Jimmy Adams: Johannes Zuckertort, Artist of the Chessboard

Wer kennt von den heutigen Vereinsspielern noch Zukertort? Das wäre mal eine Umfrage wert. Vorstellbar, dass die junge Generation dahinter nicht viel mehr als eine dergestaltige Delikatesse vermuten würde:

Toertchen

In die Schachgeschichte ging Johannes Hermann Zukertort vor allem als tragische Figur ein: als Verlierer des ersten offiziellen Weltmeisterschaftskampfes, der im Jahre 1886 in drei Städten der USA ausgetragen wurde, und aus dem Wilhelm Steinitz als Sieger hervorging. Mit dem Wettkampf verlor der Unterlegene nicht nur ein Spiel, die menschliche Katastrophe folgte auf dem Fuße: finanziell litt Zukertort stark unter der Niederlage. Heutzutage erhält auch der Verlierer eines WM-Kampfes eine ausgezeichnete Entschädigung, mit der sich ein angenehmer Lebensabend bestreiten lässt. Damals strich nur der Sieger ein sattes Geldpolster ein. Die Kontrahenten in einem Zweikampf mussten ihren Einsatz entrichten, jede Seite hatte ihre Stakeholders, Mäzene und Geldgeber, die auf ihren Sieg wetteten. Der Wettkampf zog sich wochenlang hin, Zukertort, der in London lebte, musste übers Meer nach Amerika, wieder zurück – kurzum, er ging leer aus. Zudem war seine Gesundheit ruiniert, sein Selbstvertrauen erlitt einen irreparablen Schaden, er fand nicht mehr zu alter Stärke zurück. Zwei Jahre nach dem WM-Kampf starb er – an einem Schlaganfall, einer Herzschwäche, mutmaßlich gar an „gebrochenem Herzen“ (Broken-heart-syndrom ist in der Medizin ein anerkannte Krankheit: emotionaler Stress lässt die Herzgefäße verengen).

Durchaus plausibel, zu behaupten, dass die Niederlage Zukertort in letzter Konsequenz das Leben gekostet hat. Als er starb, war er gerade mal 45…

Abgesehen von dieser tragischen Note ist vieles im Leben Zukertorts von Mythen und Legenden umrankt. Er selbst hat sicherlich dazu beigetragen, dass „Wunderdinge“ über ihn in den Umlauf kamen. So soll er etliche Sprachen fließend gesprochen, mehrere Uni-Abschlüsse gehabt haben. Selbstverständlich auch den Doktortitel in Medizin, anscheinend hätte er sich sogar in mehreren Kriegen (1866 und 1870) ausgezeichnet und diverse Tapferkeitsmedaillen eingeheimst. Und so nebenbei sei er auch noch Klaviervirtuose usw. usw. gewesen…

Schaut man mal kritisch und genauer hin, was vor allem die polnischen Historiker Tomasz Lissowski und Cezary W. Doma?ski in ihrer Zukertort-Biographie Arcymistrz z Lublina  2002 taten, bleibt nicht viel von all dem übrig. Zukertort hat zwar in Breslau Medizin studiert, aber das Studium nie abgeschlossen, schon gar nicht mit einem Doktortitel. Auch seine Kriegsabenteuer in bestem Münchhausen-Stile waren geflunkert, höchstens als Helfer in der medizinischen Abteilung war er eventuell im Einsatz.

Offenbar warb der Pole im Londoner Exil für seine Sache, versuchte er, Gönner für sich einzunehmen.  Unbestritten musste er über ausreichend Witz, Charisma und Esprit verfügt haben, denn es gelang ihm tatsächlich, in England populär und geschätzt sowie in elitäre Schachzirkel aufgenommen zu werden. Zunächst noch ein paar weitere biographische Daten: in Breslau verlor sich der Student unwiderruflich ans Schach. Hier residierte Adolf Anderssen, der vielleicht der damals stärkste Spieler der Welt, zumindest der mit dem renommiertesten Namen, nachdem sich Morphy vom Schach zurückgezogen hatte. Zukertort wurde Schüler, dann Sparringspartner des großen Deutschen, wechselte unzählige Partien und Wettkämpfe mit ihm. 1867 ging Zukertort nach Berlin, wo er Redakteur der Neuen Berliner Schachzeitung wurde, 1872 dann entschloss er sich zum Umzug nach London, wo er sich ein besseres Auskommen als Schachprofi erhoffte. In der Londoner Zeit nahm seine Spielstärke auch kontinuierlich zu, er wurde zu einem der besten Spieler der Welt. Höhepunkt seiner Karriere war London 1883, wo er die gesamte Konkurrenz einschließlich Steinitz deutlich distanzierte. Erst gegen Ende des langen Turnieres, als er bereits als Sieger feststand, verlor er noch ein paar Partien, wodurch sein Vorsprung auf nur(!) drei Punkte vor Steinitz schmolz.

Die Schachöffentlichkeit betrachtete ihn danach als weltbesten Spieler, was den der eitle Steinitz nicht auf sich beruhen lassen konnte. Fast drei Jahre dauerte es schließlich, bis die Modalitäten für ein großes Match geklärt waren. Zukertort wollte in London spielen, Steinitz in seiner neuen Heimat USA. Schließlich fügte sich Zukertort in ein Match in Übersee, sicher ein psychologischer Vorteil für den fünf Jahre älteren Steinitz.  Zwar ging Zukertort rasch in Führung, verlor aber dann zusehends die Geduld. Er neigte zum schnellen, impulsiven Ziehen – sein Gegner verbrauchte oft doppelt so viel Bedenkzeit -, was ihm mehrere Partien kostete. Nach einer Berechnung, die von Johannes Minckwitz angestellt wurde, betrug der gesamte Bedenkzeitverbrauch während des Wettkampfes 48:27 Stunden für Steinitz, dagegen nur 31:39 Stunden für Zukertort!

Der nervlichen Belastung eines wochenlangen Ringens im WM-Zweikampf zeigte sich Steinitz letztlich besser gewachsen.

Soviel zur „Geschichte“, kommen wir zum Buch: Jimmy Adams hat in seiner Fleißarbeit so ziemlich alles zusammengetragen, was über Zukertort publiziert wurde: vor allem seine Partien, die machen den weitaus größten Teil der über 500 Seiten dicken Biographie aus. Adams selbst analysiert nicht, nimmt keine Stellung dazu. Er hat die Anmerkungen zu den Partien aus zeitgenössischen Quellen entnommen, mühselig zusammengetragen. Zukertort im Spiegel der damaligen (Schach-) Presse wird so erlebbar. Der andere Teil des Buches besteht aus Artikeln, die über Zukertort geschrieben wurden. Größtenteils sind dies unmittelbare Nachrufe auf seinen frühen Tod, einiges ist erst später, mit gewisser Distanz, geschrieben worden. In diesem Zusammenhang will ich auf eine Schwäche des Buches hinweisen: es fehlen erläuternde Hintergrundinformationen des Herausgebers. Adams hält sich vornehm zurück, möchte nicht eingreifen, und die Quellen für sich sprechen lassen. Nur in einem kleineren Artikel meldet er sich selbst zu Wort und weist auf den mangelnden Wahrheitsgehalt der von Zukertort selbst in Umlauf gebrachten Größenphantasien hin. Ansonsten bekommt

der Leser gerade noch mit, von wem einer der abgedruckten Artikeln geschrieben ist, muss sich aber selbst einen Reim darauf machen, wann und in welchem Zusammenhang der jeweilige Artikel geschrieben wurde. Es ist eben eine unkritische Ausgabe. Auch wird nirgends deutlich gemacht, dass es sich bei der nun 2014 in New in Chess erschienenen Erstauflage eigentlich um einen Reprint von 1989 handelt!  Adams gab das Buch damals in rotem Leinen mit goldverziertem Deckel in begrenzter Auflage heraus, diese raren Exemplare werden heutzutage unter Händlern hoch gehandelt (eines davon habe ich als Angebot im Internet gefunden – für schlappe 600 Dollar ist es erhältlich!).

Artist-of-the-Chessboard-1989

Insofern ist New in Chess zu danken, dass sie dem breiten Publikum ein wichtiges Stück Schachgeschichte in Softcover zum erschwinglichen Preis zugänglich machen!  

Die 2014-Ausgabe unterscheidet sich gegenüber dem 1989-Original nur durch eine kleine Ergänzung: ein Bild, auf dem man den englischen Großmeister Stuart Conquest Blumen am restaurierten Grab Zukertorts niederlegen sieht. Conquest entdeckte Zukertorts Grab auf einem Friedhof im Londoner Westen wieder. Er sorgte dafür, dass 2011 ein neuer Grabstein eingeweiht werden konnte.

Dafür ermöglicht es der dicke Sammelband, in eine vergangene Welt einzutauchen, sich ganz den schönen Partien und den zeitgenössischen Kommentaren hinzugeben, die meisten stammen aus der Feder von Zukertort selbst oder von Steinitz. Beide Meister waren journalistisch äußert rege, gründeten Schachperiodiken und trugen ihre Rivalität auch auf theoretisch-verbaler Ebene aus (Chess Monthly war Zukertorts Organ, Steinitz schrieb im The Field und später im International Chess Magazine).

Für jeden historisch interessierten Schachspieler ist das Buch ein großer Genuss.  

Denn Zukertort, das erkennen wir beim Nachempfinden seiner von Schönheit und Eleganz sprühenden Partien, war ein großartiger Spieler, den die Nachwelt nicht nur durch seine Niederlage in Erinnerung bewahren sollte. Seine außergewöhnlichen Fähigkeiten zeigten sich zum Beispiel bei seinen Blindvorstellungen. Dort war er ganz klar die Nummer Eins der Welt, er spielte schon mal gegen ein Dutzend Spieler Blindsimultan. Und es gelangen ihm dabei Partien wie diese:

Zukertort - Webber [C25]

10–fach Blind, London 15.01.1878

1.e4 e5 2.Sc3 Sc6 3.f4 exf4 4.Sf3 g5 5.h4!? g4 6.Sg5 h6 7.Sxf7 Das hochaggressive Allgaier-Gambit. Der schwarze König wird lange Zeit schutzbedürftig sein.

7. …Kxf7 8.d4 d6 8. ...f3! hielt Steinitz schon damals in seinen Kommentaren für das beste, moderne Engines bestätigen diese Ansicht.

9.Lxf4 Lg7 10.Lc4+ Ke8 11.Le3 Sf6 12.0–0!? Riskant. Sicherer sieht 12.De2 Sh5 13.0–0–0 mit langfristiger Initiative aus.

12...De7 von Steinitz kritisiert, vom Rechner gelobt!

13.Dd2!? g3! 14.Tae1!? Lg4?! Es war schwer zu überblicken, dass nach 14...Sg4! 15.Tf7 Dxh4 16.Txg7 Tf8! die schwarzen Drohungen gefährlicher als die weißen sein würden.

Zukertort

15.Sd5!? Forciert das Geschehen. Erst15.Tf4! war stärker. Auch wenn die moderne Software nicht immer einverstanden ist, müssen wir die Risikobereitschaft und die Fantasie Zukertorts hoch ansiedeln. Immerhin spielte er an 10 Brettern blind und scheute keinerlei Komplikationen. Beide Könige, auch sein eigener, geraten nun in akute Mattgefahr.

15. ...Sxd5 16.exd5 Se5 17.dxe5 Dxh4 18.Tf4 Lxe5 19.Ld4 Tf8? Notwendig war 19. ...Kd7!, wonach Weiß gefährdet steht. Da 20.Lxe5?? an …Dh2+ 21.Kf1 Dh1# scheitert, muss Weiß durch 20.Lb5+ oder 20.Tf7+ Schach bieten, um 20. …Taf8 zu verhindern. Nach 20. ...Kc8 muss er allerdings in irgendeiner Form die Qualität auf f4 geben, worauf nicht klar ist, ob er dafür ausreichend Kompensation erhalten kann. Schwarz wird sich mit …a6 nebst …Kb8 langsam konsolidieren können.

20.Lb5+ Ke7 21.Txe5+! dxe5 22.Lc5+ Kd8 23.Txf8# 1–0

Kommentare   

#1 Martin Rieger 2014-09-27 12:25
Hallo Frank,

danke für diese wirklich schöne Besprechung!
#2 Losso 2014-09-29 20:12
Dem kann ich nur beipflichten.

Es gehört viel Idealismus und Leidenschaft dazu, ein solches Buch zu verfassen. Schön, wenn der Rezensent dem dann nicht nachsteht.

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