Ungarischer Schachmeister bei der Arbeit!
Freigegeben in Blog
Donnerstag, 23 Dezember 2010 01:59

Eröffnungen sind schön, machen aber viel Arbeit

Da sich der Schwerpunkt dieses Blogs zur Zeit mächtig in Richtung Eröffnungsvorbereitung bewegt (hier bei Ilja Schneider und bei Jens-Erik Rudolph), möchte auch ich auf bescheidene Weise dazu meinen Beitrag leisten. Karl Valentin hat mit seinem Statement „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“ vor vielen Jahren schon das Wesentliche dazu gesagt. Hier nun kommt die schachliche Ergänzung dazu.-
Ungarn ist ja bekannt als das Land der schönsten Frauen und der märchenhaftesten Salamis, und so fiel es mir nicht weiter schwer, mich für Budapest als Ziel einer Schachreise zu entscheiden. Im Jahre des Herrn 2010 reiste ich daher mit dem Nachtzug durch die Welt, um im März beim Budapester Frühlingsfestival die Bremer Fahne hochzuhalten.
Zentral und unweit der Donau spielten wir in den altehrwürdigen Räumen des ungarischen Schachverbandes nun das charmante neunrundige Tavaszi Fesztival, in dem neben einigen etablierten ungarischen IMs auch viele aufstrebende Nachwuchsspieler Furcht und Schrecken zu verbreiten suchten.
Es ließ sich aber dennoch alles gut an für mich. Mit Glück fielen mir einige Punkte ins Netz, und im Gefolge einiger IMs tummelte ich mich in der erweiterten Spitzengruppe. Dann kam die siebte Runde, und das Drama nahm seinen Lauf.

Mein Gegner sollte ab 16 Uhr der Franzose FM Louis Sanchez sein (ELO 2234, der spätere Dritte des Turniers hinter IM Emil Szalanczy und IM Dr Evarth Kahn). Ich wusste zu meinem Unglück, dass er gerne die Philidor-Eröffnung spielt als Antwort auf 1.e4, und zu meinem noch größeren Unglück hatte ich genau dazu gerade etwas Schönes in einem „SOS–Schach“-Buch von Jeroen Bosch gesehen. Es ging dort um eine mörderscharfe, schon etwas ältere Idee des mutmaßlich gedankenlesenden Großmeisters Alexei Shirov, bei der im 5.Zug schon der Bauer g2 nach g4 gespielt und dort geopfert wird. Hurra!, solche Züge machen immer Spaß. -
Leider aber führte diese Idee g2-g4 auch dazu, dass ich meinen freien Vormittag, die Mittagsstunde und die ersten Nachmittagsstunde damit verbrachte, die Variante mit Hilfe des SOS- Buches zu studieren. Hätte ich das mal lieber gelassen! Eine viel attraktivere Alternative wäre gewesen (ganz im Sinne von Ilja Schneider), den Gegner für drei Minuten zu durchleuchten, dann den Laptop wieder zuzuklappen und den Tag mit touristischen Erkundungen und ungarischer Salami zu verbringen. Um 16 Uhr hätte ich die Partie frisch und gelassen mit irgendeinem ersten Zug (b2-b4!) beginnen können, und – wir hätten dann eben Schach gespielt. (Franz Beckenbauer: „Gehts ´naus und spuits Schoach!“) Aber hinterher ist man immer klüger, und – es kann ja ganz unbestritten auch helfen, sich mit Eröffnungen zu befassen.p1010190
Auf der anderen Seite liegt es leider (oder zum Glück?) nicht immer an der Eröffnung, wenn man verliert oder gewinnt. Die meisten Partien entscheiden sich erst „hinterher“, denn da bleibt immer noch genug Zeit und Gelegenheit für abgründiges Patzen. „Auf Dauer setzt sich doch der stärkere Spieler durch.“, sagt schon der Volksmund. Sei es durch das feinere Stellungsgefühl, die tiefere Konzentration oder auch und vor allem durch das bessere Rechnen der Varianten. Eröffnungen sind schön und eine gute Unterstützung, aber alleine entscheidend sind sie nicht. Gerade im handelsüblichen Bereich von unter 2200 ELO gilt das wohl noch ein bisschen mehr als für Super-Großmeister, bei denen Feinheiten in der Eröffnung dann doch schon den Punktgewinn vorbereiten können. –

Nichts dergleichen dachte ich aber in Budapest. Stattdessen übte ich drauf los und studierte eine Fülle von Varianten, die überhaupt nicht zu meinem normalen Eröffnungsrepertoire (wenn man es denn so nennen mag) passten. Und das allein nur, um einen Gegner zu überraschen, der sich in der Philidor-Verteidigung deutlich besser und im Zweifel wohl auch besser in der Shirov-Variante auskennen wird. Welcher Turnierteufel mag mich da nur geritten haben? Jedenfalls war es kein wohlwollender! Goldene Regel: Wenn man den Gegner schon überraschen will, sollte man das wohl mit Eröffnungen versuchen, die einem nicht vollständig fremd sind, von den ersten Zügen bis hin zu Mittelspielstrukturen und anderen typischen Ideen drumherum. Alles andere ist (leider) grober Unfug – siehe Partie!
Aber nun denn. Die Wahrheit ist wie so oft unangenehm, aber man muss sie ans Licht bringen - bevor es Wikileaks tut.

Am Bildschirm nachspielen:

 

 

Warum in der Ferne schweigen? -  Kleines Ungarisch-Lexikon für Niederlagen
                                                                                (mit Dank an Emese Kazár!)

Moinmoin!                                                       Szervusz!

Meine Stellung ist schrecklich.                         Borzalmasan állok.

Ich gebe auf.                                                   Feladom!

Sie haben aber sehr viel Glück gehabt.              Magának igen sok szerencséje volt!

Normalerweise hätte ich Sie geschlagen.           Elvileg nekem kellett volna nyernem.

Ich brauche einen Pfirsichschnaps.                    Szügségem van Barackospálinkátra.

Haben Sie auch Bier?                                       Sör is van?

Wo gibt es hier Salami?                                    Hol lehet itt téliszalámit kapni?

Ich hätte gerne noch zwei Schnaps.                    Még két barackospálinkát kérek!                                    

Bitte bringen Sie mich nach Hause!                     Legyen szíves hazavinni!
                                              

Sonntag, 19 Dezember 2010 11:40

Look at the board please (I)

Werden wir durch die Schachprogramme und die zunehmende Flut an Trainingsmaterial (Bücher, CDs, DVDs, Online-Lektionen) eigentlich dümmer oder schlauer? Die Frage ist nicht unberechtigt, denn auch etwa erhöhter Umgang mit dem Internet fördert bei Kindern nachweislich Eigenschaften wie Schwächen beim ausdauernden Lesen oder fehlende Geduld/Konzentration. Wie ist es also beim Schach?
Zum Trainigsmaterial sage ich nur mal vorsichtig folgendes. Mittlerweile gibt es durch die sprunghafte Erweiterung des Marktes eine Unzahl von Büchern und DVDs zu ähnlichen Themen. Besonders bei Eröffnungen ist es so, dass sich diese nur zu oft genau widersprechen und dem Leser eine diametral unterschiedliche Sichtweise der Dinge vermitteln. Manchmal ist sogar der gleiche Autor für die Werke verantwortlich, wobei in Werk A eine tricky Nebenvariante aus weißer Sicht empfohlen wird, während im seriöseren Buch B ein nicht schwer zu findendes Gegengift platziert ist. Ich behaupte mal kühn:
Es gibt heutzutage fast keine (halbwegs sinnvoll anmutende) eröffnungstheoretische These,die nicht irgendwo propagiert wird.
Und jeder drittklassige Autor jedes Werks über jede x-beliebige drittklassige Eröffnung bombardiert seinen armen Leser mit spektakulären, ach so wichtigen Varianten, die schon seit Ende der 80-er niemand mehr spielt und versucht ihm das Gefühl zu vermitteln, dass seine Eröffnungsvarianten die wichtigsten und besten sind. Woher soll ann ein 1600er dann noch wissen, was er kaufen, was er lesen und was er noch spielen soll? Es entsteht  Verwirrung, gefährliches Halbwissen und Frustration und der gleiche Spieler, der einem noch im 10 Zug die gesamten verwirrenden Abspiele irgendeines sinnlosen Gambits vorbeten konnte, stellt vielleicht in Zug 12 eine Figur ein.
Es ist, wie auf der Schulbank oder in der Vorlesung neben einem Mädchen zu sitzen, die mit dem gelben Textmarker mindestens 90% des zu bearbeitenden Textes unterstreicht. So ein Vorgehen ergibt natürlich überhaupt keinen Sinn, denn wer alles unterstreicht, unterstreicht ja bekanntlich nichts, und weiß zuhause ja trotzdem nicht, was er lernen soll. (Ich hoffe, ich werde für diesen Text nicht von Stabilo verklagt, denn nach dem Genuss dessen werden jetzt bestimmt die Umsätze der Textmarker rapide in den Keller gehen).
Egal, kommen wir zur Eröffnungsvorbereitung mit Rybka&Co. Bei allen erdenklichen Vorteilen, die eine solche bieten kann (zähle ich jetzt nicht extra auf, weil jedem bekannt) kann man aber auch leicht vergessen, schlichtweg mal selbst aufs Brett zu gucken. Das Holzbrett steht ja meist eh nicht mehr daneben und auf dem Bildschirm kommt es heutzutage sowieso nicht darauf an, was man sieht, sondern wie es der Rechner tut. Mit Weiß suchen wir etwa hektisch nach einem +=0.27, mit Schwarz gegen Schwächere vielleicht sogar nach einem =+. Wenn wir dann diese magischen Symbole ersteinmal auf seinem Monitor erblickt haben, durchzuckt uns ein Adrenalinstoß, wir spüren vielleicht nach vielen Stunden Arbeit endlich eine geistige Befreiung... und hören an diesem Punkt einfach auf zu arbeiten und gehen zur Partie. Und dort passiert dann etwas wie das hier:
Ilja Schneider  - Paul Zwahr, Apolda 2010 (7)
Es war die letzte Runde des Apoldaer Opens und um nicht gerade mit 3 Mark 50 nach Hause zu fahren, musste ich unbedingt gewinnen. In so einer Lage war für mich während der Vorbereitung in der kurzen Mittagspause diesmal alles klar: Nach 1.d4 spielt er 1...Sf6 - also Trompowsky - Rechner zu, Affe tot. Mein Gegner hat sich dagegen etwas mehr Arbeit gemacht:
1.d4 Sf6 2.Lg5 Se4 3.Lf4 c5 4.f3 Da5+ 5.c3 Sf6 6.Sd2 cxd4 7.Sb3 Db6 8.Dxd4 Sc6 9.Dxb6 axb6 10.Sd4 e5 11.Sxc6 exf4 12.Sd4 Lc5 13.Sh3 Sd5 14.e4 fxe3 15.Lc4 Sb4?!

 zwahr 1a

Ich "kannte" an dieser Stelle nur die Wegzüge nach f6 und c7, aber nach ein paar Minuten erinnerte ich mich, dass jemand gegen mich auch schon mal nach b4 weggezogen war. Schon damals hatte ich erst nicht verstanden, was der Aufstand nach 16.0-0-0?! eigentlich bringen sollte, aber die kalte Dusche nach 16...d5! war damals nicht sehr angenehm. Irgendwann hatte ich also meine Gedanken wieder zusammen und zog so, wie ich meine damalige Partie verbessert hatte:

16.cxb4! Lxd4 17.0-0-0 Lf6?!

zwahr 1

Das kam blitzschnell, war also vermutlich (und es stellte sich später heraus) immer noch vorbereitet. In einer älteren Partie hatte Tromp-Experte McShane gegen Volokitin auch 16.0-0-0 gezogen, was Kommentator Postny in der Base nicht beanstandet hatte - also dürfte 16.cxb4 ja auch nicht kritsch sein. Überdies sieht es im Moment ja sowieso so aus, als könnte Schwarz erfolgreich seinen Bauern auf e3 behaupten - nach 18.The1 folgt einfach 18...0-0-0 und 19.Txe3? verliert wegen dem typischen 19...d5! 20.Lxd5 Lxh3 21.gxh3 Lg5 -+. Rybka ist für Schwarz total begeistert und zeigt sogar =+ -0.7 an... - allerdings auch nur ein paar Sekunden. Schnell wird dem Rechner klar, dass hier in Wirklichkeit nicht Weiß, sondern Schwarz denjenigen darstellt, der fast am Abnippeln ist. Es hat diverse Bauern- und Felderschwächen, unentwickelte Figuren und einen unrochierten König. Sein Bauernvorteil ist rein temporärer Natur, denn ich brauche nur ein paar taktische Tricks zu vermeiden, und der e3 wird fallen. Paul ist ein Spieler, der absolut stark genug, das alles selbst am Brett zu sehen und zu erkennen - aber er hat es gar nicht erst versucht, denn er meinte, diese Aufgabe dem Computer anvertrauen zu können. Zusammen mit einer sehr sorglos gewählten Rechenzeit von etwa 2-3 Sekunden nach 17...Lf6?! (17...b5!? gab noch ein paar Rettungschancen)  - danach ging er, wie er mir gegenüber zugab zum nächsten Thema über - ergab das eine absolut tödliche Mischung und die Bestrafung ließ nicht lange auf sich warten.
18.Sf4 0-0 (18...Lg5 wird sehr stark mit 19.Td4! gekontert - man bedenke, dass er ihn nicht angreifen kann!) 19.Sd5 Ld8 Er führte alle Züge nach langem Nachdenken und mit Kopfschütteln aus. Vermutlich verstand er nicht, wohin sein "Vorteil" so schnell verschwunden sein konnte. 20.The1 d6 21.Sxe3 b5 22.Lb3 Ta6 23.Kb1 Le6 24.Ld5 Lf6 25.a3! Td8 26.Tc1 Lxd5 27.Sxd5

zwahr 2

Die schwarze Stellung ist ein Bild der Trauer. Er durfte bis jetzt in dieser Partie kaum einen aktiven Zug machen. Nach 27...Tc6 28.Se7+! Lxe7 29.Txe7 d5 30.Txc6! bxc6 31.Tc7 gewann ich leicht das Endspiel. 10, höchstens 15 Sekunden mehr Rechnen oder selbst aufs Brett gucken hätten zumindest so ein Desaster leicht verhindert.
Leider mache ich es selbst nur allzuoft auch nicht besser.Mehr dazu im nächsten Teil