Two days in London

Was war das für ein Finale beim Kandidatenturnier in London! Dramatisch war's, kurios auch, nervenaufreibend, emotional, historisch - und ich war dabei. "Zufällig" hatte ich schon ein paar Wochen vorher meinen Oster-Kurzurlaub (Samstag bis Dienstag) in London gebucht und ich war dann auch wirklich zur richtigen Zeit am richtigen Ort, d.h. ich konnte die beiden letzten Runden live verfolgen. Diese Tage werde ich so schnell nicht vergessen. Was Schach betrifft, habe ich noch nie etwas Mitreißenderes erlebt. Die besten Spieler der Welt hautnah, ein Wechselbad der Gefühle, Hochspannung bis zur letzten Minute - und am Ende gewinnt auch noch mein Lieblingsspieler, Wahnsinn.

Schon bald war mir der Gedanke gekommen, dass ich für die Blogleser hier einen Stimmungsbericht verfassen könnte. Inzwischen bin ich seit über einer Woche wieder zu Hause und habe schon ungefähr zwanzig Mal erfolglos dazu angesetzt, etwas zu schreiben. Es ist nicht so, dass mir nichts einfallen würde, im Gegenteil fällt mir viel zu viel ein; ich bin immer noch ziemlich überwältigt von all den Eindrücken. Diese zu kanalisieren und in passende Worte zu kleiden, erweist sich als noch schwieriger, als ich anfangs dachte. Ich war ja nicht als neutraler Beobachter da, sondern in erster Linie als Carlsen-Fan. Und was habe ich gezittert und gebangt, meine Güte! Wenn man vor Ort dabei ist, hat es einfach eine ganz andere Intensität, als wenn man lässig zu Hause vor dem Computer sitzt, womöglich mit laufender Engine im Hintergrund. Man versteht viel besser die menschliche Ebene. Auch die vermeintlichen Halbgötter mit ihren gigantischen Elozahlen sind Menschen aus Fleisch und Blut, jeder ist anders veranlagt, aber alle sind von Emotionen geprägt. Was der Computer anzeigt, mag wissenschaftlich interessant sein, hat aber oft herzlich wenig mit dem zu tun, was in den Köpfen der Spieler vorgeht. Es ist auch z.B. einfach, aus der Ferne über Iwantschuks Zeitüberschreitungen zu lästern. Aber wenn der Mann wenige Meter vor einem sitzt und man jede Regung in seinem Gesicht studieren kann, beginnt man wenigstens annäherungsweise zu begreifen, wie er denkt, wie er fühlt, wie sensibel er ist. Iwantschuk verhält sich unwürdig, schmeißt leichtfertig oder gar absichtlich seine Partien weg? Wohl kaum.

Wie war denn nun die Atmosphäre vor Ort, wie fühlte es sich an? Zunächst ein bisschen wie Harry Potter, wenn er in Diagon Alley einkaufen geht. Man steht vor dem unauffälligen Gebäude, nichts lässt darauf schließen, was drinnen abläuft, aber man weiß ja Bescheid. Man lässt also die ahnungslosen Muggel stehen, tritt ein wie ein Mitglied einer verschworenen Gemeinschaft und legt seine alltägliche Existenz an der Garderobe ab. Willkommen in der Parallelwelt. Hier sind die Bretter, die die Welt bedeuten, hier im dunklen Halbrund wird Geschichte geschrieben. Nichts auf der Welt ist wichtiger als der nächste Zug. Nur der Tablet-Computer, mit dem man die Kommentare verfolgen können soll, erinnert ein wenig an die materielle Außenwelt. Das Ding funktioniert aber sowieso nicht vernünftig, die Übertragung ruckelt wie verrückt, also weg damit, Atmosphäre einsaugen. Nobles Ambiente hier drin, aber egal, entscheidend ist die Gestik und Mimik der Spieler. Was macht Carlsen für einen Eindruck?  Der sonst so lässige Junge sieht angespannt aus, sitzt steif am Brett, manchmal verzieht er gequält das Gesicht. Der Spaßfaktor spielt ja für ihn sonst eine große Rolle, er spielt einfach unheimlich gern Schach. Im Moment macht es aber offensichtlich keinen großen Spaß, der Druck ist immens, aber da muss er durch. 4.Dc2 gegen Nimzo-Indisch von Radja, na gut, das hat er gegen Grischuk auch schon gemacht. Trotzdem starrt Carlsen die Stellung an, als sähe er sie zum ersten Mal in seinem Leben. Was ist los? Mein Gott, bereitet er sich denn gar nicht vor? Was macht eigentlich sein Sekundant in London, außer Sightseeing? Aber wenigstens kommen nach und nach ein paar Züge, auch wenn sie vollkommen improvisiert und nicht sehr überzeugend aussehen. Verrückt wird man hingegen bei der zweiten zentralen Partie des Tages (s. Diagramm):

Kramnik hat gerade 5.e3 gezogen, kein üblicher Zug, aber weiß Gott auch nicht besonders furchteinflößend. Man könnte meinen, dass Schwarz z.B. 5...Lg7 antworten kann, ohne direkt zu verlieren. Aber Gelfand, die alte Schnarchnase, überlegt und überlegt und überlegt. Man wartet, sieht, wie die Zeit verrinnt (10, 20, 30 Minuten...) und wird schier wahnsinnig. Als ob in der Partie nicht noch viel kritischere Momente zu erwarten wären! Irgendwann erfolgt endlich 5...dxc4, Kramnik eilt ans Brett, zieht a tempo 6.Se2 und verschwindet wieder. Und Gelfand verfällt in die nächste Brütphase, nicht zu fassen!

Aber schließlich geht die Partie natürlich doch weiter, ich habe inwischen auch genug gesehen und siedle in den Kommentarraum um, wo eine deutlich lebhaftere Stimmung herrscht. Richtig voll ist es hier, bei weitem nicht alle haben einen Sitzplatz. Vorne gibt Lawrence Trent mit wechselnden Partnern den Chef-Moderator und -Kommentator und er macht es richtig klasse. Jeden Spieltag ist er von Anfang bis Ende da und muss sich den Mund fusselig reden, aber er beweist eine tolle Kondition und ist nie um einen guten Spruch verlegen. Vor allem findet er eine schöne Balance zwischen Sachlichkeit und Unterhaltung. Und langweilig wird es sowieso nicht, schon allein wegen der Turnierkonstellation. 

Vor allem die Partie Kramnik - Gelfand ist natürlich hochinteressant. Zunächst scheint Gelfand die Eröffnung doch ganz gut gemeistert zu haben, aber die Zeit läuft ihm davon. Je näher die Zeitkontrolle rückt, desto höher steigt die Spannungskurve. Gelfand steht kritisch, aber er verteidigt sich prächtig, findet immer wieder Ressourcen. Der ganze Raum fiebert mit, wohl über 100 Leute. Keiner weiß, was los ist. "Kramnik gewinnt!", heißt es zwischendurch, "nee, doch nicht!" Und so weiter. Nach der Zeitkontrolle ist die Lage immer noch unklar, aber zum Glück schaut in diesem Moment Peter Swidler vorbei. Er tut zwar wie üblich so, als hätte er keine Ahnung, sieht aber in einer Minute mehr als Trent & Co. in einer halben Stunde. Tja, deswegen darf er hier auch mitspielen. Der Weltklassemann prophezeit ein Remis und tätsachlich kommt es einige Zeit später auch so. Vorhang auf für Carlsens Endspiel-Magie!

Und damit sind wir bei meinem persönlichen Highlight der ganzen Veranstaltung. Die Schlussrunde war ja auch nicht von schlechten Eltern, aber wie Carlsen dieses Endspiel knetete, hat auf mich einen noch größeren Eindruck hinterlassen. Natürlich war Radjabow nicht besonders gut drauf, aber meine Güte, der Mann hat knapp 2800 Elo und ist (noch) die Nr. 4 der Welt. Und Carlsen drückt ihn aus wie einen Schulbuben! Wobei ich einen Moment herausgreifen möchte, in dem noch einmal richtig Zittern angesagt war:

 Wohin mit dem schwarzen König? Natürlich möchte man gerne nach b7, was die Kommentatoren zunächst auch empfohlen hatten, und auf 76.Sc4 folgt vermeintlich 76...Sc6 "mit sicherem Mehrbauern". Plötzlich stellte man aber fest, dass nach 77.Sb2! dann auf einmal der Läufer weg wäre. Hoppla, das kann man nach so langem Kampf schon mal übersehen! Und just in diesem Moment zieht Carlsen tatsächlich 75...Kb7. Er wird doch nicht etwa... Oh Gott! Alle Carlsen-Fans (ich bin natürlich nicht der Einzige) halten den Atem an, Manager Espen Agdestein mag gar nicht mehr hingucken. 76.Sc4 geschieht, jetzt AUFPASSEN, waaaaa... und man erkennt auf dem Bildschirm, wie Carlsen von der Erkenntnis durchzuckt wird. König zurück nach a6, in nächsten Anlauf nach a7 und weiter geht's. Puh! Man wischt sich die Schweißtropfen von der Stirn, aber Moment mal, wie steht's denn jetzt überhaupt? Carlsen hat zwar einen Bauern mehr, er hat nicht die Figur eingestellt, aber kommt jetzt nicht der weiße König reinmarschiert? 78.Kd4 schon gespielt! Oh je, jetzt wird's konkret. Man versucht zu rechnen, auf den Analysebrettern wird fleißig herumprobiert, wieder weiß zunächst keiner, was los ist. Trent unkt: "Das kann Carlsen auch noch verlieren!" Aaarg! Gibt's eigentlich einen Arzt hier? Aber Radjabow ist inzwischen auch ziemlich fertig und findet nicht die besten Züge. Ehe man sich's versieht, hat Carlsen eine Figur mehr, der Rest ist einfach. Alles bereit zum großen Finale!

 

Am letzten Tag herrscht dann eine Atmosphäre, wie man sie von Schachturnieren wirklich nicht gewohnt ist. Die Räumlichkeiten sind proppevoll und im Analyseraum geht es teilweise zu wie auf einem Rummelplatz. Von links und rechts wird reingerufen, obwohl dies wegen der Internet-Übertragung eigentlich untersagt wurde. Vor allem der direkt neben mir stehende Jonathan Speelman (der immerhin auch schon mal im Kandidaten-Halbfinale war) ist überhaupt nicht zu bändigen und gibt mehr oder weniger laut ständig Zugfolgen und Bewertungen von sich. Auch sonst sind viele englische Prominente da: von der älteren Generation Nunn und Mestel, von den jüngeren Leuten u.a. Jones und Williams, leider lässt Adams sich nicht blicken. Speelmans Prognosen gefallen mir überhaupt nicht: Bei Carlsen wird es remis und Kramnik gewinnt das noch, prophezeit er. So weit sind wir aber noch lange nicht. Die Spannung ist mit Händen zu greifen, mit zunehmender Dauer wird es fast unerträglich, aber man kann ja hier nichts anderes machen als gebannt auf die Bildschirme zu starren und das Beste zu hoffen. Einer hat einen Laptop dabei und analysiert mit Houdini, das gilt nicht! Die Computer-Vorschläge nicht zu kennen trägt außerordentlich zum Reiz der Sache bei. Auch ohne Hilfsmittel wird allerdings mit der Zeit immer klarer, dass beide Führenden die Kontrolle verlieren und somit wohl tatsächlich das eintritt, was vorher nur als Gag vorhergesagt wurde: Carlsen und Kramnik verlieren beide! Aber die Dramaturgie wäre nicht perfekt ohne ein retardierendes Moment: Carlsen hat bereits aufgegeben, Iwantschuk steht kurz vor dem Sieg. Plötzlich wird die Kunde verbreitet, auch die letzte Partie sei vorbei. "Iwantschuk hat Remis angeboten!" Lähmendes Entsetzen - wieso remis? In totaler Gewinnstellung? Iwantschuk schenkt Kramnik den Turniersieg? Skandal, Schiebung, Betrug? Doch da kommt die Auflösung: "April, April!" Tatsächlich, es ist der 1. April und fast könnte man meinen, dass der liebe Gott persönlich sich einen kleinen Scherz erlaubt hat... Mir ist aber eigentlich nicht zum Lachen zumute, sondern ich bin einfach überwältigt. Diese zwei Tage waren so intensiv, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Ein einzigartiges Erlebnis - Schach pur!

 

Michael Schwerteck

Ein paar Hintergrunddaten zu meiner Person: Jahrgang 1981, deutsch-französische Nationalität und Sprachzugehörigkeit, wohnhaft in Tübingen. Von Beruf Jurist und Übersetzer. Nahschach spiele ich in der Verbandsliga (4. Liga), DWZ meist irgendwo zwischen 2000-2100. Seit ein paar Jahren spiele ich auch (in bescheidenem Umfang) Fernschach, aktuelle Elo etwa 2325. Schachpublizistisch tätig war ich früher für chessvibes.com (Kolumne "Beauty in Chess" und ein bisschen Turnierberichterstattung), aktuell schreibe ich aber, abgesehen von meiner Tätigkeit hier, nur auf Vereinsebene.

Webseite: koenigskinderhohentuebingen.wordpress.com/

Kommentare   

#1 Olaf Steffens 2013-04-13 00:20
Ein toller Bericht, danke schön!!

Auch vor den heimischen Bildschirmen war London ja schon ein Knüller. Aber vor Ort, mit echten Menschen an den Brettern und diesen ganzen Konstellationen ja noch viel mehr.
Klasse, dass Du uns nochmal so hautnah davon berichtet hast. Ich bin auch froh, dabeigewesen zu sein in den letzten drei Runden - wenn auch nur aus der Ferne. Aber selbst da war es schon eine große Sache!
#2 marcchan 2013-04-13 01:12
Ich schliesse mich Olaf an - ein superklasse Artikel !
Hat Spass gemacht, ihn zu lesen.
#3 Thomas Richter 2013-04-13 12:05
Ich kopiere mal Michaels Kommentar zu meinem Artikel:
"Ich fand den Artikel auch lesenswert, vieles sehe ich zwar vollkommen anders, aber die Meinungsvielfalt ist ja gerade reizvoll."

Der Autor macht ja keinen Hehl daraus dass er alles durch die Carlsen-Fanbrille betrachtet - für einen Blogbeitrag ist das völlig OK. Fragwürdiger ist, dass Lawrence Trent ja durchaus unterhaltsam war, aber nicht unbedingt sachlich sondern Carlsen-Fan. Und das mag bei einem privaten Turnier - London Classic - noch eher angehen als bei einer offiziellen FIDE-Veranstaltung.

Anders sehe ich z.B. die Partie Radjabov-Carlsen. Gerade weil Radjabov "eigentlich" ein guter Spieler ist war es unglaublich dass und wie er dieses Endspiel verloren hat; ein Knackpunkt war ja bereits vor dem Diagramm 64.a4?! (wohl noch spielbar und Remisbreite, aber nur wenn man hinterher korrekt fortsetzt). War das Ende dieser Partie etwa ein realer Aprilscherz? War in Aserbaidschan bereits 1. April - während die Partie noch lief oder zumindest während der Pressekonferenz? Da sagte ein relativ gutgelaunter (OK, Galgenhumor) Radjabov ja "wenn ich schon (nochmal) verlieren muss dann gegen Carlsen - so wird die Schlussrunde spannend.". Die Schlussrunde wäre ja nach einem (logischen) Remis in dieser Partie genauso spannend gewesen: auch dann müssten Carlsen und Kramnik beide auf Gewinn spielen - und Kramnik musste damit rechnen dass Svidler gegen Carlsen nochmal so schlecht spielt wie in der Hinrunde. Andererseits konnte Carlsen auch nicht wissen welcher Ivanchuk auftauchen würde.
Noch ein bisschen Zahlenmagie: das war ja die 13. Runde, und Radjabov ist inzwischen in der Live-Liste auf Platz 13 abgerutscht (allerdings erst nach dem Turnier, da Morozevich ihn während der russischen Vereinsmeisterschaft auch noch überholte).

Eine Frage an den Autor: Was hältst Du von den - im Artikel gar nicht erwähnten - Tiebreak-Regeln? Generell OK? Im gegebenen Fall OK denn der Zweck heiligt die Mittel? Oder doch ein kleiner Fleck auf Carlsens Weste?

Zum Schluss was mir auch noch auffiel: "Kommentarraum ... Richtig voll". Sonst würde überall - irgendwo auch von Stefan Löffler - erwähnt und mit Fotos belegt, dass im Turniersaal viele Stühle frei blieben, und suggeriert dass die Veranstaltung in dieser Hinsicht zu wünschen übrig liess. Aber wer bleibt stundenlang im Turniersaal wenn es direkt nebenan lebhafter zugeht?
#4 Stefan Löffler 2013-04-13 14:23
Es wurde im Lauf des Turniers voller. Vorher wurde wenig geworben, der spannende Verlauf und der Kampfgeist waren die beste Werbung. Im Turniersaal gab es zu viele Plätze, im Kommentarraum zu wenige, nämlich aus vier Wochen Abstand geschätzt etwa zwei Dutzend, so dass viele Besucher standen. Dass Mickey Adams nicht (zumindest während der Ostertage) gesichtet wurde, ist verständlich: Im Unterschied zu seinen genannten Kollegen lebt er zwei Zugstunden entfernt von London.
Dass Carlsen gegen Radschabow nicht so entspannt dreinschaute wie sonst, hat einen mittlerweile bekannten Grund: Er hatte vor der dreizehnten Runde nicht schlafen können.
Sowohl die Regeln bei Punktgleichheit als auch der Zeitmodus wurden vielfach kritisiert. Ein Argument für einen Stichkampf, das ich noch nirgends gelesen habe, ist die damit verbundene Extraaufmerksamkeit, die die Zusatzkosten mehr als wettgemacht hätten. Die laue Berichterstattung deutschsprachiger Medien über das Kandidatenturnier hätte ein Stechen vermutlich verdoppelt.
#5 Michael Schwerteck 2013-04-13 22:40
Freut mich, wenn euch der Artikel gefallen hat. Und dass Thomas wieder etwas zu mosern finden würde, war ja eh klar :-)

Überrascht hat mich der Vorwurf an Trent, dass er parteiisch kommentieren würde. Das war mir eigentlich nicht aufgefallen. Sehen das andere auch so?

Was die Tiebreak-Regeln angeht, schließe ich mich Anand an: Die Regeln an sich waren nicht optimal, aber die Bedingungen waren für alle gleich und jeder konnte seine Turnierstrategie entsprechend ausrichten.

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