Skandal in Zürich?

Es passiert nicht oft, dass ich ganz spontan und ein bisschen wütend etwas schreibe - heute ist es soweit. Um eingangs Schach mit der viel populäreren Sportart Fussball zu vergleichen: Im Fussball ist unentschieden in einzelnen Partien möglich, Gleichstand am Ende eines Wettbewerbs (z.B. 34 Runden in der deutschen Bundesliga) dagegen ziemlich selten - und dann gibt es noch das Torverhältnis als absolut logischen Tiebreaker. Verlängerung und Elfmeterschiessen gibt es daher auch nur ausnahmsweise. Im Schach ist Remis in einzelnen Partien ein logisches Ergebnis (auch wenn es Zuschauer gibt, die das nicht mögen - und Spieler wie Jobava die alles tun damit eine Partie nicht remis endet), und Gleichstand am Ende eines Turniers insgesamt wohl weder Regel noch Ausnahme sondern ca. fiftyfifty. Das ist eben so, aber es gibt Leute (Veranstalter, Journalisten, Zuschauer) die doch unbedingt einen Sieger haben wollen. Manchmal (z.B. im Kandidatenturnier) muss das so sein, bei anderen Gelegenheiten nicht unbedingt - aber es kommt immer mehr in Mode. Im Fussball gibt es wohl keine Elfmeterschiessen-Spezialisten - das, den Druck in dieser Situation, kann man kaum üben oder simulieren, und es gibt keine aparte Disziplin "Elfmeterschiessen", das ist immer nur Nachtisch nach 120 Minuten. Im Schach gibt es durchaus Blitz-Spezialisten.

Drei Turniere relativ neuen Datums: In Gibraltar 2014 war Cheparinov am Ende ein aus meiner Sicht paradoxer Sieger - warum ich das so sah und sehe habe ich anderswo erläutert. Kurzfassung: Er spielte "Schweizer Gambit" und erzielte im Turnier 8/10 - wie Ivanchuk und Vitiugov, allerdings gegen deutlich schwächere Gegner. Dann hatte er im fälligen Blitz-Tiebreak zunächst Losglück und setzte sich dann durch. Tücken von Schweizer System plus Tiebreak-Regeln, aber immerhin stand das von Anfang an in den Regeln.

Dann, wohl noch frisch in Erinnerung, Baden-Baden 2015. Auch da hatten die Regeln einen Tiebreak vorgesehen, wenn auch etwas unklar formuliert. Das wurde dann ein grosses Spektakel, auch weil Aronian und Caruana es live mit kommentierten - sehr unterhaltsam aber für mich ziemlich losgelöst vom Turnier mit klassischer Bedenkzeit, das zwei Sieger hatte. Carlsen gewann am Ende. Ich bekam Ärger mit Carlsen-Fans weil ich Naiditsch als moralischen Sieger bezeichnete - OK, Ansichts- oder Geschmackssache.

Und nun, ganz frisch, Zürich 2015. Hier entschieden die Organisatoren offenbar spontan während dem Schnellturnier, dass es bei Gleichstand noch Blitz und Armaggedon geben würde. Dazu kam es, und dann das: Nakamura sass am Brett und wartete auf seinen Gegner Vishy Anand - geplant waren zunächst zwei Blitzpartien und dann eventuell Armaggedon. Dann stellte sich heraus, dass Anand offenbar protestierte - Kompromiss, wie auch immer er entstand: Armaggedon, und zwar sofort. Mein Eindruck zu dieser Partie: Anand protestierte immer noch, nun am Brett mit seiner bizarren Partieanlage. Das sieht zumindest Europe Echecs genauso: "il suffit de rejouer ce blitz final pour s'aperçevoir qu'Anand n'avait pas du tout envie de le jouer !" - Man muss die Partie nur nachspielen um fest zu stellen, dass Anand absolut keine Lust hatte! Nakamura gewann.

Ich weiss nicht, ob es bereits Reaktionen von den Spielern gibt. Sagte Nakamura etwa "in the end I won and that's all that matters"? Fand Anand diplomatische oder auch nicht so diplomatische Worte? Irgendwie habe ich den Eindruck, Nakamura 'sollte' endlich sein zweites Superturnier gewinnen. Auch wenn seine Blitzstärke manchmal etwas übertrieben wird, er war sicher Favorit und er mag derlei Spektakel wohl mehr als Anand.

Persönlich bevorzuge ich, sofern möglich, wenn Turniersiege offiziell geteilt werden. Gängiger Einwand: "Das gibt es in keiner anderen Sportart!" - aber das ist eben ein Gebiet auf dem Vergleiche zwischen Schach und anderen Sportarten begrenzt sinnvoll sind. Ich mag "mein Turnier in Wijk aan Zee" bei dem ich auch dieses Jahr wieder Eindrücke hinter den Kulissen sammeln konnte. Am letzten Tag gab es eine, wenn auch eher kleine Chance, dass gleich fünf Spieler punktgleich vorne liegen würden - ich fragte Pressechef Tom Bottema "und dann?". "Dann teilen wir alles: Preisgeld, Pressekonferenz, Foto mit dem Pokal - nur müssen wir die Spieler irgendwie ordnen und einer darf den Pokal dann mitnehmen".

Soweit mein Schnellschuss, der vor allem Diskussionen auslösen soll.

 

Kommentare   

#1 wok64 2015-02-20 09:33
Lieber Thomas,

die zu klärende Frage ist aus meiner Sicht, ob die Organisatoren tatsächlich kurzfristig die Regularien geändert haben, oder ob der Fehler auf der Webseite lag. Die Tatsache, dass zunächst eine Serie von Blitzpartien anberaumt wurde und dann nach Protest von Vishy direkt Armageddon gespielt wurde, deutet darauf hin. Auch die Tatsache, dass der sonst sehr gutmütige Vishy überhaupt protestiert hat, scheint ein hinreichender Hinweis zu sein.

Schach zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass man sich hinsetzt, über seinen Zug nachdenkt und dann zu der getroffenen Entscheidung steht. Das sollte auch für Organisatoren gelten. Leider weist die FIDE selbst bereits eine unerfreuliche Geschichte an nachträglichen Ablaufänderungen auf (Stichwort: Weltmeisterschaftszyklus).

Ich habe generell nichts dagegen, einen Turniersieger durch Blitzpartien entscheiden zu lassen. Letztlich kann der Turnierveranstalter festlegen, was immer er will. Jeder Spieler kann dann selbst entscheiden, ob er das akzeptieren möchte oder lieber dem Turnier fern bleibt. Aber die Regularien sollten vorher bekannt sein und dann auch eingehalten werden.

Wolfgang
#2 Olaf Steffens 2015-02-20 14:09
Hallo Thomas, Du Wutbürger,

Du hast ganz Recht, es ist sehr sehr unschön, wie es in Zürich geendet hat, und Anand hätte der Sieger sein müssen. Erstaunlich, wie Organisatoren während des Wettbewerbs noch die Regeln zu ändern versuchen, und damit dann auch noch Erfolg haben. Vielleicht hat ihnen das tolle Finale von Baden-Baden so gut gefallen? Aber dennoch, so etwas gehört sich nicht, und es ist schade für Anand, dass ihm so der erste Preis genommen wurde.
Im Chessmind-Blog empfiehlt Dennis Monokroussos, dass Vishy das Blitzen hätte verweigern sollen - das hätte Stil gehabt, und ich finde, Dennis hat damit Recht:

"Anand probably should have told the organizers to take a flying leap, as his great predecessors Bobby Fischer, Anatoly Karpov, Garry Kasparov and Vladimir Kramnik surely would have done. No doubt he would have done it in a very gracious way, but that is what he should have done. If it's necessary to declare a winner I'm all in favor of playoffs as a way of breaking ties, but this was ridiculous. You simply don't change rules - rules that weren't unfair to begin with - right at the very end of a tournament, especially without the players' prior consent."
#3 Thomas Richter 2015-02-20 17:56
Der Artikel sollte drei Fragen aufwerfen, die ich jeweils aus meiner Sicht beantworte: Ist ein Blitz-Stichkampf sinnvoll? Ja, meinetwegen WENN das von Anfang an klar war. Braucht man das immer und überall? Nein. Darf man dafür auch kurzfristig die Regeln ändern? Nein, nein, nein.

Wolfgangs Frage kann wohl eindeutig beantwortet werden: Fast alle Quellen schreiben, dass das eine spontane 'Eingebung' kurz vor Turnierschluss war - bewerten das allerdings unterschiedlich. Nur die Turnierseite tut so, als ob es von Anfang an klar war: "according to the regulations, a single Armageddon blitz game had to decide on the overall winner". Das ist so wohl schon deshalb falsch, weil zunächst zwei Blitzpartien geplant waren.

chess24 hat noch ein kleines 'Detail' verraten: das Preisgeld wurde gleichmässig geteilt (was andere Quellen mit grösserer Nähe zu Nakamura und/oder Zürich nicht erwähnen). Damit war dieser Armaggedon eine recht sinnfreie Show, und Anand hat sich dann am Brett dementsprechend verhalten.
#4 MWoltmann 2015-02-21 13:36
Hey Thomas, Du hier?:-)
Spontane Regeländerungen sind natürlich doof, falls es wirklich so war. Aber diese Blitzentscheidungen haben ihren Reiz! Der Baden-Badener Blitz-Krimi war jedenfalls ziemlich fesselnd.
Bei Kanidatenturnieren oder gar Weltmeisterschaften im klassischen Schach finde ich Schnellschach oder Blitz-Tiebreaks sehr unglücklich.
#5 Krennwurzn 2015-02-21 18:39
Was bleibt von Zürich - Anand hat den klassischen Part gewonnen!

Wer Blitz, Schnell oder Kombi gewinnt ist letztendlich uninteressant, daher würde auch nicht von einem Skandal sprechen.

Und Armaggedonentscheidungen haben eben einen hohen Spannungsreiz und Showeffekt und das sollten Profis schon akzeptieren können - auch wenn das nachträgliche Einfügen ohne Einfluss auf die Preisgeldverteilung schon ein wenig komisch anmutet! Man sollte bitte nicht vergessen Profis können vom Schach leben, nicht weil sie so gut sind, sondern weil es das Zuseherinteresse gibt, das das alles im Endeffekt finanziert!
#6 Thomas Richter 2015-02-22 10:04
@Krennwurzn: "Was bleibt von Zürich - Anand hat den klassischen Part gewonnen!" So siehst Du das. Ich sehe es ähnlich, wobei das Schnellturnier durchaus auch interessant war mit einem (vom Verlauf einiger Partien her) überraschenden Sieger Kramnik.

Aber was bleibt langfristig in Erinnerung, was taucht nächstes Jahr in der Vorschau zu Zürich 2016 auf? Am ehesten "Nakamura hat gewonnen". Vielleicht reduziert man das Turnier auf die eine Armaggedon-Partie und wie sie zustande kam - das wäre dann auch den Ausrichtern gegenüber unfair, aber dieses Eigentor haben sie selbst geschossen.

"Armaggedon ist Spektakel für Zuschauer" - ja, aber im gegebenen Fall haben (auf anderen Schachforen) auch Zuschauer diese 'überraschende Wendung im Turnier' kritisiert.
#7 Krennwurzn 2015-02-22 12:48
Kritisiert wurde vor allem doch, dass dieses Spektakel nicht angekündigt war, denn zB Klaus Bischoff hat bei ChessBase die Übertragung beendet, weil es einfach keine Informationen zu einem möglichen Tiebreak gab. Ich denke es war einfach eine schnell gekochte Spontanidee - Gleichstand - ok dann machen wir noch schnell ein Tiebreak! Überbewerten würde ich das nicht und denke Vishy sieht das auch so locker, denn eine negative Auswirkung auf die Geldbörse wird es nicht gehabt haben und ob er nun ein Turnier formal mehr oder weniger gewonnen hat, beschäftigt wohl nur die Erbsenzähler - äh Statistiker :lol:
#8 Krennwurzn 2015-02-23 13:57
"Alles korrekt in Zürich"
Quelle: http://de.chessbase.com/post/alles-korrekt-in-zuerich

Zitat (Rechtschreibfehler korrigiert)

Nachdem Anand nach seiner Rückkehr vom Turnier von den Gerüchten gehört hatte, hat er sich dazu geäußert. Er zeigte sich sehr überrascht, dass diese Gerüchte in Umlauf gebracht wurden, da sie jeder Grundlage entbehrten. Die Stichkampfregelung im Falle von Punktgleichheit sei allen Spielern, auch ihm bekannt gewesen. Wenn er überhaupt unzufrieden gewesen sei, dann nur mit der Qualität seines Spiels im Schnellschachturnier.

Anand im Original auf Twitter
https://twitter.com/vishy64theking
#9 Thomas Richter 2015-02-23 18:47
Hmm, irgendwie passt das nicht zu
1) Anands Verhalten vor dem Stichkampf,
2) dem was inzwischen auf der Turnierseite steht: "According to the regulations, a tiebreak armageddon had to be played to determine the overall winner. ... There has been some confusion before the last round of the Rapids, as not all participants were completely aware of the tiebreak rule. As a consequence and concession, it was decided to share the prize money for 1st place equally. The organisers wish to express their regrets towards Mr Anand and Mr Nakamura and apologize for any inconveniences." Ob die vier anderen Teilnehmer die Tiebreak-Regeln kannten oder nicht ist doch irrelevant?
3) der recht harschen Stellungnahme der Chess-Tigers die sie nur in einer Hinsicht korrigierten: "Wie wir mittlerweile erfahren haben, war es jedoch nicht der Unterstützer, sondern der Veranstalter, der seinem Geldgeber einen Gefallen tun wollte. Man wollte Oleg Skvortsov schlicht mehr Show bieten, um welche er allerdings nie gebeten hatte."

Will Vishy nun die Wogen glätten? Ist dieser Twitter-account überhaupt authentisch? vishy64theking passt nicht unbedingt zu Anands Charakter!?
#10 Krennwurzn 2015-02-24 12:33
"Viswanathan Anand @vishy64theking" ist der Twitteraccount von Anand das lässt sich leicht mit Google feststellen.

Die ChessTiger haben auch in ihrem Artikel den kompletten Tweet (6 Stücke) veröffentlicht:

"Nice to b back after a good event. I was quite surprised 2 know that people on social media & websites have implied that I was unhappy with the tiebreak or the interpretation of rules.I would just like to say I was never dissatisfied with the tiebreak, The only thing I was angry was my own play in the rapid. I am quite surprised that people have been spreading rumors on various forums without checking the actual facts. As a sportsperson we play according to the rules of the game and accept the results. The rules in this case were fair Personally I was very happy that I was able to play good chess in Zurich. and this would not have been possible if the conditions of play were not excellent. Now for some humpty dumpty time with akhil!"

Quelle:
http://www.chess-tigers.de/index_news.php?id=102897&rubrik=3&PHPSESSID=6101292a936a656602ef3ffb770c9b1d

ad Twitter von ChessBase
http://en.chessbase.com/post/nyt-india-swoons-over-its-che-champ

Look who's tweeting – yes, it is really Vishy the King, with a cartoon by R. K. Laxman, India's greatest cartoonist in is login. He wanted his account to be "Vishy Anand", but found that "some guy is having a nice time with it." As you probably know Twitter has a character limit of 140 – postings cannot be longer than that. Watch Anand, like everybody, inch his way to the limit.

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