Von IM Dirk Schuh!
Auch nach über 25 Jahren Vereinszugehörigkeit und vielen Turnierpartien ist Schach für mich immer noch faszinierend. Der Grund ist die Vielzahl an Möglichkeiten, die es in jeder Phase der Partie gibt. Mir haben es dabei vor allem die Eröffnungen angetan, in denen ich vor allem unkonventionelle Ideen sehr schätze und auch immer wieder ausprobiere. Es begann in den 90er Jahren des letzten Jahrtausends mit FM Harald Keilhacks und Rainer Schlenkers Werk "1. ...Sc6! aus allen Lagen" aus dem Schachverlag Kania. Gerne erinnere ich mich daran, wie ich mit Freunden die krautige Stellung nach 1.e4 Sc6 2.d4 d5 3.Sc3 dxe4 4.d5 Se5 5.Lf4 Sg6 6.Lg3 f5 rauf und runter analysierte und so manche Partie auf der Rasierklinge ritt. [Ich auch! :-), gez. Der Setzer]
Später kamen dann königsindische Aufbauten nach 1.e4 gegen so ziemlich alles dazu und nach dem ersten Band der "Schach ohne Scheuklappen"-Reihe von New in Chess, in der jeweils nebenvariantige Häppchen in Artikeln so gut aufbereitet wurden, dass man sie sofort spielen wollte, war eh alles vorbei. Später habe ich mich dann generell etwas solider aufgestellt, um noch das Lebensziel des IM-Titels zu erreichen, aber manchmal ist mir einfach nach etwas besonderem zumute. Hilfreich ist dabei sicher auch "Unconventional Approaches to Modern Chess Volume 2" von Großmeister Alexander Ipatov aus dem Hause Thinkers Publishing.
Im ersten Band wurden diverse interessante Eröffnungsansätze für Schwarz fernab der Schablone vorgestellt, nun darf Weiß krauten, was das Zeug hält. Der Aufbau ist dabei wieder wie zuvor. Es gibt einige Varianten in gängigen Systemen, die dem ganzen eine etwas andere Richtung geben als sonst, aber auch ziemlich abgefahrenes Zeug. Als e4-Spieler muss man dabei aber sehr stark sein. Nur eine interessante Eröffnungsidee gibt es zu bestaunen und die ist auch noch recht speziell, weshalb man sie auch hätte weglassen können. Ich hatte sowas aber schon befürchtet, denn erstens ist der Autor ganz klar ein Verfechter von 1.d4, 1.c4 und 1.Sf3 und zweitens ist der oft recht konkrete Charakter der Stellungen nach 1.e4 nicht unbedingt förderlich, viele neue Ideen in bekannten Stellungen zu finden.
Was hat das Buch jetzt zu bieten? Natürlich kann ich hier nicht jede Idee aufzeigen, möchte aber doch ein paar Beispiele nennen, um den möglichen Lesern zu zeigen, worauf sie sich einlassen. Ein häufiges Motiv sind Raumgewinne oder Bauernstürme am Königsflügel. Es fängt gleich mit dem guten, alten abgelehnten Damengambit ein. Weiß steht hier oft mit seinem kleinen Raumvorteil nach 1.d4 d5 2.c4 e6 etwas besser, aber wenn Schwarz sich auskennt, kann es doch etwas langweilig werden. Bei GM Ipatov sieht das dann so aus: 3.Sf3 Sf6 4.Lg5 ist schon etwas ungewöhnlich, kann aber nach einem eingestreuten Sc3 immer noch sehr normal werden, weshalb Schwarz wohl einfach seine Schablone runterspielt. Also kommt Le7 5.e3 0-0 6.Dc2 h6 7.Lxf6 Lxf6, aber plötzlich folgt 8.h4 und Weiß deckt seine Karten auf.
Trügerische Idylle mit Erdbeerkuchen, denn: Schach ist ein Kampfspiel
Er möchte mit g4-g5 einen Sturmangriff auf den schwarzen König spielen. Antwortet Schwarz klassisch mit dem Gegenschlag im Zentrum, also 8. ...c5, folgt 9.g4 cxd4 10.g5 und schon sieht es recht trübe für ihn aus. Hier sieht man auch die Idee des Zurückstellens von Sc3, denn sonst wäre dieser nach cxd4 angegriffen. Der Autor gibt hier mit 10. ...Da5+ 11.Sd2 dxe3 12.fxe3 Le7 13.gxh6 gxh6 14.Tg1+ Kh8 15.0-0-0 und ein paar mehr Zügen noch eine kurze Orientierungshilfe und analysiert neben 8. ...c5 auch noch 8. ...c6, 8. ...g6 und 8. ...Sc6 sehr genau und gewissenhaft, um dem Leser eine gute Waffe gegen diese Variante zur Hand zu geben. Aber natürlich geht da noch mehr. Der moderne Trend in den Eröffnungen geht immer mehr zu 1.c4 oder 1.Sf3, die auch ineinander übergehen können.
Durch das Zurückstellen von d4 herrscht noch weniger Spannung im Zentrum und man hat mehr Freiheiten an den Flügeln, in unserem Fall natürlich am Königsflügel. Unter dem Namen Mamedyarov Angriff präsentiert der Autor eine weitere Idee gegen die klassischen Damengambitler. Nach 1.c4 Sf6 2.Sf3 e6 3.e3 d5 4.b3 Le7 5.Lb2 0-0 sieht die Stellung erst nicht ganz so spannend aus, aber der Autor präsentiert nun 5 hochklassige Modellpartien, die zeigen, wie man hier und in verwandten Stellungen etwas Pepp kreieren kann. Zum Beispiel kam in der Partie Mamemdyarov-Karjakin aus Saint Louis 2018 nun nach Zugumstellung 6.Tg1 b6 7.g4 c5 8.g5 Se4 9.d3 Sd6 10.h4 und Weiß hatte einen schönen Raumvorteil, der ihm später einen starken Königsangriff brachte. Weiter hinten im Buch wird diese Idee sogar schon nach 1.Sf3 d5 2.c4 e6 3.g4 entkorkt, um Raum zu gewinnen und den Gegner zu provozieren.
Neben diesen Bauernvormärschen gibt es aber auch noch andere Ideen. Eine mittlerweile recht respektierte gibt es mit dem Jobava Angriff, der nach 1.d4 d5/Sf6 2.Sc3 Sf6/d5 3.Lf4 entsteht. Er bietet eine recht theoriearme Waffe gegen die beiden Hauptzüge und führt wegen der frühen Drohung e4 meist zu der oben gezeigten Stellung, in der Weiß oft mit f3, g4, h4 am Königsflügel Raum gewinnt oder auf e3, Ld3, Sge2, 0-0, Dd2, Tad1, Tfe1 mit einer soliden Stellung setzt, in der Großmeister Baduur Jobava schon einige tolle Partien gewann, die der Leser in diesem Buch in gut kommentierter Form kennenlernen kann.
Daneben fand ich als letztes Beispiel auch die Gambitideen in der Slawischen Eröffnung ganz gut. Die erste brachte eine schmerzhafte Erinnerung in mir hoch, weil ich nach 1.d4 d5 2.c4 c6 3.Sf3 Sf6 4.Sc3 dxc4 5.e4 b5 mit Schwarz einmal mächtig unter die Räder des weißen Angriffes kam. Mein Gegner spielte damals das anerkannte Geller Gambit mit 6.e5, aber das ist für das vorliegende Buch zu gut ausanalysiert. Zum Glück kam zuletzt das etwas ruhiger aussehende 6.Le2, das aber auch schon niemand geringeres als Weltmeister Magnus Carlsen gespielt hat. Es bringt etwas frischen Wind in diese Variante und wird in einer gut kommentierten Partie präsentiert, die Lust auf mehr macht. Ebenfalls sehr interessant wirkte auf mich aber auch die Idee nach 1.d4 d5 2.c4 c6 3.Sf3 Sf6 4.Sc3 a6 5.Dc2. Schwarz spielt eine meiner alten Lieben, das Chebanenkosystem, und Weiß geht es nach b5 mit 6.e4 hart an. Nach dxc4 7.b3 spielt Weiß auf eine typische positionelle Kompensation. Ich hätte mir hier ein paar Varianten nach cxb3 gewünscht, da der Partiezug Da5 zwar kämpferisch, aber nicht unbedingt natürlich wirkt. Das ist hier und da ein kleiner Kritikpunkt, aber meist bekommt der Leser alles mitgeliefert, um die jeweilige Variante gleich erfolgreich ausprobieren zu können.
Bei der Darstellung der Systeme gibt wie beim Vorgänger zwei Arten. Mal wird aus vielen Partiefragmenten und eigenen Analysen ein Bild der Variante gezeichnet, mal gibt es eine interessante Partie als Aufhänger, in der die typischen Ideen in verbalen und Analyse-Kommentaren aufgezeigt werden.
Insgesamt kann ich sagen, dass hier für Freunde der geschlossenen Eröffnung viele moderne und überraschende Ideen aufgezeigt werden, die viel Gift mitbringen. Der Autor ist dabei aber dennoch stets objektiv und versucht nicht, in jeder empfohlenen Variante Vorteil zu zeigen, zeigt aber in den unklaren Stellungen dennoch genug Ideen, dass man aufgrund des Wissensvorsprunges gut gewappnet sein sollte. Ich kann dieses Buch sehr empfehlen, wenn man einmal Lust auf weniger ausgetretene Pfade und skurrilere Stellungen hat!
IM Dirk Schuh
Juni 2020
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