Zum Titelbild: Weiss am Zug, was tun? Jedenfalls nicht die Partiefortsetzung 20.Tb1?? Df2+ 21.Kh3 Se3+ 0-1. Diverse Züge sind besser, aber a) Was ist der beste Zug? b) Was ist dann die (Computer-)Beurteilung der Stellung bei beiderseits bestem Spiel? c) Was kann passieren, wenn Schwarz plausibel aber nicht optimal reagiert? Der Leser darf selber darüber nachdenken - aber da es viele vermutlich überfordert, werde ich später die Lösung verraten. Thema dieses Artikels ist unter anderem "unglaublich, was Computer mitunter finden" - illustriert mit drei Fragmenten: zwei zwischen unbekannten Amateuren (einer der vier ist als Schach-Schreiberling hier und anderswo ein bisschen bekannt), und eine - chronologisch die erste - zwischen bekannten Grossmeistern, daher stammt auch der Titel dieses Beitrags. Das war schon einige Zeit geplant, nun ist es quasi auch eine aktuelle Antwort auf IM Jeremy Silman ("A Chess Engine is NOT Your Friend!"). In diesem Beitrag schreibt Silman, dass Amateure Computer sparsam bis gar nicht verwenden sollten. Stattdessen sollen sie ihre Partien selber analysieren, Bücher und Trainer können wohl auch helfen und indirekt empfiehlt er wohl den Buchautor und Schachtrainer Jeremy Silman. Gesehen hatte ich das zunächst bei Dennis Monokroussos (nebst Diskussion in die ich mich auch ein bisschen einmischte).
Hintergrund: Mein Verein ist letztes Jahr aufgestiegen und damit mal wieder "erstklassig" in der Provinz Noord-Holland - wobei es hierzulande über der ersten regionalen Spielklasse noch die 'Promotieklasse' gibt, und überregional bis national über der ersten Klasse noch die 'Meesterklasse'. 2006/2007 waren wir schon einmal erstklassig und sind damals recht souverän wieder abgestiegen - diesmal haben wir auf dem Papier bessere Chancen, die Klasse zu halten, ob es klappt wissen wir am Ende der Saison. Ich schlug vor, Partien aus Mannschaftskämpfen am nächsten Vereinsabend gemeinsam zu analysieren. Da habe ich mir was eingebrockt: "der Journalist" darf das nun vorbereiten und koordinieren. Das heisst (Handschriften entziffern), Partien in Chessbase eingeben und acht Partien vorab untersuchen. In der Kürze der Zeit und überhaupt schaffe ich das nur mit Hilfe von Engines. Deren Verbesserungsvorschläge fallen grob gesagt in zwei Kategorien: 1) Das konnte man auch selbst finden, und vielleicht kann man ähnliche Ideen/Pläne demnächst mal in ähnlichen Stellungen/Strukturen verwenden. 2) "typische Computervarianten" - darüber kann man vor allem staunen und sie vielleicht ansatzweise verstehen. Allerdings ist es recht unwahrscheinlich, dass man auch nur ansatzweise vergleichbare Motive später mal recyclen kann - dafür ist Schach zu kompliziert!
Genug der Vorrede, steigen wir ein in die Partie Thomas Richter (1964) - Marcel Duin (1852), gespielt am 1.11.2014. Ich will sie nicht komplett analysieren, aber doch andeuten wie es zu der Schlüsselstellung kam. So: 1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sd2 Sf6 4.e5 Sfd7 5.f4!? Eine scharfe Variante, früher spielte z.B. Schirov das gelegentlich und mit wechselndem Erfolg, inzwischen ist es jedenfalls auf hohem Niveau ziemlich selten. Ist es objektiv schlecht, zu riskant oder einfach aus der Mode? Auf Amateurniveau ist es relativ irrelevant, was Grossmeister davon halten? Ich spielte das bis vor ca. 15 Jahren regelmässig, seither nicht mehr. An diesem Tag spekulierte ich auch darauf, dass der Gegner es vielleicht nicht kennt. Tatsächlich begann er zu überlegen, folgte dann aber der Theorie. Nach der Partie sagte er "Ich musste 'wie ging das nochmal?' rekonstruieren". 5.-c5 6.c3 Sc6 7.Sdf3 cxd4 8.cxd4 Lb4+ (häufiger ist erst 8.-Db6 9.g3 Lb4+, aber so wird es eine Zugumstellung) 9.Kf2 (hier ging auch 9.Ld2) 9.-Db6 10.g3 g5!? immer noch Theorie - findet man das am Brett wenn man die Variante nicht kennt? Hier verabschiedete ich mich von der Illusion, ihn vielleicht auf dem verkehrten Bein zu erwischen. 11.fxg5 In irgendeinem Buch steht "just play this open position!". Mein Gegner hinterher: "Ja, so ähnlich ist auch meine Schachauffassung". 11.-Sdxe5 12.Kg2 "normal" ist 12.Sxe5 Sxe5 13.Kg2 und nun 13.-Sc6 oder 13.-Sc4 12.-Sg6 gut, das ist auch ein Feld für den Springer. "Irgendwann" kann man ihn vielleicht mit h2-h4-h5 belästigen was natürlich die eigene Königsstellung schwächt ... . 13.Se2 Ld7 14.Sc3 im Nachhinein gefällt mir 14.a3 Ld6 15.Sc3 besser, verhindert vorläufig wohl e6-e5. 14.- 0-0-0 15.a3 Lxc3 sah ich als grosser Freund des Läuferpaars zunächst gerne, aber es gibt andere konkrete Faktoren in der Stellung 16.bxc3 e5! 17.dxe5 Scxe5 (17.-d4 ist kompliziert und gut für Schwarz) 18.Sxe5 Sxe5 19.Lf4? Hinterher schauten wir uns 18.Dd4 an und waren uns einig, dass Weiss in diesem Semi-Endspiel etwas besser steht. Houdini teilt diese Auffassung nicht aber empfiehlt auch 18.Dd4. 19.-Sg4 bekommt von Houdini auch ein Fragezeichen (19.-Lf5, 19.-Sg6 jeweils mit schwarzem Vorteil). Das von mir etwas befürchtete 19.-Lc6!? 20.Lxe5 d4+ 21.Kh3 dxc3 bewertet er nach diversen weissen Damenzügen mit 0.00. Und nun haben wir das Titeldiagramm, ich bringe es nochmals:
Weiss am Zug, was tun? Houdinis Antwort lautet 20.Dd4! Schön und gut, und nun ist Damentausch wie auch immer gut für Weiss (u.a. da der Sg4 dann wacklig steht) aber da geht doch 20.-Db2+ !? Houdini sagt "kein Problem". Eine Variante lautet nun 21.Kg1 Dxa1 22.Dxa7 Lc6 23.Da5 Kd7 24.h3 usw. 0.00, irgendwie gibt Weiss offenbar Dauerschach. Gleichwertig ist 21.Kf3!? und nun ist 21.-h5 der einzige Zug für Schwarz! Und nun ist sowohl 22.h3 absolut 0.00, als auch 21.gxh6 Txh6 22.Lxh6 Dxa1 (bzw. auch 22.-Sxh6) 23.Lf4 Sxh2+ 24.Kf2.
Findet ein Amateur 21.-h5 ? Und warum denn nicht 21.-Dxa1 ? Wegen 22.Dc5+ Lc6 23.Kxg4
und Weiss gewinnt (+7 oder so), es droht unter anderem Kh4 nebst Lh3+. Eine der verrücktesten Computervarianten, die mir jemals begegnet sind - konnte ich (falls Schwarz 21.-h5 nicht findet) glanzreich gewinnen statt blamabel zu verlieren? Wenn ich das Schach auf f2 nicht komplett übersehen hätte, dann hätte ich vielleicht so gespielt - da Alternativen im 20. Zug wie z.B. 20.Ta2 (was mein Gegner als erzwungen betrachtete) ziemlich hässlich sind. Früher hatte ich mitunter vergleichbare Stellungen in dieser Variante: der weisse König steht auf g4 sicher, dem schwarzen König geht es an den Kragen. Das waren vor allem Blitzpartien: da hat man wenig Zeit um zu überlegen, noch weniger Zeit um sich Sorgen zu machen, also spielt man einfach drauflos!
Wie eingangs erwähnt, kurz davor (am 28.10.2014) gab es auf etwas höherem Niveau eine ähnlich überraschend-absurde Variante: Karjakin-Giri, gespielt beim Grand Prix in Taschkent. Die Diagrammstellung unten hätte nach 13.Sdxb5 (statt - Partie - 13.fxe5) 13.-axb5 14.Lxb5+ Ke7 15.fxe5 Sxe3 entstehen können:
Nun ist 16.Dxe3 für Schwarz noch einigermassen OK, aber 16.Df4!! ist 'absolutely crushing'. Unter anderem scheitert nun 16.-f5 oder 16.-f6 am Doppelangriff 17.exf6+ (auf Ke7 und Dc7). Giri dazu hinterher: "16.Df4 is sick- aber nicht verwunderlich dass Weiss hier gewinnt bei so vielen Figuren auf der schwarzen Grundreihe."
Und noch ein Beispiel aus der Ersten Klasse NHSB (Noord-Hollandse Schaakbond), mein Teamkollege hat Schwarz:
Johan Plooijer (1777) - Jaap de Wijk (1648), Stellung nach 36.-Txf3? 37.Dxg5+ Kf8:
Zuvor geschah u.a. 29.-g5?! was die schwarze Königsstellung freiwillig, permanent und unnötig schwächte, und kurz danach hat Weiss eine Figur einzügig eingestellt. Aber warum war 36.-Txf3? ungenau, was muss Weiss nun spielen damit Houdini auf 0.00 besteht? Kleiner bzw. nicht so kleiner Hinweis: nicht etwa 38.Kg2? Tf2+! . Den besten (und einzigen) weissen Zug kann man vielleicht finden, auch wenn man nicht alle weiteren Varianten sieht - daher verrate ich die Lösung nicht. Das war am Samstag der 13. Dezember - für uns ein Glückstag da unser Gegner (Konkurrent im Abstiegskampf) an vier Brettern verfrühte Weihnachtsgeschenke verteilte, u.a. misshandelte mein Gegner ein gewonnenes Läuferendspiel und verlor noch. Dadurch gewannen wir insgesamt 5,5-2,5 und haben uns auf den vorletzten Platz verbessert. Da zwei Teams absteigen, haben wir gute Vorsätze für 2015: in den drei verbleibenden Mannschaftskämpfen noch mindestens ein Erfolgserlebnis. Vermutlich/leider sind wir nicht das einzige Team mit guten Vorsätzen für 2015, und mitunter sind gute Vorsätze bereits Ende März (dann wird die letzte Runde gespielt) Makulatur. Noch ist es nicht soweit, in diesem Sinne wünsche ich den Lesern frohe Weihnachten und (es sei denn ich schreibe zwischendurch nochmal was) einen guten Rutsch in das Neue Jahr!
Kommentare
Frohe Feiertage!
Till
In Teufels Küche ist Schwarz nicht unbedingt - es sei denn er greift nochmal daneben. 38.-Ke8 39.De5+ Kf8 40.Dg5 ist eine Möglichkeit - es gibt noch diverse andere Varianten mit am Ende Dauerschach.
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