Schachdeutschland schafft sich ab - Wie wir unser Spiel aufs Spiel setzen

Wie immer fand am ersten Dezember-Wochenende die Deutsche Einzelmeisterschaft im Blitzschach statt. 31 Runden gegen 31 topmotivierte Gegner. Von einem kleinen 12h-Halbmarathon Ende Oktober abgesehen (dort mangelte es vielen Teilnehmern am Ende tatsächlich auch an Motivation), mein erstes "echtes" Blitzturnier seit dem Frühsommer. Da läge es doch nahe, sich vorher irgendwo wenigstens ein wenig einzublitzen. Aber wo?

Wer an dieser Stelle seinen Arm hebt und ruft: "Beim Vereinsabend natürlich! Bei uns sind beim Blitzen eigentlich immer rund um die 30 Leute da, beim freien Spielabend sind es auch oft noch 15 und in den Wintermonaten spielt die ganze erste Mannschaft fast geschlossen bei der Vereinsmeisterschaft mit!", dem kann ich nur entgegnen, dass er entweder beim Hamburger SK Mitglied ist, oder (wahrscheinlicher!) selbst lange, sehr lange nicht mehr Dienstags oder Freitags den Clubabend mit seiner Anwesenheit beehrt hat. Denn es ist einfach nicht mehr so wie früher.

Statt mich jetzt mit irgendwelchen Mitgliederzahlen herumzuschlagen oder zu diskutieren, ob und wie man hätte besser von der Dresdener Schacholympiade profitieren können, will ich lieber an einem ganz konkreten Beispiel die Todesgeschichte eines Schachvereins erläutern. Meines Schachvereins.

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Im Jahre 2002 trat in den HSK-Post Hannover von 1876 ein. Es war der florierende Verein im Herzen Hannovers schlechthin. Einem ausgewogenen Spielstärkegefälle zwischen den Erwachsenen stand eine große, etwa 20 Kinder und Jugendliche starke Nachwuchsgruppe gegenüber. Ich wurde zusammen mit drei weiteren Neuzugängen im Bereich >= 2200 und etwa 10 weiteren neuen Vereinskameraden freudig begrüßt und eine der größten Sorgen bei der Mannschaftsbesprechung war es ironischerweise tatsächlich, ob es sich lohnen würde, eine fünfte Herrenmannschaft aufzumachen. Runderneuert kämpfte sich die erste Mannschaft, gerade aufgestiegen, durch die Oberliga Nord-West und sicherte sich nach einem spannenden Finale mit 16-2 Punkten einen Platz in der zweiten Bundesliga Nord. Durch die in den restlichen Mannschaften verteilten Leitfiguren und Verantwortungsträger des Vereins stellte sich der sportliche Erfolg auch dort ein, was am Ende vom Aufstieg von HSK 2 , HSK 3 und HSK 4 gekrönt wurde. Zwei absolute Highlights waren bei uns einmal das Monatsblitzturnier, wo 30 Teilnehmer und der eine oder andere 2200er im B-Finale keine Seltenheit waren, und weiterhin das 2 Mal im Jahr stattfindende HSK-Post-Open, welches schon mal mehr als 100 Teilnehmer auch von jenseits von Niedersachsen anzog und von unserem damaligen Vorsitzenden Florian souverän und charmant organisiert wurde. Die Jugendlichen bekamen gutes Training, qualifizierten sich in Scharen für die Deutschen Jugendmeisterschaften, stiegen, verstärkt durch ein neues Brett 1 :) in die Jugendbundesliga auf und wurden besonders beim Monatsblitzen hervorragend an den Vereinsabend und das Schach der "Großen" überhaupt herangeführt. Es bildeten sich Freundschaften, die bis heute erhalten geblieben sind. Für Betreuerplätze bei Jugendmannschaftsmeisterschaften gab es oft mehrere freiwillige Bewerber, bei Heimspielen im Verein schauten oft Erwachsene vorbei.... kurzum, DAS war ein Verein, wo das Leben wirklich Spaß gemacht hat.

Es vergingen ein, zwei Jahre. Noch war die Euphorie nicht abgeflaut. Noch war ich mir absolut sicher, beim besten Verein in Hannover Mitglied zu sein. Wir spielten mit Ach und Krach immer noch in der 2.Bundesliga und die Kids gewannen die Jugendbundesliga Nord nur nicht, weil die Jungs von Ricklingen bisher einfach älter und cooler waren als wir. Aber wir wussten, unsere Zeit würde kommen, nur halt ohne mich, weil ich langsam aber sicher zu alt für den Spaß wurde. Doch, fast wie damals zu Zeiten des Römischen Imperiums setzten bereits leichte Zeichen des Verfalls ein.

Die jungen, dynamischen Männer, die mit mir in den Verein eintraten liefen alle überraschenderweise attraktiven Frauen über den Weg und hatten plötzlich für alles Augen, nur nicht für die Dame auf dem Brett. Schach.de nahm seinen Betrieb auf und die Perfektionisten unter uns, die sich ihr Leben lang immer ärgern, warum sie niemals ihre sorgsam einstudierten Hauptvarianten aufs Brett bekommen, hatten eine Möglichkeit, ihr Glück an einer anderen Stelle zu versuchen. Die Jugendlichen wurden mit der Zeit mehr und mehr in der Schule gefordert. Tests, Klausuren, Referate fürs Zentralabitur. Eine neue Generation vielversprechender Kinder kam leider trotz intensivster Bemühungen von unserem Jugendwart Matthias nicht nach. Ihm fehlte für sein titanisches Werk in großem Maße der Rückhalt und die Unterstützung aus dem Verein, und wenn doch, dann wurde diese viel zu zaghaft und zu alibi-mäßig ausgeführt. Die Kinder lösten die von Matthias mitgebrachten Aufgaben, aber sie taten es nicht aus Interesse am Schach, sondern wegen Matthias' Süßigkeiten, oder weil die Eltern sie zum Training zerrten oder teilweise sogar danebensaßen. Waren sie mit den Aufgaben fertig, spielten sie nicht etwa Schach, sondern fangen oder mit Spielzeugpistolen. Der arme Matthias konnte sich nicht aller annehmen und die älteren Jugendlichen (angeführt von mir) griffen nicht ein, sondern setzten mit dem unsäglichen Tandemspiel nur noch ein verderbliches Beispiel für die Kleinen. Wieviele Holzsätze durch das Sch...Tandem in dieser Zeit vermischt und zerstört und wieviel Geld das effektiv den Verein gekostet hat, will ich lieber nicht genau wissen. Wenn alle Kinder endlich abgeholt waren, war es zwar himmlisch leise und friedlich, aber der Anblick der überall im Raum  zerworfenen und verteilten weißen und schwarzen Holz- und Plastikfiguren und der Bonbonverpackungen ließ ein Gefühl höchster Unbefriedigung und Frustration aufkommen, so dass man am Liebsten kotzen würde. Der Geruch in den Toilettenräumen des Post-SV-Vereinsheims tat dazu sein Übriges. Der Tod der sympathischen Gastwirtin Frau Asche, die von einem neuen Wirt/Koch in Personalunion ersetzt wurde, der den Charme eines arabischen Henkers besaß, machte auch den Aufenthalt in der Vereinsgaststätte nicht wirklich attraktiver.

Die Senioren wurden in der Zeit auch nicht jünger und auch die aktiveren von ihnen klickten sich oft aus dem Blitzturnier aus und spielten in der Ecke zu zweit, zu dritt vor sich hin. In diesem Moment sind sie zwar noch physisch da, aber vom Sozialen her für die Gemeinschaft natürlich schon halb verloren. Ich persönlich entdeckte gerade in dieser Zeit die Faszination Schnellschach für mich und sah es manchmal nicht ein, warum ich am Freitag erscheinen soll, wenn mir doch auch Samstag und Sonntag ein volles Wochenende Schach bevorsteht. Meistens aber irgendwie schon. Man war ja noch jung und frisch.

Aber trotzdem. Der Vereinsabend wurde leerer. Und nicht mehr so konzentriert wie vorher. Wurden früher fleißig Partien des vergangenen Wochenendes diskutiert und analysiert, begnügte man sich nun ein paar oberflächlichen Partiechen als "lästige Tagespflicht", bevor man den Unterhaltungs- und Erzählteil des Abends einleitete, der dann oft mal in irgendeiner Kneipe endete. Ich erinnere mich persönlich an sich gern an diese Zeit (besonders weil man die weniger beliebten Personen einfach im Verein lassen konnte ) und will dieser weder missen noch in großem Stile kritisieren. Es taten eben alle das, was sie in diesem Moment für sich selbst am Nützlichsten und Angenehmsten empfanden. Ich erinnere mich genau an diesem Wechsel in meinem Kopf. Früher, mit 17-18 dachte ich: "Jetzt bist du Freitag schon hierhergekommen, dann habe was davon und bleibe möglichst lange hier und spiel Schach!" Später, mit 19-20 hieß es eher: "Hm, es ist Freitag Abend. Ich bin im Schachverein, wo viele langweilige Menschen sind. Ich habe jetzt die Chance, mit ein paar mir sympathischen was trinken zu gehen. Was mache ich also noch hier?" Keine Frage, schwer mich da irgendwo zu kritisieren, aber das Ende des Vereins wurde durch eine Art solchen Verhaltens eingeleitet. 

Und das Ende kam schneller als man denkt. Die Abwärtsspirale drehte sich immer schneller. Einzelne vergebene kampflose Punkte wurden durch 0:8-Niederlagen wegen Nichtantritt abgelöst. Die Jugendtrainingsgruppe löste sich auf. Einige Mitglieder verließen Deutschland, viele alte und auch potentiell neue Mitglieder suchten sich, verschreckt vom immer noch bei uns innewohnenden Leistungsprinzip im Verein in Hannover eine neue Bleibe oder kamen vom Schachspiel ganz ab.  Matthias' Kindergruppe dezimierte sich deutlich und Talente, die irgendwann die Herrenabteilung verstärken würden, waren mit Felix und Anthony zwar durchaus da, aber konnten die zahlenmäßigen Verluste bei den Herren nicht wirklich wettmachen. Irgendwann musste die vierte Mannschaft dann dran glauben, später auch die dritte. Die Seniorenabteilung, durch den Tod eines sehr wichtigen und geehrten Mitgliedes eh geschwächt, hatte, nachdem wir beim Clubabend monatelang nur noch Pokerkarten und -chips statt Schachfiguren ausgepackt haben, irgendwann auch keine andere Chance, als einfach zu fliehen. Das herrenausstatter.dewar etwa Anfang 2007.

Doch das Krebsgeschwür des Vereins wucherte weiter und befiel immer mehr lebenswichtige Funktionen. Das Blitzturnier, welches unter meiner Leitung sich von einer durchschnittlichen Teilnehmerzahl von 10 auf 6 zurückentwickelt hatte wurde genauso gestrichen, die das ein Jahr vorher im Rahmen einer populistischen Aktion aus dem Boden gestampfte Schnellturnier. Da war auch schon gar nicht mehr aktiv im Verein, weil ich mich 2005 nach Berlin abgesetzt hatte, trotzdem schaute ich mir das Leid als passives Mitglied noch lange Zeit an. Der Vereinsabend wurde auf jeden zweiten Freitag beschnitten "damit sich die Leute, die kommen, und niemanden vorfinden, keine Frusterlebnisse holen" und später perverserweise ganz fallen gelassen. Irgendwann war dann auch die zweite Mannschaft des ehemals so stolzen HSK nicht mehr kampfbereit.... Das HSK-Post-Open durfte da auch schon (Hauptverein sei Dank!) nicht mehr stattfinden, weil bei der letzten Auflage Mitte 2008 irgendein Minderbemittelter sämtliche Pissoirs mit Papier verstopft haben soll, was angeblich zu einem vierstelligen Schaden geführt habe, so die Post-Vereinsleitung. Ob die uns nicht in Wirklichkeit nur loswerden wollten? Für die Gaststätte waren wir Schachspieler jedenfalls nie der große Hauptgewinn, auch zu Glanzzeiten nicht. Wir trinken lieber aus der mitgebrachten Thermoskanne, als uns an der Theke einen frischen Kaffee zu bestellen. ..

Lange Rede, kurzer Sinn. Den Hannoverschen SK gibt es nicht mehr. Er ist seiner kurzen, aber schmerzhaften leidvollen Krankheit erlegen, lebt aber immerhin noch in den Herzen als Junior-Partner des HSK-Lister Turm weiter. Etwa 20 treue Mitglieder hat man hinüberretten können, der Rest hat sich in alle Winde zerstreut. Wie gesagt, ich habe versprochen, mich nicht zu beschweren oder gar die "neue, technisierte Ära" zu beklagen, in der der Besuch einer so antiquierten Institution wie des Vereinsabend einfach nicht mehr zeitgemäß ist, oder womöglich die Existenz der Schachserver, die den Leuten nachhaltig die Lust auf echte Schachfiguren aberziehen. Nein, ich möchte eigentlich nur feststellen, dass ich sicher bin, dass eine solche Todesgeschichte eines Vereins, die ich so hautnah miterlebt habe, sich überall in Deutschland abspielen könnte und vermutlich auch regelmäßig passiert. So, dass ich befürchte (um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen), dass es in Zukunft einfach immer schwieriger werden wird, sich irgendwo gepflegt auf ein Turnier einzublitzen. Wenn das passiert, wovon ich ausgehe (und ich habe im Moment auch keine Gegenlösung anzubieten), wird der Vereinsabend in 15-20 Jahren nur noch eine warme, muffige Erinnerung aus den Jugendzeiten sein. Solange es aber wenigstens Turniere gibt, weiß ich gar nicht, ob es einen solch großen Grund zur Trauer darstellt. Mich richtig auf eine Partie oder eine Analyse zu konzentrieren, wenn es in Wirklichkeit um nichts geht, kann nämlich mittlerweile gar nicht. Und es geht so gut wie allen so. Man kann Freitags auch etwas anderes unternehmen, als schlecht und unkonzentriert Schach zu spielen.

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