perlen aus diesem Interview. AN: "Ich kann es zum Beispiel nicht verstehen, warum wir als grösster europäischer Schachverband keine Turniere organisieren. Lediglich dank der Privatinitiative von Wolfgang Grenke in Baden-Baden und durch die Sparkasse in Dortmund bestehen zwei Gelegenheiten pro Jahr. Die kleinsten Republiken organisieren Topwettbewerbe, nur wir nicht ... ." Mal abgesehen von dem Detail, dass (auch) der Schachbund Dortmund sponsort, welche kleinsten Republiken meint er?? Vielleicht Lettland, da tut sich seit der Rückkehr von Alexei Schirow einiges - dank Herrn Schirow, der vielleicht mitunter der Doppelrolle als Spieler und Organisator Tribut zollen musste. Dafür bekommt er von mir, nicht zum ersten Mal, ein Foto (Quelle ebenfalls Turnierseite):
Dann hatte Naiditsch noch kollegiales Lob für Daniel Fridman: Er arbeite nicht an seinem Schach, sondern "spielt nonstop irgendwelche kleinen Turniere". Es hat sicher seine Gründe, warum Fridman (wie übrigens auch Naiditsch) gelegentlich in Lettland spielt. Es hatte wohl auch seine Gründe, warum er mehrfach das wirklich kleine Oster-Open in Oberhausen spielte. Davon abgesehen und generell ist er nun einmal Schachprofi und im Gegensatz zu Naiditsch auch Familienvater.
Und nun Schach - mit unter anderem Daniel Fridman, aber vor allem jungen russischen IMs. Bei der Fülle an Material kann ich das durchaus interessante GM-Duell Dragun-Schirov an Brett 1 (remis) glatt ignorieren und beginne mit Brett 2:
GM Fridman - IM Chigaev nach 28 Zügen
Maksim Chigaev (*1996) hatte seinen Königsinder gerade mit 27.-h4 28.g4 g5 gewürzt, was tun aus weisser Sicht? Die (Computer-)Lösung verrate ich später, nur soviel: die Partiefortsetzung 29.Sxd7 Txe1 SCHACH 30.Dxe1 Sxd7 war nicht die beste Möglichkeit. Fridman stand im weiteren Partieverlauf dennoch mitunter besser, so stand es dann nach 41.-Ld4:
Schwarz verschaffte sich zwischenzeitlich einen Freibauern auf der a-Linie (noch nicht aber latent-potentiell) und steht nun nicht mehr schlechter. Weiss musste sich auf 42.Sxd4 cxd4 43.Kg1! d3 44.Df6! einlassen, und das geht (Computerurteil 0.00). Zeitkontrolle gibt es in Riga keine, bzw. nur eine für die gesamte Partie (90 Minuten plus 30 Sekunden Inkrement pro Zug). Fridman investierte hier 8 1/2 Minuten und entkorkte 42.Sh6+?!? Kh7 43.Dxf7+ Kh6 44.h4 und verlor kurzzügig, da Schwarz neben einer Mehrfigur auch (eigenen) Königsangriff hatte. Was er übersehen oder falsch gesehen hatte, da bin ich überfragt.
Auch Brett 3 stand unter dem Motto GM gegen Jung-IM:
GM Melkumyan - IM Lugovskoy nach 18.Sdf3
Abwechslung muss sein, Lugovskoys Vorname ist nicht etwa Maksim sondern Maxim. Aber man sollte es auch nicht übertreiben, auch er ist Baujahr 1996. Wie dem auch sei, der armenische GM hatte mutig bis übermütig geopfert, immerhin hat Schwarz noch nicht rochiert. Das konnte er nun tun, und wo ist dann die weisse Kompensation? Stattdessen eroberte er mit 18.-Txe5?! 19.Sxe5 Dxe5 noch mehr Material, und Weiss steuerte mit 20.Dc8+ Ld8 21.Tfd1 Ke7 (nach 21. - 0-0 nicht etwa 22.Txd8? sondern 22.Dxd8!) usw. sein schwankendes Schiff in den Remishafen.
An Brett 4 stand es zwischen den GMs Kovalev und Socko nach 63 Zügen so:
Computer rufen "Weiss gewinnt!", aber wie genau?? Diese Partie endete jedenfalls später remis - wenn ein Grossmeister den Gewinnweg nicht findet, dann finde ich ihn auch nicht. Erinnerungen werden wach an das Halbfinale des letzten Weltcups, damals konnte Herr K(ramnik) eine etwa vergleichbare Stellung auch nicht gewinnen.
Brett 5 überspringe ich, an Brett 6 spielte wieder ein russischer IM gegen einen GM:
IM Usmanov - GM Bartel vor 54.-Ld8?
Auch Vasily Usmanov ist Baujahr 1996, nach 54.-Ld8? 55.Td6+ Kc7 (55.-Ke8 ist offenbar nicht besser) 56.f6 usw. gewann er den schwarzen Läufer und kurz danach die Partie - diese Version Endspiel mit Mehrfigur ist relativ einfach. Warum genau z.B. 54.-Lb6 viel besser war, darf der Leser erforschen.
Wieder überspringe ich zwei Bretter und komme zum chaotischen Höhepunkt der Runde:
IM Kozionov - GM Neiksans nach 15.-Dd8??!
Die Dame kam von c7, kostet das nicht eine Figur?? Ja schon, wobei der lettische GM sich etwas dabei gedacht hat - und am Ende funktionierte es, auch wenn es objektiv gesehen Quatsch war. Lawrence Trent (für seine diversen Rollen inklusiv der neuesten siehe sein Twitter-account) tweetete hier: "If it's too good to be true, it normally is. White to play and win!" [Wenn es zu gut ist um wahr zu sein, dann ist dem so. Weiss am Zug gewinnt!]. Kozionov spielte 16.Sxh5 (warum auch nicht?) Dxh4 17.b4!? (halb-richtig) Lxb4 18.Sf4 (falsch!). Auch hier verrate ich die Lösung erst später. Nach 18.-Lc5 usw. war die Stellung (jedenfalls in einer praktischen Partie) "unklar", und nach 24.-Ld4 stand es so:
25.Sxe5? Lxe5 26.Dc1 Dh4 27.f4 gxf3 28.Tfxf3 Thg8 29.De1 Th5 30.Dg1 Txg3 0-1 ! Im Nachhinein war 15.-Dd8 ein zum Sieg führender grober Fehler. Kirill Kozionov ist übrigens Jahrgang 1998.
Einen habe ich noch - Brett 15 ganz unten in der Liveübertragung:
Bernotas - GM Ankit nach 26.-Txh4
Chaos pur - dabei zeigte sich, dass man seinen König besser hinter gegnerischen als hinter eigenen Bauern verstecken kann. Auch vor 27.Sd2?! exd2 SCHACH stand Weiss hoffnungslos verloren. Bernotas ist titellos, Lette und relativ alt (*1995), nur etwa ein Jahr jünger als sein indischer Gegner.
Die Lösungen: Fridman musste 29.Tee2 spielen, dann droht alles mögliche und Schwarz kann sich nicht mehr mit -Txe1+ entlasten. Wieder mal ein Motiv aus der Rubrik "entweder man sieht es, oder man sieht es nicht"? Kozionov konnte mit 17.Lxe5 dxe5 18.Dxg4 Dxg4 19.Sf6+ das schwarze Konzept widerlegen - das ging auch noch ab dem 18. Zug.
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