Montagabend ist das Kandidatenturnier Geschichte. Bevor dies für einen Aprilscherz gehalten wird, poste ich mein persönliches Resumee lieber schon mal vorab während der vorletzten Runde. Es ist ein Lob auf alle acht Spieler. Egal ob Kramnik oder Carlsen Herausforderer wird, schon jetzt steht fest, dass dieses Turnier eine großartige Leistungsschau des aktuellen Spitzenschachs ist und mehr Beachtung durch Qualitätsmedien verdient hätte als ein bloßer WM-Zweikampf.
Vor allem die Eröffnungsvielfalt hat mich verblüfft. 1. d4 wurde bisher fast dreimal so viel gespielt wie 1.e4 und punktet auch besser. Mit 1. d4 haben die Weißen ein leichtes Plus (6:3 bei 22 Remis). Grünfeld (1:0 bei sieben Remis) und Damengambit (2:2 bei fünf Remis), übrigens in allen möglichen Spielarten inklusive Tschigorin und angenommen nur kurioserweise kein Slawisch, sind die beliebtesten Erwiderungen. Aber auch Nimzo-, Bogo-, Damen- und Königsindisch, sogar Budapester Gambit, Trompowski und Holländisch waren zu sehen. Mit 1. e4 ist die Weißbilanz sogar leicht negativ (3:4 bei vier Remis). Vor allem an Spanisch haben sich die Königsbauernspieler die Zähne ausgebissen. In der 13. Runde kommt nun übrigens auch noch Französisch auf die Palette. Mit 1. c4 sind die Weißen relativ am besten gefahren (2:1 bei einem Remis). Auch Réti wurde versucht.
Wir haben eine ganze Reihe starker Neuerungen gesehen. Vor allem vom glänzend vorbereiteten Kramnik, der sich auch sonst auf der Höhe seines Könnens zeigt. Auch wenn er in den letzten Runden Glück hatte, führt er verdient. Schade ist es um Aronjan, der gegen Gelfand, Swidler und Kramnik mehr riskiert hat, als seine Stellungen aushielten. Hätte er nur zwei dieser Partien nicht verloren, wäre er noch im Rennen. Auch wenn Carlsen ohne seinen komplett schwarzen Freitag gegen Iwantschuk noch zumindest mit vorne wäre, fehlen ihm letztlich doch die Eröffnungen. Nicht einmal eine krumme, frühe Neuerung (wie in Runde 13 Kramniks 5.e3 im g3-Grünfeld) habe ich bei ihm entdeckt.
Die Internetpräsentation mit Videos und Kommentatoren wie Nigel Short läuft nach einigen Startschwierigkeiten sehr überzeugend. Dennoch habe ich etwas auszusetzen. Weniger als das Selbstlob des eigentlich auch schon durch gute Ideen aufgefallenen Andrew Paulson stört mich die unwidersprochene Technik im Turniersaal. Zuschauer, die Spielern etwas signalisieren wollen, haben dank Tablet-Computern leichtes Spiel. Wenige Meter von den Spielern entfernt sind Großmeisterkommentare und Computeranalysen verfügbar. Wer in der zweiten Reihe (die erste ist gesperrt) passend zu seinem Spieler sitzt, ist trotz der beschränkten Lichtverhältnisse für diesen gut zu erkennen. Warum der offensichtliche Widerspruch zur Betrugsprävention kein Thema ist, verstehe ich nicht. Ich glaube freilich nicht, dass einer der Spieler Hilfe aus dem Zuschauerraum annehmen würde, geschweige denn bestellt hat.
Das ist nur ein Thema mehr in einem Wettbewerb, der erfreulich viel Diskussionsstoff geboten hat.
Kommentare
danke für den Artikel und Deine Untersuchung/Auswertung der Runden. Hübsch, was alles so aufs Brett kommt an Eröffnungen! Ich bin immer froh, wenn es mal nicht Slawisch wird, aber dieses Mal in London war ja richtig der Bär los, mit Holländisch (mutig) und dem unglaublichen Budapester Gambit.
Was Du zu den Betrugsmöglichkeiten schreibst, finde ich bemerkenswert. In England ist natürlich das Fair Play zu Hause, aber ich sehe es wie Du - es ist irritierend, dass alle Zuschauer eine Super-Computerunterstützu ng habe und Sichtkontakt zu den Spielern haben. Da ist leicht hin, dass mal wieder jemand anfängt, mit den Ohren zu wackeln, um gute Züge zu signalisieren.
Scheinbar hat man AGON noch nichts von den Betrugsfällen bei der Olympiade oder andernorts erzählt?
Ansonsten aber - ein großartiges Turnier, ein tolles Feld, und eine unglaubliche Dramatik. Lange nicht so mitgefiebert - außer bei WM-Kämpfen, na klar.
Der Hinweis auf das potenzielle Betrugsproblem ist interessant, daran hatte ich gar nicht gedacht. Auch ich glaube nicht, dass irgendein Spieler davon Gebrauch machen würde (die Partieverläufe sehen auch nicht danach aus), aber ein ungutes Gefühl bleibt doch.
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