Hängende Bauern

by Markus Ehrlacher und Sönke Stiemer on17. Januar 2011
Diagramm 1 Bauernstruktur Diagramm 1 Bauernstruktur
Während der Schachreise Lanzarote wurden von den Teilnehmern Referate zu wichtigen Schachthemen angefertigt. Besonders gut gefiel dabei die Arbeit von Markus Ehrlacher (Elo 1928) und Sönke Stiemer (Elo 2048) zu der komplexen Struktur der "Hängenden Bauern" (JH):.

Definition der "Hängenden Bauern":
Das alleinstehende Bauernpaar c4/d4 (seltener e4 und f4) auf halboffenen Zentrallinien bezeichnet man als hängende Bauern (siehe Diagramm Nr. 1). Diese Struktur ist besonders wichtig, da sie aus zahlreichen Eröffnungssystemen und für beide Farben entstehen kann (beispielsweise Nimzowitschindisch, Semislawisch, Damengambit). Die Partei mit den hängenden Bauern hat Raumvorteil und die hängenden Bauern üben eine starke Kontrolle auf das Zentrum aus. Im Beispiel kontrollieren die beiden Bauern auf d4 und c4 die wichtigen Felder b5, c5, d5 und e5. In der Stellung sind die möglichen Bauernvorstöße c5 oder d5 von entscheidender Bedeutung und es ist daher wichtig unter welchen Voraussetzungen ein Bauernvorstoß erfolgt. Es müssen stets mögliche Übergänge in andere Strukturen (Isolani, Freibauer, rückständiger Bauer) beachtet werden. Nachfolgend wollen wir die Pläne und Motive für beide Seiten grob skizzieren. In der Stellung in Diagramm 1 spielt Weiß mit den hängenden Bauern auf c4 und d4.

Stellungsmerkmale:

- Raumvorteil für Weiß
- Starke zentrale Kontrolle des Anziehenden
- Drohende Bauernvorstöße (c5 oder d5, ggf. auch verbunden mit einem Bauernopfer)

Pläne und Motive aus weißer Sicht:

Der Raumvorteil und die starke Zentrumskontrolle ermöglichen es Weiß seine Figuren aktiv zu positionieren. Aufgrund des Raumvorteils sollte Weiß Figurentausch in der Regel meiden, da sein Vorteil in der Dynamik der Stellung liegt. Häufig werden die beiden Läufer auf die Diagonalen a1 - h8 und b1 - h7 gestellt, wo sie ihre Wirkung in Richtung der gegnerischen Rochadestellung entfalten. Um die lange Diagonale a1 - h8 nicht zu verstellen, wird der Springer b1 oftmals nach d2 entwickelt, wo er auch den Bauern c4 überdeckt. Der Königsspringer deckt von f3 den Bauern auf d4 und hat die Option das Vorpostenfeld e5 zu besetzen. Von großer Wichtigkeit ist es für den Anziehenden im richtigen Moment einen der hängenden Bauern vorzustoßen. In der genannten Leichtfigurenkonstellation würde beispielsweise der Bauernvorstoß nach d5 die lange Diagonale öffnen, welches taktische Möglichkeiten am Königsflügel bieten kann. Diese Vorgehensweise wird in der ersten Beispielpartie Gligoric - Keres, Zagreb 1958 sehr schön illustriert:

Pläne und Motive aus schwarzer Sicht:

Aufgrund des weißen Raumvorteils und dessen Zentrumskontrolle befindet sich Schwarz in der Defensive. Analog einer Isolanistruktur versucht der Nachziehende durch Figurentausch das Angriffspotential des Gegners zu reduzieren. Die schutzbedürftigen hängenden Bauern werden auf den halboffenen Linien und einer entsprechenden Aufstellung der Leichtfiguren angegriffen. Eine typische Umgruppierung wäre beispielsweise eine Überführung eines Springers auf f6 über e8 nach d6, ggf. auch nach f5. Der schwarzfeldrige Läufer wird nach g7 oder das freigewordenen Feld f6 überführt. Die Läufer auf den langen Diagonalen (der weißfeldrige Läufer analog auf b7) erhöhen den Druck gegen die hängenden Bauern. Durch die Belagerung der hängenden Bauern soll ein Vorstoß unter für den Weißen ungünstigen Umständen provoziert bzw. erzwungen werden, wobei Schwarz häufig auch das Zentrum mit dem Bauernzug e5, seltener b5, angreift. Hierbei können Übergänge in Strukturen mit einem Isolani oder einem rückständigen Bauern erreicht werden. Ein Beispiel für eine erfolgreiche Strategie gegen die hängenden schwarzen Bauern demonstriert der Anziehende in der zweiten Beispielpartie Kortschnoj - Geller, Moskau 1971:

Fazit:
Durch das große Ungleichgewicht und den möglichen Übergängen in andere Strukturen (Isolani, Freibauer, rückständiger Bauer) sind die Stellungen mit hängenden Bauern sehr komplex. Die richtige Positionierung der Figuren und der Zeitpunkt des Bauernvorstoßes sind von entscheidender Bedeutung. Der Spieler mit den hängenden Bauern muss die Dynamik der Stellung nutzen und aktiv spielen, meist in Verbindung mit einem Königsangriff. Sollte ihm dies nicht gelingen hat der Gegner gute Chancen auf Vorteil, da die hängenden Bauern nach Figurentausch und/oder einem möglichen Übergang in die genannten anderen Strukturen schwach werden können.


Beispielpartien

Gligoric, Svetozar - Keres, Paul [E43]

UdSSR-JUG Zagreb (2), 1958

1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4 4.e3 c5 5.Ld3 b6 6.Sf3 Lb7 7.0–0 0–0 8.Ld2 cxd4 9.exd4 d5 10.cxd5 Lxc3 11.bxc3 Dxd5 12.c4 Dd6
 

dia2

Aus der Rubinsteinvariante der Nimzowitschindischen Verteidigung ist eine Stellung mit den "hängenden Bauern" entstanden. 13.Lc3 Sbd7 14.Te1 Tac8 15.h3 Tfd8 16.Te3 Weiß hat seine Läufer auf den Diagonalen in Richtung schwarzer Rochadestellung in Position gebracht und der Bauernvorstoß d5 kündigt sich bereits an. Der Turm auf e3 ist bereit sich mit einem Schwenk auf der dritten Reihe am Königsangriff zu beteiligen und deckt auch indirekt den Läufer auf c3. 16...Sh5? Der Springer steht hier sehr exponiert und erlaubt taktische Motive. Vorzuziehen war 16. ... h6 17.d5!±

dia3

Der typische Bauernvorstoß öffnet die lange Diagonale und die Aussicht auf einen Königsangriff bietet dem Weißen deutlichen Vorteil. 17...Sc5 [Die Varianten nach dem Zurückschlagen veranschaulichen die Dynamik der Stellung und die taktischen Möglichkeiten für Weiß. 17...exd5 18.Lxh7+! Kxh7 19.Sg5+ Kg8 (19...Kg6 20.Sxf7! Kxf7 21.Dxh5+ Kg8 (21...Dg6? 22.Te7+) 22.Lxg7! Kxg7 23.Tae1 mit der Drohung Te7+ und weißem Gewinn.) 20.Dxh5 Dg6 21.Dxg6 fxg6 22.Te7 d4 23.Lxd4 Sf6 24.Lxf6 gxf6 25.Txb7 fxg5 26.Txa7±] 18.Sg5 g6 [18...Sxd3? 19.Dxh5] 19.Le2 Sg7 [19...Sf4? 20.Dd4+-; 19...exd5 20.Dd4 (20.Lxh5? d4!) 20...f6 21.Lxh5 gxh5 22.Tg3] 20.Dd4 Df8 21.Dh4 h5 22.Lg4! f5 23.Sxe6 Sgxe6 24.dxe6 Te8 [24...fxg4 25.e7+-] 25.Lxh5!+- Dh6 [25...gxh5 26.Dg5+ Kh7 27.Dxh5+ Dh6 28.Df7++-; 25...Txe6 26.Lxg6 Txg6 27.Dh8+ Kf7 28.Dh7+ Tg7 29.Lxg7 Dxg7 30.Te7++-] 26.Df6 f4 27.Df7# 1–0

Zum Nachspielen am Bildschirm:

Kortschnoi, Viktor (2660) - Geller, Efim (2630) [D58]

Kandidatenturnier Moskau (5), 1971

1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 Le7 4.Sf3 Sf6 5.Lg5 0–0 6.e3 h6 7.Lh4 b6 8.Le2 Lb7 9.Lxf6 Lxf6 10.cxd5 exd5 11.0–0 De7 12.Db3 Td8 13.Tad1 c5 14.dxc5 Lxc3 15.Dxc3 bxc5

dia4

In dieser Partie spielte Schwarz im klassischen Damengambit die Tartakower-Variante und hat nun die "hängenden Bauern" auf c5 und d5. 16.Tc1 Sd7 17.Tc2 Tab8 18.b3 De6 19.Td1 Db6

dia5

Weiß setzt die hängenden Bauern mit den Schwerfiguren auf den halboffenen Linien unter Druck und die Bauern auf b3 und e3 kontrollieren die Felder vor den hängenden Bauern. Nun gruppiert Kortschnoj anschaulich seine Leichtfiguren um, welches zur Eroberung eines Bauern führt. 20.Se1 Der Springer strebt nach d3 um den Bauern c5 anzugreifen. Des Weiteren eröffnet der Springerzug dem Läufer neue Einsatzmöglichkeiten. 20...Tbc8 21.Lg4 Der Läufer attackiert und fesselt einen Verteidiger des Bauern c5. 21...Dg6 [21...c4 Dieser Bauernvorstoß bzw. die Alternative 22...d4 (siehe unten) führt zu Figurentausch und einer schwarzen Bauernschwäche mit jeweils großem weißen Vorteil. 22.Lxd7 Txd7 (22...cxb3 23.Dxb3 Txc2 24.Sxc2 Dxb3 25.axb3 Txd7 26.Sd4±) 23.bxc4 Txc4 24.Db3] 22.Lh3 Tc7 [22...d4 23.exd4 cxd4 24.Dd2 Txc2 25.Dxc2 Dxc2 26.Sxc2 Sc5 27.Txd4±] 23.Sd3 Sf6 [23...La6 24.Sf4±] 24.Da5 Se8 25.Txc5 Txc5 26.Dxc5 1–0


Zum Nachspielen am Bildschirm:

Weiterführende Literatur:

Die Macht der Bauern, GM Hickl/IM Zude/ Schupp, 2008 (Arbeitsmaterial zur Referaterstellung)
Die Kunst der Bauernführung, Hans Kmoch 1956

(2) Kortschnoj,Viktor (2660) - Geller,Efim P (2630) [D58]

Candidates qf2 Moscow (5), 1971

[Sönke Stiemer und Markus Ehrlacher]

1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 Le7 4.Sf3 Sf6 5.Lg5 0–0 6.e3 h6 7.Lh4 b6 8.Le2 Lb7 9.Lxf6 Lxf6 10.cxd5 exd5 11.0–0 De7 12.Db3 Td8 13.Tad1 c5 14.dxc5 Lxc3 15.Dxc3 bxc5 Diagramm {4}In dieser Partie spielte Schwarz im klassischen Damengambit die Tartakower-Variante und hat nun die "hängenden Bauern" auf c5 und d5. 16.Tc1 Sd7 17.Tc2 Tab8 18.b3 De6 19.Td1 Db6 Diagramm {5}Weiß setzt die hängenden Bauern mit den Schwerfiguren auf den halboffenen Linien unter Druck und die Bauern auf b3 und e3 kontrollieren die Felder vor den hängenden Bauern. Nun gruppiert Kortschnoj anschaulich seine Leichtfiguren um, welches zur Eroberung eines Bauern führt. 20.Se1 Der Springer strebt nach d3 um den Bauern c5 anzugreifen. Des Weiteren eröffnet der Springerzug dem Läufer neue Einsatzmöglichkeiten. 20...Tbc8 21.Lg4 Der Läufer attackiert und fesselt einen Verteidiger des Bauern c5. 21...Dg6 [21...c4 Dieser Bauernvorstoß bzw. die Alternative 22...d4 (siehe unten) führt zu Figurentausch und einer schwarzen Bauernschwäche mit jeweils großem weißen Vorteil. 22.Lxd7 Txd7 (22...cxb3 23.Dxb3 Txc2 24.Sxc2 Dxb3 25.axb3 Txd7 26.Sd4±) 23.bxc4 Txc4 24.Db3] 22.Lh3 Tc7 [22...d4 23.exd4 cxd4 24.Dd2 Txc2 25.Dxc2 Dxc2 26.Sxc2 Sc5 27.Txd4±] 23.Sd3 Sf6 [23...La6 24.Sf4±] 24.Da5 Se8 25.Txc5 Txc5 26.Dxc5 1–0

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