oder auch „Error rates“ im Schach
1) Die guten alten Zeiten und die Legenden...
Sicher, eben, genau, es ist ein Gedankenexperiment und man spürt schon, wie man diesem Menschen in diesem Moment unrecht tut, denn ab der Sekunde der Wiederherstellung seiner Befähigungen hätte er selbstverständlich sofort die Chance, sich dem Standard anzunähern, sein Wissen und Verständnis zu vervollständigen, nur würde uns dies eben im Wege stehen, um eine Antwort auf unsere Fragestellung zu finden. Also spinnt man weiter. Er (nein, Quotenregelung„es“ handelt sich doch um eine SIE! ) tritt an, muss seine Kräfte messen mit der aktuellen Weltelite und ihm stünden für den Moment keine weiteren Informationen zur Verfügung als jene zu seiner Zeit.
Ob es sich nun um Fußball, Tennis oder Schach handelt. Ja, die Frage interessiert, sie brennt beinahe: wie würde der Fußballweltmeister von 1970, das geheiligte Brasilien, heute in einem Duell mit einer Spitzenmannschaft, wie im Duell mit einer zweitklassigen, wie eventuell auch nur im Duell mit einer drittklassigen Mannschaft aussehen? Hätten sie überhaupt gegen einen von jenen eine Chance, würden sie gar an der Spitze mitmischen oder im Grau des tiefen Mittelmaßes versinken? Könnte man jenen Pele von 1970 direkt und bedenkenlos einwechseln in einem Bundesligaspiel, würde er der Star, Torschätze und Matchwinner werden oder würde er nach 10 Minuten bei dem heutigen Höllentempo nach dem achten Ballverlust frustriert um Auswechslung bitten? Wie würde Pete Sampras, wie Jimmy Connors, wie Martina Navratilova oder Chris Evert (der Mann denkt doch an die Quote!) aussehen in einem Grand Slam Turnier, wie ein Paul Morphy, ein Emanuel Lasker, ein Alexander Aljechin oder ein Bobby Fisher in einem heutigen Topturnier, wäre es nur möglich, sie 1 zu 1 exakt wie damals zu reinkarnieren? Man würde es gerne einmal, nur ein einziges Mal sehen können.
So bleibt es bei gerne wiederholt angestellten Spekulationen. Aber halt, man hätte doch den Artikel nicht anzubieten gehabt, wenn man nicht eventuell eine Lösung anzubieten hätte, sei es auch „nur“ für das königliche Spiel, bei welchem immerhin die damals und heute ausgeführten Züge, anders als ein Pass oder ein Torschuss oder ein Aufschlag, in der Qualität miteinander verglichen werden können?
Immerhin gibt es ja nun einmal die Schachcomputer und, wer würde es noch leugnen mögen, die nicht nur eine Maßzahl für jede Stellung anzubieten haben („ich stand schon bei +2.87 ... und habe noch verloren.“), sondern zusätzlich eine eigene Zugqualität einzubringen, bei der doch bis hin zum Weltmeister einem jeden die Knie schlottern, in welche man alsbald gezwungen wird. Also: der Computer ist anerkannt in der Lage, ein Urteil abzugeben. Falls man noch immer Zweifel hätte – und für jene gar in Ansätzen eine gewisse Berechtigung, denn, wer weiß schon, ob heute eine +2.87 in 20 Jahren noch immer eine +2.87 wäre oder womöglich längst durch ein „Matt in 32“ oder ein „+-0.00“ ersetzt wurde, da sich der Stellungsbenachteiligte doch auf wundersame Art in dem natürlich längst durchgerechneten Spiel zu retten vermag, insofern auch da keine Objektivität gegeben sein kann – so hätte man doch immerhin einen Ansatz und ein paar Zahlenergebnisse zum Vergleich, sofern man dem weiteren Vorschlag zu lauschen bereit ist.
2) Error Rates“ im Backgammon
Die Idee der „Error Rates“ stammt aus dem Backgammon. Die heutigen Programme dort haben eine ebenso anerkannte höhere Spielstärke als selbst die Elite im menschlichen Antlitz. Der Computer sagt einem sofort, was man falsch gemacht hat, sofern man die Partien, ein ganzes Match, von ihm analysieren lässt. Er bietet einem sogar die Möglichkeit, sofern man zweifelt, ein so genanntes „Rollout“ durchzuführen, bei welchem er diese Stellung – natürlich in zukünftigen Stellungen mit seinen als den besten erachteten Zügen, die er auf die Zufallswürfe (ja, dieses Spiel, das mit Würfeln, was man als Schachspieler zu hassen verpflichtet ist) hin ausführt – beispielsweise 1236 Mal auswürfelt, nur um einem dann wiederholt vor Augen zu führen (allergleich dem Schachcomputer) wie dumm man war, seinem Urteil nicht zu vertrauen. Denn: die erste Einschätzung bestätigt sich fast immer.
Eine geniale Idee wurde allerdings hinzugefügt, die sich da nennt „outplayed“. Das „outplayed“ tritt nämlich dann ein, wenn das menschliche Urteil dem des Computers überlegen war, der Computer mit seiner Überprüfung per Rollout feststellt, dass ein zuvor angekreideter Fehler gar keiner war sondern der menschliche Zug schlichtweg besser war.
Wie beurteilt er nun das gesamte Spiel eines Spielers, außer, dass er einem sagt, dieser und jener Zug waren falsch? Sicher, zunächst gibt es mal Kategorien von Fehlern. Es gibt sozusagen ganz grobe Böcke und kleinere Ungenauigkeiten. Beim Backgammon sieht es so aus, dass die Züge, miteinander verglichen, die Chancen auf den Sieg in der Partie oder auf das gesamte Match hin beeinflussen und, sofern man nicht konsequent den besten Zug macht die Siegchancen logischerweise insgesamt verschlechtern (es sei denn, das noch geboren zu werdende Genie hat den Computer permanent „outplayed“).
Sprich: eine Error Rate in jenem Spiel würde messen können, wie viele Prozentpunkte man auf den Sieg verschenkt hat. Selbst wenn der heute gehandelte und überall anerkannte Wert, den man ausgibt nicht direkt eine Prozentzahl sondern eher eine Art Gewohnheitswert darstellt. „Hast du schon gehört? Der xxx hat im Halbfinale ne schlanke 8.2 gespielt. Die spiele ich noch mit 2 Promille.“ (Man folgert: 8.2 ist im Spitzenbackgammon keine anerkannt hohe Zahl). Die absoluten Topspieler spielen im Bereich von 3.0, nur, wen es interessieren sollte. Was immer diese Zahl bedeuten würde: jeder kann sie, da vergleichbar gemacht, einstufen. 3.0 ist absolute Weltklasse. Wenn es in einem Match gelingt: Hut ab. Wenn es konstant gelingt: sofort Karriere wechseln.
3) Auf das Schach übertragen
Der einfache Vorschlag an dieser Stelle: gebt den Computerprogrammen diese einfach zu installierende Funktion mit. Welche Funktion gemeint ist? Nun gut, hier eine etwas exaktere Beschreibung dieses Gedanken:
Mit jedem Zug, den der Mensch ausführt, ausgeführt hat, hat er zwei Möglichkeiten, im Vergleich mit dem Computer: entweder, er erhält die Stellungsbewertung, da er nämlich den besten Zug gefunden hat, oder er verschlechtert sie. Das Verbessern ginge zwar auch, analog zum Backgammon, jedoch nur, wenn man die Analysestufe hochstellt bei jedem angeblichen Fehler und diesen auf der höheren (oder hieße es tieferen?) Stufe abchecken ließe. Dennoch wäre es im Schach vermutlich entschieden seltener (auch im Backgammon stellt es schon eine Ausnahme dar).
Es bliebe also dabei: man erhält die Einschätzung, von Nuancen abgesehen, oder man verschlechtert sie. Da die Stellungsbewertung nach wie vor in Bauerneinheiten vorgenommen wird (welche theoretisch in Prozentchancen auf Sieg/Remis/Niederlage zu übersetzen wären, jedoch dies eigentlich nicht erforderlich ist), bliebe das Ergebnis folgendes: wie viele Bauerneinheiten hat man im Schnitt verschenkt? Eine derartige Zahl wäre gar ein wenig plastischer als die vergleichbare Zahl aus dem Backgammon, da es dort nicht einmal diese Analogie gibt: „wie viele Bauerneinheiten pro Zug verschenkt man“ ist, worauf es hinausliefe, was die Spielstärkemaßzahl anginge.
Nun bietet zunächst ein jedes Computerprogramm diese Funktion an. No harm done oder auch: eigentlich kein Problem. Was man damit anfinge?
Zunächst einmal könnte man ja wütend werden und Fritz in die Tonne kloppen (was vermutlich die meisten längst getan haben), da nämlich jener einem eine Error Rate von 0.33 Bauerneinheiten pro Zug zur Last legt, wohingegen Rybka einen mit einer 0.28 davon kommen lässt. Gut und schön.
Andererseits könnte es sich nach und nach herauskristallisieren, wie gut man selbst wirklich in den eigenen Partie gespielt hat. Zunächst ein rein experimenteller Wert. Nach und nach würden sich die Schachfreunde untereinander austauschen, was ihre eigenen Error Rates waren, die sie in diesem oder jenem Turnier aufs Brett gebracht hätten. Man hätte zwar nur 4 aus 9 erzielt, jedoch, gegenüber dem letzten Turnier, da man 5 aus 9 hatte dieses Mal dank der Error Rate von nur 0.48 verschenkten Bauerneinheiten pro Zug gegenüber den 0.54 im Vorgängerturnier doch erkennbare Fortschritte erzielt?
Man könnte gar herausfinden, mit welcher Error Rate ein WM Match zwischen Capablanca und Lasker, eines zwischen Fisher und Spasskij oder eines zwischen Karpov und Kasparov ausgestattet war, falls man sich nicht mit Zürich 1953 im Vergleich mit Karlsbad 1909 beschäftigen möchte. Oder man hätte eine Lebensleistung von Bobby Fisher im Vergleich mit Paul Morphy, Richard Reti gegnüber Harry Nelson Pillsbury oder dem vielleicht allzeit unterschätzten Akiba Rubinstein oder eine aus eines jeden besten Jahres. Wo könnte das Problem liegen?
Noch lange ist nicht die Frage nach einer endgültigen Objektivität gestellt. Dennoch gäbe es mit Sicherheit interessante Erkenntnisse. Vielleicht noch die eigene Leistung auf Vormittag gegenüber Abend, Rundenturnieren gegenüber Mannschaftskämpfen? Es gäbe eine breite Palette von Anwendungsmöglichkeiten.
Wenn man es natürlich noch viel weiter denkt, dann könnte man gar anhand dessen richtige Ranglisten erstellen, möglich, dass die Welt eines Tages eher auf diese blickt als auf die aktuelle Elo-Rangliste, welche einzig und allein die Partieausgänge, jedoch in keinster Weise die Qualität einzelner Züge beurteilt? Möglich gar, dass man Spielerprofile anfertigen könnte: Ivantchuk spielt beispielsweise konstant auf dem höchsten Level, wie man feststellt, jedoch sind es die groben Böcke, Einsteller, Übersehen, welche in der Error Rate mächtig zu Buche schlagen und den Schnitt insgesamt verderben, da er ab und an in einem Zug 2 oder mehr Bauerneinheiten einbüßt.
Dies nur Beispiele und Ideen. Die gesicherte Vielfalt der Einwände oder auch der weiteren Anwendungen seien nun dem geneigten Leser anheim gestellt.
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