Kleine Schachrevolution – oder warum Zusehen schwieriger wird als Spielen!
Früher, ja früher war alles besser – sogar die Zukunft war früher besser und einfacher hört und sagt man immer wieder gerne. Früher waren die Spitzengroßmeister gottgleiche Künstlerpriester und die einzigen, die die Geheimnisse des Schachs durchschaut haben und wir Zuseher und Patzer (in Erinnerung an Bobby Fischer) konnten nur staunend und voller Bewunderungen deren Äußerungen lauschen. Es war eine ideale Welt: da die Fans dort die Meister!
Aber stimmte das wirklich so – ja das wurde so gelebt, aber die Grundlagen dazu waren gar nicht gegeben, denn Schach ist im Wesen ein endliches Spiel in einem endlichen Raum und damit theoretisch lösbar. Künstlerische Freiheit existieren überhaupt nicht, denn für jede einzelne Stellung gilt, dass sie entweder gewonnen, remis oder verloren ist – mehr geben die Regeln nicht her, auch wenn uns dieses Wissen nur für wenige Stellungen zweifelsfrei zugänglich ist. Aber diese immer schon existierende und bekannte theoretische Einschränkung wurde von der Schachfangemeinde nahezu „religiös“ ignoriert, so wie Kreationisten die Evolutionstheorie ablehnen.
Hilfreich dabei waren die ersten Auftritte der Schachcomputer, die man locker schlagen konnte und jene, die die 2000 Elomarke überschritten waren anfangs sehr teuer. Doch das änderte sich rasch als die ersten Programme auf Diskette verfügbar wurden und sich IBM mit einem Großrechnerteam einschaltete und in den Jahren 1996 und 1997 die Sache eigentlich klärte. Dann kam das neue Jahrhundert und Mitte der Nullerjahre war eigentlich klar: Maschine schlägt Mensch! Die Romantik war damit vorbei.
Nun kam 2017 der nächste „Schock“ AlphaZero – ein künstliches neuronales Netzwerk - erlernte Schach in affenartiger Geschwindigkeit selbst und zerlegte – wenn auch in nicht ganz sportlich fairer Manier – die besten Engines und stieß damit die Tür in neue Welt auf.
Wo liegt nun das Problem für uns? Nun die Profis sehen das schon lange pragmatisch, wenn auch manchmal etwa gereizt, wie beispielsweise eine Reaktion von Magnus Carlsen gegen GM Maurice Ashley bezeugt, als dieser ihn auf eine gewinnbringende Enginevariante in einem Interview ansprach. Liest man dann aber genauer, kann man erkennen, die Profis wissen was sie können und was sie nicht können. Und sie wissen auch Maschine schlägt Mensch - das ist ja schon seit 1997 keine weltbewegende Neuigkeit mehr! Also verhalten sie sich typisch menschlich und schauen, was sie davon zu ihrem Nutzen verwenden können und was für sie unbrauchbar ist und bauen das Brauchbare ganz pragmatisch in ihre Arbeit ein. Das menschliche Schach profitiert damit ganz klar vom Computer – aber dennoch hat sich im Kampf am Brett nichts Wesentliches verändert: es gewinnt der vorletzte Fehler!
Und jetzt kommen wir Schachfans ins Spiel – wir sind die „Verlierer“ dieser Entwicklung. Früher – vergessen wir nicht da war alles herrlich – saßen wir vor der Zeitung oder dem Bildschirm (Teletext) und spielten die Partien der Stars nach und verstanden nichts oder sehr wenig. Dann kamen die gedruckten Analysen und wir verstanden das was dort geschrieben war, ob das nun stimmte oder nicht war eigentlich egal. Da uns die Fähigkeiten und die Möglichkeiten fehlten, mussten wir das tun, was Menschen in solchen Situationen schon immer taten: GLAUBEN!! Und wir waren glücklich, denn aus unserem Unvermögen strahlten Stars hervor zu denen wir bewundernd hochblicken konnten.
Mit der Niederlage von Kasparov gegen die Maschine und die folgende Chancenlosigkeit kommender Weltmeister gegen die Engines zerbrach diese einfache Glaubenswelt und die Götter wurden zu fehlbaren Sterblichen wie wir auch. Und damit begann unser großes Dilemma, denn mittlerweile ist es einfacher, ja sehr viel einfacher Schach zu spielen als Schach zuzusehen! Verstanden wir früher nichts, so liefern uns die Maschinen jetzt eine „nahezu perfekte“ Einschätzung der Stellung und dennoch wieder haben wir ein Verständnisproblem: was davon kann der Mensch – dessen Fan wir vielleicht sind – am Brett sehen und was bleibt – bzw. muss – ihm verborgen bleiben? Wieder können wir die Ereignisse nicht richtig einordnen und wieder sind wir in einer emotionalen Geisterbahn ohne Ausweg gefangen.
Unsere Situation hat sich damit nicht wirklich verbessert, denn unsere eigenen schachlichen Fähigkeiten helfen uns gleich wie früher nichts, um ohne Computer das Geschehen am Brett einschätzen zu können und mit Computer wissen wir nicht, was Topprofis sehen können und was nicht. Fakt ist ja, dass die Fähigkeiten des Menschen durch viele Faktoren begrenzt sind. Kein Mensch kann alle 5 Steiner sicher nach Hause spielen, geschweige denn 6 oder gar 7 Steiner. Damit ist klar, dass wir auch in allen anderen schachlichen Phasen Irrtümer begehen müssen. Ist Schach damit ein Glücksspiel? Ich würde mit einem klaren JEIN antworten – theoretisch für Menschen JA, praktisch aber NEIN! Denn eigentlich ist Schach für uns Menschen ein Kampfsport und solange das so bleibt, ist alles gut und schön!
Nur Zusehen müssen wir neu lernen!! Und dabei können uns die Maschinen noch nicht helfen – aber damit eröffnet sich doch ein weites neues Feld für Schachsoftwarefirmen und für Weihnachtswünsche!
Kommentare
Spielen ist schwer, Zugucken ist auch schwer, selbst jetzt, wo der Computer alle Züge ausspuckt und mit Varianten unterlegt. Aber was soll das? Verstehen müssen wir sie immer noch selber, und manchmal schalte ich "die Kiste" lieber ab, um noch etwas selber zu knobeln. Ist aber anstrengender. Mit Computerunterstützung konsumiere ich aber sozusagen nur noch, und spannender ist es eigentlich, wenn sie aus ist - wie Du auch schreibst, das Mysterium ist größer, und die Züge der Großmeister erscheinen dann noch beeindruckender, wenn man selber nun überhaupt nicht darauf gekommen ist, beim Mitdenken.
Ich erinnere mich mit Schmerzen an eine Direktübertragung einer Partie auf schach.de, bei der der Kommentator versucht hat, seine Gedanken über die laufende Partie einzubringen ... und chancenlos gegen die Kommentierer war, die ständig ihr "Shredder sagt XXX" dazwischenbrüllten. Grausig.
Eine gute, professionelle Kommentierung muss MIT den technischen Möglichkeiten leben und auf diese eingehen - ein Maschinenstürmerverhalten kann den Fortschritt nicht aufhalten. Wir müssen lernen uns mit den Maschinen zu arrangieren.
PROSIT NEUJAHR - PROSIT NEUE SCHACHZEIT - wir schreiben bald das Jahr 2018!!
Livekommentar mit oder ohne Computerhilfe? Meistens sind Kommentatoren ja schwächer als die Spieler - Ausnahmen bis zu einem gewissen Grad: Svidler kommentiert, oder ein starker aber nicht Weltklasse-GM kommentiert z.B. die deutsche Jugendmeisterschaft. Dann kann es durchaus sein, dass ein Spieler einen "Computerzug" tatsächlich findet und spielt und damit viele überrascht - Kommentator, Gegner, eventuell auch sich selbst.
Als Schreiberling und vereinsinterner Analytiker "muss" ich Engines verwenden - sonst könnte ich viele Partien per Artikel oder Analyse von Mannschaftskämpfen gar nicht sinnvoll besprechen. Neben mangelnder eigener Spielstärke spielt Zeitnot auch ohne tickende Schachuhr dabei eine Rolle. Bei Computeranalysen von GM-Partien und Amateurpartien (eigene und Vereinskollegen) versuche ich anschliessend immer zu differenzieren zwischen "das musste man eigentlich sehen", "das konnte man vielleicht finden" und "durchaus hübsch und verblüffend, aber unmenschlich - jedenfalls auf dem gegebenen Niveau". Bei Amateuren tue ich mich da schwer, von mir selbst erwarte ich eher zuviel. Bei GMs tue ich mich auch schwer und erwarte eventuell auch zuviel. Dabei ist für mich Analyse immer "Suche nach der Wahrheit" - diesen 'wissenschaftlichen' Ansatz kann man begrüssen/teilen oder nicht.
Alle Kommentare dieses Beitrages als RSS-Feed.