Schachwelt anno Tobak - London 1851

Beim 2. London Chess Classic Turnier sind inzwischen 4 Runden gespielt. In Führung liegen Weltmeister Vishy Anand und der englische Großmeister Luke McShane mit jeweils 3 Punkten. Wie bereits im Vorjahr ist die Veranstaltung vorbildlich organisiert und  Spieler sowie Zuschauer werden bespielhaft „gepampert“. Die Spiellaune der Akteure ist ebenfalls blendend. In der dritten Runde wurde besonders hart gekämpft. So benötigte z.B. Weltmeister Anand 77 Züge, um Magnus Carlsen zur Aufgabe zu bewegen. In der Begegnung McShane-Kramnik (remis) wurde ein T+L vs. T Endspiel sogar bis zum 139 Zuge geübt. Allerdings reichen die modernen Schachhelden damit noch lange nicht an die Ausdauer der Turnierschachpioniere aus dem Jahre 1851 heran. Beim ersten, ebenfalls in London abgehaltenen, Schachturnier saßen die Spieler oftmals noch wesentlich länger am Brett. Sie produzierten zwar nicht mehr Züge, aber es gab damals noch keine Beschränkungen der Bedenkzeit. Die ersten Schachuhren wurden erst ca. 10 Jahre später eingeführt, so dass es vorkam, dass bei einzelnen Zügen über 2 Stunden (!) nachgedacht wurde. Einige Partien dauerten 12, 16 oder sogar 20 Stunden. Der Turniersieger Adolf Anderssen berichtete über die Zustände in einem Brief wie folgt:


„Der Komfort war nicht sonderlich; Tische und Stühle waren klein und niedrig; die großen Bretter ragten auf beiden Seiten über die Tischkanten hinaus; neben den Spielern wurde alle Räumlichkeit von einem Kopisten in Anspruch genommen; kurz, man hatte kein freies Plätzchen, um das sorgenvolle Haupt während des harten Kampfes zu unterstützen. Für den englischen Schachspieler ist allerdings eine bequemere Einrichtung überflüssig. Kerzengerade sitzt er auf seinem Stuhle, steckt die Daumen in die beiden Westentaschen und sieht, bevor er zieht, eine halbe Stunde regungslos aufs Brett. Hundert Seufzer hat sein Gegner ausgestoßen, wenn er endlich seinen Zug rasch und entschieden ausführt.“


Anderssens Ausführungen kann man entnehmen, dass es damals auch noch weitere Unterschiede zu den heutigen Standards gab. Aber wenigstens mussten die Spieler die Partien nicht eigenhändig mitschreiben, hierfür gab es die Kopisten bzw. Protokollführer. Diese waren um ihren Job aber wahrlich nicht zu beneiden. So konnte man im Turnierbuch in den Aufzeichnungen zur Begegnung Williams-Mucklow beispielsweise folgende Bemerkung finden:

„... beide Herren schlafen bereits.“

Wie lange diese Erholungspause angedauert hat wurde leider nicht übermittelt. Eventuell haben die Spieler die Partie auch in schlafzieherischer Weise beendet, jedenfalls gewann Williams später.

Das Turnierbuch wurde übrigens von Howard Staunton (siehe Artikelbild) herausgegeben. Er war auch der Organisator der Veranstaltung und einer der 16 Teilnehmer. Er galt im Vorfeld sogar als großer Favorit auf den Turniersieg. Eine solche Konstellation ist heutzutage kaum mehr vorstellbar. Es wäre so, als ob Vishy Anand das aktuelle Londoner Turnier als Organisator, Pressechef und Spieler in Personalunion bestreiten würde.


Staunton wurde übrigens in der dritten Runde (das Turnier fand im K.O.-System mit Mini-Matches statt) von Adolf Anderssen besiegt, welcher auch im Finale gegen Marmaduke Wyvill siegreich blieb. Zum Abschluss eine kleine Kombination aus der 4. Partie des Finalmatches:

Weiß: Wyvill  Schwarz: Anderssen

{fen}5rk1/p2p3r/1p2pn2/2pPqpp1/P1P1n3/B1PQP1P1/6KP/3R1RN1 b - - 0 25{end-fen}

25...Txh2+ 26.Kxh2 Dxg3+ 27.Kh1 Kg7. 0-1.

 



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