Moskauer Fälle

Die Basilius-Kathedrale Die Basilius-Kathedrale A. Savin - Wikipedia

In diesem Beitrag geht es vor allem um Reinfälle und Unfälle und nur am Rande um Einfälle. Wahrscheinlich tue ich dem Turnier damit Unrecht, aber in der Liveübertragung der fünften Runde fielen mir gleich acht Partien (von 25) auf mit mehr oder weniger kuriosen Wendungen und starken, teils mehrfachen Sprüngen im Urteil des Computer-Orakels. Ich beschränke mich auf vier Beispiele mit denen ich folgendes demonstrieren will (später in umgekehrter Reihenfolge):
1) Im Endspiel muss man sich voll konzentrieren und genau rechnen, jedes Tempo kann wichtig sein. Das ist ja inzwischen Thema von Michael Schwerteck, ich werde mich daher relativ kurz fassen.
2) Im Mittelspiel sollte man nicht zu früh resignieren, schliesslich wurde durch Aufgeben noch nie eine Partie gewonnen.
3) Bevor es soweit kommt muss man erstmal die Eröffnung überleben.

Worum geht es generell? Das Moscow Open war immer der kleine Bruder des Aeroflot Open. Was das Teilnehmerfeld betrifft ist das nach wie vor der Fall: für Aeroflot haben u.a. Grischuk, Svidler, Andreikin und Karjakin zugesagt, beim Moscow Open war Nepo(mniachtchi) der einzige der Kategorie 2700+. Allerdings fliegt Aeroflot schachlich gesehen dieses Jahr nur noch von Moskau nach St. Petersburg (Schnellschach) bzw. vom einen zum anderen Moskauer Flughafen (Blitzschach). Beim Moscow Open wurde, wen wundert es, vor allem Russisch gesprochen - wohl auch vom einzigen Deutschen in der A-Gruppe Igor Glek. Er spielte für seine derzeitigen Verhältnisse recht erfolgreich und holte am Ende eine GM-Norm (TPR 2606). Die braucht er natürlich nicht mehr - einmal GM immer GM auch wenn seine Elo inzwischen auf 2431 abgesunken ist. Andere Ex-Sowjetrepubliken waren auch vertreten, ausserdem fiel mir noch auf: der Venezolaner Iturrizaga ist immer noch auf Europa-Tournee (davor spielte er in Gibraltar) und Indien war auch mit einer recht grossen Delegation vertreten. Mehrfach spielten Inder gegen Inder - fliegt man dafür meilenweit?

Ich habe diesen Bericht etwas verzögert um kurz zu erwähnen wie das Turnier ausging: Nach der sechsten Runde lagen die Herren Ponkratov und Kokarev vorne mit 5.5/6 (nie gehört, muss ich denn jeden Russen kennen?). Dann remisierten sie und zwei Tage später lagen sieben Spieler vorne - darunter auch Nepomniachtchi der nach einem Remis in der zweiten Runde das Feld etwas von hinten aufrollte. Noch schlechter erging es anfangs dem Zweiten der Setzliste Khismatullin: nach drei Runden hatte er nur ein halbes Pünktchen. Dann holte er noch 5.5/6 aber zufrieden war er wohl eher nicht mit dem Turnier. In der Schlussrunde spielten sechs der sieben gegeneinander remis, und Savchenko wurde runtergelost gegen den nun etwas zurückgefallenen (Niederlage tags zuvor gegen Nepomniachtchi) Ponkratov, gewann und war damit ungeteilter Erster. Vielleicht hatte Savchenko Glück dass Ponkratov auch gewinnen wollte. Ich zeige die Schlussphase ihrer turbulenten Partie, die auch zum Bild aus Runde 5 passt:

GM Ponkratov (2584) - GM Savchenko (2584)

Ponkratov-Savchenko

Nach 34 Zügen stand es so - natürlich ist Weiss dran, sonst wäre es ja relativ trivial. Keine Ahnung ob Zeitnot eine Rolle spielte, habe das nicht live mitbekommen. Nun geschah 35.Td8+ (35.T5d2 gewinnt für Weiss, Varianten lasse ich mal weg) 35.-Lf8 36.T1d2 Zu spät - übrigens auch mit dem anderen Turm da De8 nun ohne Schach kommen würde. Hier konnte und musste Weiss mit 36.Sg6+ Kg8 37.Se7+ Kh8 Dauerschach geben, Schwarz kann dieses Remis nur mit 36.-/37.- Kg7? verhindern. 36.-Sxd2 37.Lxf2 Db1+ (nur so) 38.Kh2 Sf1+ 39.Kh3 Txf2 (nochmal zwei einzige Züge von Schwarz, allerdings recht offensichtliche) 40.Dg5 Db3+ 41.g3 Th2+ 42.Kg4 Dxg3+ 0-1
Damit ging Ponkratov (fast) leer aus beim Preisgeld, während Savchenko 300.000 gewann (Rubel, nicht etwa Dollar oder Euros). Ich wollte übrigens noch ein Foto von Savchenko zeigen, aber Boris hat - im Gegensatz zum mir unbekannten Ukrainer Stanislav Savchenko - nicht mal einen Wikipedia-Artikel [meine Standard-Quelle für Bildmaterial].

Hier noch die komplette, wie gesagt schon vorher turbulente Partie:

Nun zu Runde 5. Das erste Beispiel stammt aus der F-Gruppe - nicht etwa (wie man gehässigerweise bei DER Partie vielleicht denken könnte) die unterste Amateurgruppe sondern ein kleines Rundenturnier für Studenten. Es passiert nicht allzu oft dass eine Partie nach 10 Zügen entschieden ist und nicht etwa remis endet. Am Brett sassen aber zwei GMs mit zusammen etwas mehr als 5000 Elopunkten:

GM Sethuraman (2538) - GM Krejci (2529)

1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4 etwas riskant den Läufer auf ein ungedecktes Feld zu stellen, aber in tausenden Partien hatte das keine Folgen 4.Sf3 b6 5.Lg5 Lb7 6.Sd2 h6 7.Lh4

Sethuraman-Krejci

Schwarz am Zug verliert! Gesucht ist nicht etwa 7.-Sg8?? oder so ähnlich sondern 7.-d6 8.Da4+ Sc6 9.d5 Lxc3 10.bxc3 1-0
Der arme Krejci hat insgesamt kein gutes Turnier erwischt und wurde noch dreimal schachlich verprügelt, auch wenn es da etwas länger dauerte.

Als nächstes ein fortgeschrittenes Mittelspiel ebenfalls aus der F-Gruppe:

GM Hovhannisyan(2530) - IM Stukopin (2495)

Hovhannisyan-Stukopin1

Das ist die Stellung nach, jawohl, dem 60. Zug. Die Konturen eines geschlossenen Spaniers sind noch erkennbar - in der Eröffnung bleiben ja oft lange viele Klötze auf dem Brett und wird geduldig manövriert. Was vorher unter anderem passierte: Weiss verdoppelte seine Türme auf der g-Linie - warum weiss er allenfalls selbst. Schwarz verdoppelte auf der a-Linie was schon plausibler erscheint aber zunächst auch wenig einbrachte. Erst ab dem 55. Zug machte Schwarz Fortschritte. Ungefähr bei der Diagrammstellung verabschiedete ich mich vorübergehend von der Liveübertragung da ich mit Freunden zum Laufen verabredet war. 10km (mit zweimal Umziehen und einmal Duschen etwa anderthalb Stunden) später schaute ich wieder rein und WEISS hatte gewonnen. Was war passiert?
61.h4 Lf4 62.hxg5 hxg5 63.Da2 Dxb4 Houdini bewertet das mit etwa -3, Schwarz hat also zwei Mehrbauern UND Kompensation dafür 64.Kf1 Lc1 65.Da8 Kf7 66.Lc2 Lb2 67.Db7 Ld4 68.Lxd4 exd4 69.e5!?
Hovhannisyan-Stukopin2
Weiss hat einen Einfall. Er gibt dem Gegner einen dritten Mehrbauern (drei Freibauern hatte er ja schon), bekommt dafür immerhin einen eigenen Freibauern der dann die Partie entscheidet! Erzwungen war letzteres aber nicht. Es folgte 69.-dxe5 70.Dc6 Kg7 besser war 70.-Sf8 was alles überdeckt 71.Lxg6 Einen Bauern hat er zurück, an sich kein Beinbruch für Schwarz 71.-De7 72.d6 Sf6?? 73.Lxe8 Dd8 (73.-Dxe8 74.d7) 74.Dc7+ 1-0
Hmm, "durch Aufgeben wurde noch nie eine Partie gewonnen" oder so ähnlich.

 

Kommen wir nun zu Stellungen mit weniger Material, d.h. Endspielen. Auch da kann man daneben greifen, wie gesagt ich gehe nicht allzu sehr ins Detail - wer will kann sich als Leser seine eigenen Gedanken machen.

FM Meribanov(2409) - GM Svetushkin(2612)

Meribanov-Svetushkin

Das ist die Stellung nach dem 40. Zug von Schwarz. Entstanden ist das Ganze aus der Berliner Mauer die bisher wohl immer in der Remisbreite blieb, auch eine kleine taktische Sequenz ab dem 19. Zug (siehe Partie unten) hatte das Gleichgewicht kaum gestört. Nun erreicht Weiss erst deutlichen Vorteil und eine Tablebase-Gewinnstellung, und dann wird es doch remis. Das ging so:
41.Te2 Tc3 42.f4 b5 43.f5 b4 44.f6 Tf3 45.Kg6 c5 46.f7 Tg3+ 47.Kh7 Th3+ 48.Kg7 Tg3+ 49.Kf8 b3 50.Te7+ Kc6 51.Ke8 Tf3 52.cxb3 Txb3 53.f8D? Tb8+ 54.Kf7 Txf8+ 55.Kxf8 Kd5 56.Td7+ Ke4 57.Ke7 c4 58.Kd6 c3 59.Th7 c2 60.Th1 Kd3 61. Kd5 1/2
Wo Weiss fehlgriff habe ich schon verraten, aber was war im 53. Zug besser? Wer will kann sich im Kommentar dazu äussern aber bitte ohne anderswo zu spicken (siehe auch nächster Absatz). Wie es aus schwarzer Sicht soweit kommen konnte - nun laut Engines (habe das nicht selbst analysiert) spielte er eine Reihe ungenauer Züge, vielleicht mit der Idee "das ist immer remis"?
Mit gemischten Gefühlen (das ist also kein "exklusiver" Bericht) sah ich dass Karsten Müller diese Partie auch besprochen hat - allerdings erst ab dem verflixten 53. Zug. Auch die Partie Ponkratov-Savchenko hat Chessbase wobei ich nach der Ankündigung "analysis of the fateful final game" etwas mehr erwartet habe als dann kam.

 

Kommen wir nun zur G-Gruppe, auch ein Rundenturnier nun für Studentinnen - das wurde meines Wissens nirgendwo erwähnt, jedenfalls nicht auf Deutsch oder Englisch. Auch Bauernendspiele haben so ihre Fallstricke:

Drozdova (2286) - WGM CTRL+V Szcepkowska-Horowska (2378)

Drozdova-Sczepkowska1

So stand es nach dem 60. Zug von Schwarz, das sollte er/sie doch gewinnen? Tat sie auch aber nur auf Umwegen und mit gegnerischer Hilfe. Es folgte
61.Kh3 Kf5 62.Kh4 Ke5 63.Kg4 Kd4 64.Kxf4 h5 65.Kg5 Ke3 66.f4 h4 67.f5 h3 68.f6 h2 69.f7 h1D 70.f8D Dg2+ 71.Kh6 Dc6+

Drozdova-Sczepkowska2

Das war ab dem ersten Diagramm nicht unbedingt forciert (um es milde auszudrücken). Wohin nun mit dem weissen König? Der hat drei schlechte Felder und ein richtiges: nach 72.Kh7 haben wir (fast) Naiditsch-Ernst doppelt gespiegelt, die Analogie entstünde nach 72.-Dxa4 73. Dh6+ nebst 74.Dxb6. Hier steht der weisse König in der richtigen Ecke, das sollte dann mit remis enden (auch wenn Schwarz es noch zig Züge versuchen kann). Stattdessen kam
72.Kg7? Dxa4 und Frau CTRL-V verwandelte den zweiten Elfmeter sicher: 73.Db8 Dg4+ 74.Kh7 Dh5+ 75.Kg7 Dg5+ 76.Kh7 Dh4+ 77.Kg6 De4+ 78.Kg7 Dd4+ 79.Kg6 a4 80.Kf5 a3 81.Da8 b5 0-1

 

 

Und die Moral der ganzen Geschichte? Mancher mag mir Schadenfreude unterstellen - das sehe ich nicht so, allenfalls ein bisschen Genugtuung dass stärkere Spieler(innen) auch nur mit Wasser kochen. Betrachten wir das Ganze mal subjektiv - hätte ich besser gespielt?

Beispiel 1: In so einer unübersichtlichen Stellung (und überhaupt) wäre ich gegen einen Grossmeister mit Remis zufrieden gewesen? Ich nehme an dass Ponkratov das Dauerschach gesehen hat, aber nicht dass alles andere verliert. Davor war es - zumal womöglich in Zeitnot - Glückssache um 35.T5d2 zu sehen UND richtig zu bewerten.

Beispiel 2: So wäre mir das nicht passiert da ich kein Nimzo-Indisch spiele :) . Generell passiert mir ähnliches "irgendwann" vielleicht einmal in 50 Partien, und noch in der Eröffnung einmal in 200 Partien. Bei Grossmeistern ist die Wahrscheinlichkeit vielleicht 1/500 und 1/2000? Zwei Beispiele die mir spontan einfallen in der ach-so-remislichen russischen Eröffung: Anand verlor mal in nur 6 Zügen, sieben Jahre danach besiegte er Kramnik in 20 Zügen. Die beiden "Patzer" haben 2627 und 2320 Partien in chessgames.com, lag ich mit meiner (a priori) Schätzung etwa richtig?

Beispiel 3: Ich traue mir zu dass ich 72.-Sf6?? nicht gespielt hätte. Davor hätte ich mit Weiss vielleicht noch nicht aufgegeben aber zumindest schon resigniert.

Beispiel 4: Da behaupte ich nicht dass ich es (mit Weiss oder auch mit Schwarz) besser gespielt hätte.

Beispiel 5: Leichter gesagt/behauptet als bewiesen - "vielleicht" hätte ich das Bauernendspiel gewonnen. Es ging um den Durchbruch b6-b5 im richtigen Moment - wenn man/frau sich da verrechnet kann der Schuss komplett nach hinten losgehen!? Und "wahrscheinlich" hätte ich 72.Kh7 gespielt (und das Damenendspiel hinterher trotzdem verloren?).

 

 

Kommentare   

#1 Michael Schwerteck 2013-02-12 14:34
Das Bauernendspiel ist wirklich krass, z.B. gewinnt doch 63...b5 absolut trivial. Da gibt es auch gar nichts zu rechnen, die Quadratregel reicht.

Das Turmendspiel ist vergleichsweise anspruchsvoll. Ohne Kenntnis von Müllers Analysen wäre mein Vorschlag 53.Te6+ Kd5 54.Td6+ Kxd6 55.f8D+ mit theoretischer Gewinnstellung, wenn mich nicht alles täuscht.
#2 MiBu 2013-02-12 16:04
Dame gegen Turm wäre mir zu schwer...

Tatsächlich gibt es einen kürzeren Gewinn, den ich (nur) mit dem Hinweis "Hier aufpassen!" gefunden habe (und in einer praktischen Partie wohl eher nicht gefunden hätte). Das Motiv in Reinkultur findet man (z.B.) in der Stellung wKh8, Tg2, sKe6 Bd5. Wie gewinnt Weiß am Zuge? (Bitte nicht über den Kh8 mokieren, der hat vor kurzem einen schwarzen Turm geschlagen.)
#3 MiBu 2013-02-22 20:31
Hier kommt wohl nichts mehr...
1. Im Lehrbeispiel gewinnt Weiß nur mit Tg5! (Thema: Die horizontale Sperre auf der fünften Reihe.) Nach d4 Kg7 d3 Tg3 d2 Td3 wird der Bauer abgefangen. (Auf der vierten Reihe reicht es nicht, dann hat er sich schon verwandelt.) Mit Kd6 Kg7 Kc5 Kf6 rennt der sK auf die falsche Seite, so dass der wK rechtzeitig vor Ort ist.
2. In der Partie ist das Motiv etwas versteckt, aber im Kern gleich: 53. Te5! gewinnt technisch einfacher als Te6+.

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