Seit wir denken können, kämpft die große Mutter FIDE für mehr Gerechtigkeit im Weltschach. Obwohl das dienstliche Wirken ihres Vorsitzenden aufgrund nächtlicher Weltraumspaziergänge mitunter leidet, halten ihre führenden Vertreter das Heft in der Hand und absorbieren erfolgreich jegliche schachpolitische Opposition. Auch harsche Bemerkungen von SF Garry Kasparov konnten daran bislang nichts ändern - und wie mein verehrter Chef Jörg Hickl jüngst andeutete, scheint auch für die anstehende FIDE-Wahl schon wieder alles in guten Bahnen zu laufen. Da gratulieren wir doch schon einmal! Die FIDE hat es drauf, und Ordnung muss sein.
In den letzten schönen Jahren hat unser Weltschachverband nicht nur neue Regeln und die Karenzzeit bei Partiebeginn abgeschafft, auch lustige Zwangsbeiträge für alle möglichen Turniere und Lizenzen wurden eingeführt. Im Namen des Fortschritts war das scheinbar so unerlässlich wie das Verlegen zahlreicher offizieller Meisterschaften in die romantischen Landschaften Sibiriens.
Zahlreiche starke Turniere haben uns die Fauna Sibiriens nahegebracht.
Lobenswerterweise und so wie wir es ohnehin erwartet haben, hält sich auch der Norwegische Schachverband an die Regularien des Weltschachs. Norwegen ist im August Ausrichter der Schach-Olympiade in Tromsö, und groß war das Erstaunen zwischen Oslo, Bergen und Hammerfest, als man merkte, dass zum Meldeschluss am 01.Juni für das Turnier noch keine Mannschafts-Aufstellung des russischen Damenteams eingetroffen war. Nun könnte man meinen, na gut, das ist ja nicht weiter schlimm und vielleicht hatten die russischen Damen ja auch einfach keine Lust auf die helle norwegische Mitternachtssonne - doch das wäre überraschend, denn die Russinen sind ehrenvolle Titelverteidiger, amtierende Olympiasieger, eines der besten Teams der Welt - nur hatten sie eben nicht wie gefordert rechtzeitig eine Aufstellung geschickt.
Offenbar war das internen Abläufen geschuldet, bedingt durch den bis Anfang Juni noch nicht ganz absolvierten Wechsel der ukrainischen Spitzenspielerin Kataryna Lahno zur russischen Föderation. Kaum war dieser Transfer im Juli perfekt, depeschierte der russische Verband seine durch Lahno nunmehr rasant verstärkte Team-Aufstellung an die Ausrichter - doch wie gesagt, zu spät, zu spät, vier Wochen zu spät! Die russischen Offiziellen sahen darin zwar kaum ein Problem, die Norweger indes mochten da nicht so recht mitwirken und verwehrten den russischen Damen den olympischen Startplatz:
"Of course, we can understand the embarrassment it can create when a significant and powerful federation like RCF (Russian Chess Federation - M.K.) does not submit a team within the deadline. Still, we as Organizers have a duty to treat all federations alike." (Quelle: www.chess.com)
("Natürlich verstehen wir, dass es unangenehm ist, wenn ein bedeutender und mächtiger Schachverband wie der Russische kein Team innerhalb der Frist anmeldet. Jedoch haben wir als Organisatoren die Verpflichtung, alle Verbände gleich zu behalten.")
War das nun ein Skandal, oder einfach nur eine schnöde, aber korrekte Regelauslegung der Ausrichter? Auf den ersten Blick erscheinen die norwegischen Motive ehrenvoll. Allerdings, im FIDE-Handbuch für Schach-Olympiaden (ja, so etwas gibt es) findet sich im Abschnitt 3.7.1 lediglich die Vorgabe, dass zwei Monate vor Turnierbeginn die SpielerInnen für jedes Team gemeldet werden müssen. Für Verspätungen sind offenbar dezente Strafgelder vorgesehen - und dass ein bereits gemeldetes Team disqualifiziert werden darf, nur weil es die Spielernamen nicht rechtzeitig schickt, erscheint vor diesem Hintergrund zumindest fragwürdig.
Nach der Bekanntgabe der russischen Nicht-Berücksichtigung für das Turnier dauerte es daher nicht lange, und schon schrieb Weltraumspaziergänger Kirsan Ilyumshinov einen Brief an die bockenden Auenländer Norweger mit der Maßgabe, man möge die russischen Damen doch bitte trotz ihres Anmelde-Fauxpas mitspielen lassen.
Ilyumshinov argumentiert, dass die FIDE selbst (!) die Teilnahme der Russinnen schon vor Wochen avisiert hatte, und dass die norwegischen Veranstalter daraufhin eine Rechnung über die Anmeldegebühr nach Russland gesendet hätten, die auch umgehend beglichen wurde. Der Weltverband sieht die Anmeldung dadurch vollständig erfüllt, pocht auf seine Richtlinienkompetenz und will das russische Damen-Team im Teilnehmerfeld sehen. Von einem verspäteten Zusenden des Team-Aufstellung, um den es hier ja eigentlich geht, ist in dem Brief allerdings nicht die Rede.
So ist sie, die FIDE - niemand wird vor der Tür stehengelassen, alle dürfen mitspielen, und überhaupt - man wählt die sportliche Lösung. Haben am Ende die Norweger die Regeln mit böser Absicht überzogen ausgelegt? Der Weltverband wähnt hinter der gesamten Geschichte offenbar eine schachpolitisch motivierte Aktion, sozusagen eine Art passiv-agressives Störfeuer vor den kommenden Wahlen, bei der auch Garry Kasparov für das Präsidentenamt kandidiert.
Ist das nun Gemauschel und Bevorzugung eines großen Landes, oder wurde hier ganz zu Recht die russische Anmeldung noch gelten gelassen? Auch andere Länder, die für Norwegen nicht rechtzeitig und formvollendet meldeten, haben von der FIDE noch eine Wildcard bekommen - ebenso wie Russland erhielten auch Afghanistan, Gabon und Pakistan durch Ilyumshinovs Brief noch eine Ausnahme-Startgenehmigung. Und vielleicht darf ja sogar Kataryna Lahno nun in Tromsö mit ans Brett gehen, auch wenn ihre Meldung vielleicht einen Hauch zu spät erfolgt ist.
Nur wenn wir regulären Schachspieler es nicht rechtzeitig zum Partiebeginn in den Turniersaal schaffen, gibt es nach wie vor keine Karenz. Doch vielleicht hilft ja auch dann ab jetzt ein kurzer Brief von der FIDE.
Noch wissen wir nicht, was Lasker dazu gesagt hätte
Kommentare
Ein totalitäres Regelwerk ist idealerweise immer so gemacht, dass man es selbst in der Hand hat, wann streng ausgelegt wird (zB Nulltoleranzkontumanz Bindrich) und wann man Milde walten lassen kann (keine Nulltoleranzanwendung beim gleichen Turnier) ohne dass da irgendein Schiedsrichter alt aussehen würde
Die Regelungen müssen so gemacht werden, dass man - am Ende der Gottpräse selbst - vollkommen willkürlich entscheiden kann und man dennoch auf exaktes Einhalten der Regeln verweisen kann!
Ja das müssen wir Demokraten noch lernen, aber wer soll in einer Demokratie die Rolle des Gottpräse übernehmen??
https://chess24.com/de/olympiad2014/news/organisers-stand-by-case-but-allow-teams-to-play
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