Nach einem Protestfall in der Zweiten Liga Nord hat der Schachbund seine Turnierordnung überarbeitet. Bei verspätetem Erscheinen kann der Schiedsrichter nun individuell entscheiden. Doch hilft diese Regelung wirklich weiter?
In der guten alten Zeit musste man zum Beginn einer Schachpartie nicht anwesend sein. Es reichte, innerhalb von 60 Minuten nach Spielbeginn sein Gesicht zu zeigen, den ersten Zug zu machen und die Uhr zu drücken – damit waren alle Bedingungen erfüllt. Bobby Fischer hat das gerne mal gemacht gegen Spassky. Manchmal erschien er aber auch gar nicht und kassierte dafür eine Null.
Im Laufe der Zeit wurde der Modus verfeinert. Nun waren es 30 Minuten Karenz, innerhalb derer man immer noch als rechtzeitig angekommen galt.
Vor kurzem befand unsere große Mutter FIDE, dass es angemessen wäre, wenn alle Spieler zum Rundenbeginn nicht noch an der Kaffeetheke herumlungern, sondern im Sinne der schöneren Pressebilder hübsch vor ihren Brettern sitzen. Sie führte eine Null-Karenz-Regelung ein – wer zum Spielbeginn nicht pünktlich da war, hatte verloren. Die Regelung blieb bisher umstritten - zum Glück haben sich die vernünftigeren Open-Ausrichter und die meisten Ligen dieser Regelung bisher verwehrt.
Auch für Weltklassespieler gilt: Pünktliches Erscheinen muss sein.
Soweit die Historie. Nun gab es vor kurzem einen spannenden Streitfall in der Zweiten Bundesliga Nord. In groben Zügen von einem professionellen Nicht-Juristen zusammengefasst war es so: Norderstedt reiste an einem frühen Wintermorgen zur SG Oberschöneweide ins tiefste Berlin. Sie taten das mit einer Zugverbindung, die nicht viel Zeit ließ für Pannen und Verspätungen. Weil dann aber (Deutsche Bahn!?) eine Baustelle für unerwartete Umleitungen sorgte, trafen die Norderstedter erst gegen zwölfe im Spiellokal ein. Aufregung bei den Berlinern – mehr als 30 Minuten zu spät, Karenzzeit überschritten!
Der Schiri aber hatte ein Nachsehen und entschied wohlmeinend und im Sinne des Sports (was immer das bedeuten mag) – aufgrund der Zugverspätung konstatierte er eine Art höherer Gewalt, und die Partien begannen damit einfach zeitversetzt um 12 Uhr. Die SG Oberschöneweide verlor das Spiel, protestierte heftig gegen die Schiedsrichterentscheidung und machte sich europaweit unbeliebt, da sie die Norderstedter damit am Ende fast um den Aufstieg in die Erste Bundesliga gebracht hätten.
(Die genaueren Umstände mit integrierter Kommentatorenschlacht kann man beim beim Berliner Schachverband nachlesen – legendär!)
Das alles war nicht schön, denn der genannte Streitfall führte zu viel Wühlarbeit in den mit dem Protest befassten Instanzen.
Letztlich wurde offenbar, dass es für die Schiedsrichter bei solchen Verspätungen einfach noch keine eindeutigen Regelungen gab. Doch wie immer im Leben – Rettung naht! Die Turnierordnung des Deutschen Schachbundes wurde jetzt geändert – und sie lautet nun wie folgt:
"Ist eine Mannschaft oder ein einzelner Spieler einer Mannschaft auf Grund nicht vorhersehbarer Umstände gehindert, rechtzeitig zum vereinbarten Spieltermin zu erscheinen, dann entscheidet der Schiedsrichter nach pflichtgemäßem Ermessen, wann der Wettkampf bzw. die einzelne Partie beginnt und wie die Uhren einzustellen sind."
Hm, hm, hmhmhm. Das ist bestimmt gut ausgedacht und formuliert, aber ich verstehe es auf Anhieb eigentlich nicht ganz. Was sind denn diese „nicht vorhersehbaren Umstände“, die mich am rechtzeitigen Erscheinen hindern? Eigentlich war doch bisher nach 30 Minuten Verspätung Schluss mit lustig und Karenz – und das war eine eindeutige und einfache Regelung. Müssen von nun an wieder die Einzelfälle geprüft werden?
Nicht vorhersehbare Umstände - kann ich mich darauf berufen, dass ich noch den Regenschauer abwarten musste, um nicht nass zu werden? Dass ich mit meiner Frau noch in Ruhe zu Ende frühstücken wollte, weil es gerade so schön war auf dem Balkon?
Nicht vorhersehbar wäre für mich auch, dass mein alter Wecker einfach nicht geklingelt hat, obwohl er sonst doch immer recht zuverlässig ist. Gefühlt sind das alles fast schon Fälle von höherer Gewalt – doch wie gesagt (und wie man merkt), ich bin kein Jurist.
Ich vermute, kein Schiedsrichter der Welt würde mich damit durchkommen lassen – oder ich hoffe es zumindest, auch im Sinne meiner Gegner, die ja vermutlich pünktlich zum Spiel da gewesen sind.
Trotz aller Regelungen: Schach bleibt ein Spiel mit Risiko.
Doch wie soll man als Schiedsrichter entscheiden, wenn eine Mannschaft in einem nicht vorhersehbaren Stau steckenbleibt und sich ungewollt verspätet? Was ist, wenn der Zug einfach nicht rechtzeitig ankommt, und man einen Verspätungsnachweis der Bahn vorlegen kann?
Hinzu kommt: eigentlich kann kaum jemand überprüfen, ob Spieler O. nicht in Wirklichkeit doch nur verschlafen hat, und sich dann einfach eine dramatische Geschichte (Stau! Baustelle!) ausdenkt, um dem Überschreiten der Karenzzeit zu entgehen. Wie soll der Schiri vor Ort und noch vor Beginn des Mannschaftskampfes „nach pflichtgemäßem Ermessen“ überprüfen, ob ein Verspätungsgrund a) ausreichend und b) glaubwürdig ist? Vielleicht haben die Leser dazu eine Idee? Wäre ich Schiri, ich würde mich nicht wohlfühlen dabei.
Ich glaube, mit der neuen Regelung sind für Verspätungen und vor allem auch für Streitfälle aller Art wieder Tür und Tor geöffnet. Ich glaube, am einfachsten für alle ist es nach wie vor, wenn der Schiri einfach nachguckt, ob jemand da ist oder nicht. Auch wenn es hart ist - alles andere macht die Sache nur noch komplizierter.
Dann lieber nullen – das ist nicht schöner, aber es ist klarer. Und nicht zuletzt - so hat es Bobby Fischer auch gesehen.
Kommentare
Generell finde ich es nicht verkehrt dass der Schiedsrichter hier wie in anderen Fällen (Zeitnotdramen) einen Ermessensspielraum hat oder bekommt - Oberschöneweide-Norderste dt wäre wohl auch dann ein Protestfall geworden wenn der Schiedsrichter vor Ort sich strikt an die (bisherigen) Regeln gehalten hätte.
Ich vermute eher nicht dass (Bundesliga-)Spieler jetzt fünfe gerade sein lassen - "wenn ich zu spät komme lasse ich mir eine Ausrede einfallen" - denn man weiss ja nie wie der Schiedsrichter dann entscheidet.
Zugverspätungen lassen sich nachweisen, Stau auf der Autobahn in Extremfällen (Vollsperrung, unerwartet sehr schlechtes Wetter) auch, schwieriger wird es bei individuellen Auto- oder Weckerpannen. In Wijk aan Zee habe ich zweimal mitbekommen dass viele Spieler die per Auto anreisen (also Amateure, die GMs übernachten in Hotels vor Ort) deutlich zu spät kamen und der Veranstalter wusste Bescheid und drückte ein Auge zu: einmal wegen Vollsperrung auf der Autobahn, einmal weil am Strand ein Schiff auf Grund lief und deshalb nicht nur Schachspieler sondern auch jede Menge andere Neugierige nach WaZ wollten. Genauso tolerant wären sie wohl bei Problemen mit der Zugverbindung, auch hierzulande nicht ganz unüblich.
Diese Woche haben wir sogar ein (Blitz-)Turnierchen auf Texel wegen Regen etwas verschoben: wir wussten dass einige Teilnehmer ca. 5km mit dem Fahrrad fuhren und vermutlich einen kurzen aber kräftigen Schauer abwarten würden.
Schön mal wieder einen Artikel von Dir zu lesen! Das hat hier gefehlt! Aber als Lehrer hast Du wohl gerade Sommerferien!:-)
Wenn ich Deiner Argumentation konsequent folge, dann kann ich auch gleich die 0-Toleranz nehmen. Es ist doch irgendwie komisch, einen ganz sicheren, nicht mehr zu verrückenden, egal was passiert Zeitpunkt zu wählen, der dann aber nicht der offizielle Beginn ist!?
Goedendag und Grüße nach Texel!
Du hast natürlich Recht - wenn wir unseren Monatsblitz machen, ist es dort auch nicht so streng, und das ist angenehm für alle.
Auf der anderen Seite werden jetzt aber die Regeln ziemlich aufgelöst bei Mannschaftskämpfen, und dadurch wird es schwierig. Ein Schiri kann kaum nachprüfen, ob es wirklich einen Stau gab - soll er einen Spieler dann noch antreten lassen trotz Überschreiten der Karenz? Und was denkt dann der Gegner - für den ist es dann auch nicht so einfach damit umzugehen.
Bei Klausuren in Schule und Universität gibt es auch eine Anfangszeit, und wenn man nicht pünktlich da ist, hat man eben weniger Zeit zum Schreiben. Aber man kann dennoch mitschreiben. Ich habe ja nichts dagegen, verspätete Spieler noch mitspielen zu lassen (auch weil es mich selber ja mal retten könnte). Allerdings sehe ich dann überhaupt keinen Sinn mehr, eine Karenzzeit überhaupt noch festzulegen - wenn Verspätungen ok sind (und von mir aus sind sie das), sollten wir das mit der Karenzzeit gleich streichen. Von mir aus gerne!
PS Hallo auch, Herr Woltmann! Unsere Kommentare haben sich überschnitten - ich gebe Dir natürlich Recht, von mir aus gerne ein verspätetes Eintreffen erlauben, aber auf Kosten der Bedenkzeit. Und eine Karenzzeit, wie gesagt, brauchen wir dann nicht mehr.
den absoluten Klassiker zu diesem Thema gibt es hier:rankzero.de/?p=4112
Zu Deinem letzten Beitrag, Olaf. Der Fall ist ganz einfach: Spielen lassen und den Protest nachträglich beurteilen. Wie sollte es sonst gehen?
Je wichtiger das Turnier desto strenger die Regeln - aber vielleicht auch desto sinnvoller dass es Ausnahmen für Härtefälle gibt. Aber Du hast natürlich recht, was genau ein Härtefall ist bleibt Ansichtssache.
Da ich schlechtes Wetter erwähnt hatte noch eine Anekdote aus meiner Kieler Zeit. Einmal verzichteten wir auf die Anreise zu einem Mannschaftskampf in einem Ort namens Leck an der dänischen Grenze, weil die Wettervorhersage uns für den Rückweg am Nachmittag Eisregen versprach. Natürlich haben wir den Gegner informiert, genullt wurden wir trotzdem. Ich weiss nicht ob der Gegner darauf bestand oder ob der Turnierleiter alleine so entschieden hat, vielleicht auch weil der Eisregen dann doch ausblieb. Auf die Wettervorhersage ist eben genauso wenig Verlass wie auf die Bahn, alte Autos oder alte Wecker. Wir konnten damit leben, mich störte nur anschliessende Häme von Unbeteiligten - bis hin zu Vermutungen dass es eine Ausrede war weil wir kein Team zusammen hatten. Wir hatten uns morgens zu acht getroffen und gemeinsam entschieden dass Leben oder Gesundheit wichtiger ist als irgendein Mannschaftskampf (bei dem es soweit ich mich erinnere nicht mal um Auf- oder Abstieg ging).
einfach die Uhr in Gang setzen und man schafft es rechtzeitig oder eben nicht.
Dieses ganzes regulieren (Karenzzeit, Dresscode....)
geht mir auf den Sack; es sollte eigentlich um den Spass am Spiel gehen.
danke für den Kommentar, so früh am Morgen!
Von mir aus ganz wie Du meinst - Uhren anstellen, und nach einer Stunde ist eben Schluss. Ging früher ja auch.
Vielleicht kann man es so zusammenfassen:
Finanzkrise 2008: zu wenig Regulierung, zu viel Geld im Umlauf
Schach 2012: zu viel Regulierung, zu wenig Geld im Umlauf
Viele Grüße, schönen Sonntag!
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