Georg Siegel - Nachruf

Georg - der Meister der Leichtigkeit
Georg Siegel, der vor kurzem durch einen Unfall an der Dreisam tragisch verstarb,  war nach meinem Empfinden ein Wanderer zwischen den Welten – nie wusste man genau ob er sich auf dieser materiellen Welt wähnte oder bereits in einer höheren Ebene weilte. Die Leichtigkeit, mit der er das Leben nahm, war für Normalsterbliche manchmal unerträglich – und zwar sowohl im Schach, als auch im Leben. Was ich damit meine: im Schach konnte er seine Gegner zur Verzweiflung bringen durch scheinbar mühelos herausgespielte Siege. Im Leben konnte er auf Sicherheit bedachte Menschen zumindest sehr nachdenklich machen, da ihm eine bürgerliche Existenz völlig gleichgültig schien. Aber dies geht noch einen Schritt weiter: fast jedes Spiel, das er lernte, beherrschte er meisterlich, scheinbar wieder ohne sich groß anstrengen zu müssen. Diese unerklärliche Leichtigkeit des Seins: auf einer geistigen oder emotionalen Ebene schien ihm der Erfolg nur so zuzufliegen, nur nicht der materielle Erfolg, den er aber wohl auch nie wirklich anstrebte. Natürlich hatte ich auch von seiner schweren psychischen Erkrankung gehört, die ihn wohl auch sehr bittere Momente durchleben ließ. Allein, auf diesem Weg kann man einem Menschen nicht folgen, sondern muss die Verzweiflung selbst durchlebt haben, um sie voll zu verstehen.
Menschlich habe ich Georg immer sehr geschätzt, aber auch gemerkt, dass wir auf ganz verschiedenen Wellenlängen lagen. Ich denke mir oft, wenn ich in Freiburg und nicht in München gelebt hätte, dann hätten wir sicher zusammen viel Zeit verbracht und viel miteinander gespielt, und ich hätte mich wohl auch noch mehr für Spiele wie GO oder Bridge interessiert, die er offensichtlich mit gleicher Leidenschaft betrieb wie Schach. Ich fragte ihn einmal wieso das so sei, und er meinte, dass ihn Schach allein nicht ausfülle. Bei mir war es immer anders herum – die Liebe für Schach ist in meinem Herzen so groß, dass für andere Spiele wenig Platz bleibt.
Georgs schachlich beste Zeit fällt in die 90er Jahre, im Jahr 1994 wurde er zum Internationalen Meister ernannt. – da war er aber schon Anfang 30, und es war eigentlich zu spät, um noch Großmeister zu werden, was mit Sicherheit immer sein Ziel war. Andererseits hatte er zeitweise auch über 2500 Elo, was sein Ausnahmetalent belegt. Ich lernte Georg kennen, als er Mitte der 80er Jahre für die Schachabteilung des FC Bayern in der Bundesliga tätig war, leider nur eine kurze Zeit, weil er aufgrund privater Probleme die Mannschaft verlassen musste. Ich habe dies immer bedauert, aber andererseits konnte er so wieder seinen Heimatverein Zähringen verstärken, der damals eine feste Größe in der Bundesliga war. In den letzten Jahren war Georg schachlich nicht mehr so aktiv, und ist daher leider in unserer schnellebigen Schwachwelt ein bisschen in Vergessenheit geraten. Dabei hat er am Schachbrett doch wahre Kunstwerke geschaffen! Nach ein bisschen Recherche auf Chessbase fand ich folgendes Kunstwerk, das seine sterbliche Existenz hoffentlich überdauern wird:

Siegel,Georg (2480) - Christiansen,Larry (2590)

Bundesliga 1995

1.d4 d5 2.c4 c6 3.Sf3 Sf6 4.Sc3 a6 5.c5 g6 6.Lf4 Sbd7 7.h3 Se4 Vielleicht legt Larry mit diesem Zug bereits das Fundament für seine späteren Schwierigkeiten. 8.e3 Lg7  

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9.Le2!? Eine interessante und auch ein bisschen überaschende Neuerung. Alle Vorgänger griffen hier zu 9.Sxe4 dxe4 10.Sg5, doch nach  10...e5 11.dxe5 Da5+ 12.Dd2 Dxd2+ 13.Kxd2 Sxc5! gleicht Schwarz aus. 9...0–0 10.0–0 Sxc3 11.bxc3 Da5 Die schwarze Dame begibt sich auf Abwege. Stärker ist vielleicht 11...e5 12.Lh2 Te8, doch Weiß steht in jedem Fall besser. 12.c4 dxc4?! Besser 12...e5 13.Lg3 exd4 14.exd4 Sf6, denn wenn der weiße Läufer erst einmal auf c4 steht, ist die Partie für Schwarz kaum noch zu retten. 13.Lxc4 e5 14.Lh2 b6 Oder 14...exd4 15.exd4 Sf6 16.Db3 15.Sg5 exd4 Die Alternative 15...bxc5 16.Sxf7 Sb6 17.Sxe5+ Sxc4 18.Sxc4 ist auch nicht gerade prickelnd.

 
siegel2a

16.Lxf7+! Ein Angebot, das Larry wegen Db3 schlecht annehmen kann. 16...Kh8 17.Ld6 Die schwarze Stellung liegt bereits in Trümmern. 17...dxe3 Ich denke, die letzte Verteidigungschance bestand in 17...bxc5 18.Lxf8 Sxf8 19.Lc4 h6 20.Sf7+ Kh7, auch wenn der weiße Vorteil unbestreitbar bleibt. 18.fxe3 Dc3 19.De2 Spätestens nach diesem stillen Zug ist die schwarze Stellung nicht mehr zu retten. 19...bxc5 19...Sxc5 20.Lxf8 Lxf8 21.Lxg6 20.Tac1 Da3 21.Lb3 h6 21...Tf5 22.Dc4 Sf6 23.Txf5 Lxf5 24.Dg8+ 22.Lxf8 1–0 Aufgegeben wegen der tödlichen Drohung Dc4. Man beachte, dass Georg in nur 22 Zügen mit unglaublicher Leichtigkeit einen zu dieser Zeit gefürchteten 2600er Großmeister bezwang! Mir gelang dies nicht ein einziges Mal. Das meine ich eben mit der Leichtigkeit...

Zum Abschluss möchte ich den Nachruf von Georgs langjährigen Mannschaftskameraden Christian Maier zitieren, der noch viele weitere interessante Informationen enthält.


Freiburg trauert um sein größtes Schachtalent

Georg Siegel wuchs als eines von sechs Kindern in Freiburg Haslach auf. Mit nur 11 Jahren trat er dem Schachklub Freiburg-West bei, in der damaligen Zeit ein ungewöhnlich junges Alter. Schon ein Jahr später erlegte der schmächtige, etwas blasse Junge seine erwachsenen Gegner reihenweise beim Blitz- und Turnierschach, sodass er schon in der darauffolgenden Saison 1975/76, dann 13-jährig, der Verbandsliga-Mannschaft angehörte. Zu dieser Zeit spielte er noch in einer anderen Sportart äußerst erfolgreich bei den Erwachsenen - im Tischtennis!
"Georgie", wie sie ihn bald alle nannten, war wissbegierig, selbstbewusst und mit einem gerüttelt Maß Frechheit (er duzte die meisten Erwachsenen im Verein schon mit 12) und Killerinstinkt versehen. Er hatte eine unglaublich schnelle Auffassungsgabe, ließ sich leicht für alles Neue begeistern und erreichte bei jedem neu erlernten Spiel schnell Meisterstärke, ob das im Skat, Backgammon, Doppelkopf, Bridge oder Go war, spielte keine Rolle. Seine Spielanlage war tief, aber er war auch immer bereit, ein gewisses Risiko einzugehen, und in vermeintlich ausweglosen Situationen entpuppte er sich als besonders erfinderisch und drehte so manche verloren geglaubte Partie im letzten Moment.
Nach dem Erringen des Badischen Jugendmeistertitels gelang Georg Siegel 1980 im Schach der große Durchbruch: In Saarbrücken wurde er überraschend Deutscher Jugendmeister, vor zahlreichen späteren Großmeistern. Im selben Jahr erzielte er am fünften Brett des gerade in die einteilige Bundesliga aufgestiegenen SK Zähringen mit 10 Punkten aus 15 Partien das beste Ergebnis und hatte damit großen Anteil am sensationellen 8. Platz der Freiburger. Auch in den folgenden Jahren und nach seiner Rückkehr zu Zähringen in den 90er Jahren, war er eine wichtige Stütze für die Bundesliga-Mannschaft.
Dank des Erfolges bei der Juniorenmeisterschaft und seines ungemeinen Talents wurde er vom Deutschen Schachbund (DSB) stark gefördert, er nahm 1981 erfolgreich an den Jugend-Europameisterschaften in Groningen und an den Weltmeisterschaften in Mexico City teil. Dort gelang es ihm auch, den inoffiziellen Titel des Jugend-Blitzschach-Weltmeisters zu erlangen, als er das Blitzturnier aller Teilnehmer gewann. Der DSB schickte Georg zu zahlreichen weiteren Einladungsturnieren, u.a. nach Kuba. Durch seine Erfolge zog er naturgemäß auch das Interesse anderer deutscher Bundesliga-Vereine auf sich, so spielte er einige Jahre für die Schachabteilung des FC Bayern München, mit dem er in der Saison 1984/85 auch Deutscher Mannschaftsmeister wurde.
Bereits im Sommer 1982, gerade 20 geworden, wurde sein steiler Aufstieg im Schach unterbrochen durch eine plötzlich einsetzende und ihm dann über die Jahre immer wieder zusetzende psychische Erkrankung, die er nur widerwillig ertrug, setzten doch die Medikamente seine Leistungsfähigkeit stark herab. Sie hinderten ihn letztlich auch daran, in einem "richtigen" Beruf Fuß zu fassen.
Dennoch gab es immer lange positive gesündere Phasen, die es Georg ermöglichten, über viele Jahre schachlich sehr erfolgreich zu sein. 1994 wurde Georg Siegel der Titel eines Internationalen Schachmeisters verliehen, und im Jahr darauf gewann er überlegen die deutsche Schnellschachmeisterschaft in Essen. Den Höhepunkt seiner Karriere erreichte er dann auch zu Beginn der zweiten Hälfte der 90er Jahre, als er einige Turniere gewann (das wichtigste im Dezember 1996 in Zürich), auf zahlreichen Deutschen Meisterschaften auftrat, mehrfach Badischer Blitzschachmeister wurde und seine Elo-Zahl eine Höhe von 2540 erreichte, womit er damals im Deutschland nach der Wende zu den 15 - 20 besten Schachspielern gehörte.
Georg war über Jahre Mitglied in vielen Vereinen der Region, auch in Frankreich und in der Schweiz; zuletzt spielte er wieder für den SK Freiburg-Zähringen, der ihm über viele Jahre als Schach-Heimat diente. Neben den Schachvereinen frequentierte er auch die regionalen Bridge-, Go- und Backgammonvereine und war dort ein respektierter Gegner und Partner.
In den letzten Jahren konnte man eine Verschlimmerung der Krankheit beobachten, die sich u.a. auch durch eine zunehmende Zerstreutheit und Gleichgültigkeit, zuweilen auch Gereiztheit ausdrückte - was war wirklich noch wichtig für Georg? Sein abrupter Abtritt von der Lebensbühne mit gerade 48 Jahren kann auch eine Erlösung für ihn sein und passt irgendwie zu "Georgie", ein Dahinströmen mit unbekanntem Ziel.
Die Schachgemeinde Freiburgs und ganz Deutschlands trauert um eines seiner größten Talente, einen guten Freund und lieben Menschen, und spricht seiner Familie ihr tiefstes Mitgefühl aus.

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