http://view.chessbase.com/cbreader/2019/10/3/Game175775121.html

Tiger, Türme, Tiviakov
Gefährlich ist's, den Leu zu wecken,
verderblich ist des Tigers Zahn
(Friedrich von Schiller)
Auf nach Jersey! Nein, nicht nach (New) Jersey/USA, eher nach Jersey, die kleine Insel im Ärmelkanal, die trotz einiger Nähe zu Frankreich zu Großbitannien gehört.
Dorthin reiste ich im vergangenen April, mit einem flotten ICE ab Bremen, einem noch flotteren TGV ab Karlsruhe, Umstieg in Paris, Übernachtung in St.Malo und dann am nächsten Morgen in aller Frühe mit der Fähre in eineinhalb Stunden auf die Kanalinsel. Eine veritable Expedition, und das alles, um auf Jersey neun hoffentlich aufregende Runden Turnierschach beim Polar Capital Open zu spielen. Der Weg ist das Ziel? Nicht ganz, doch so lange es einen Speisewagen gibt, fahre ich gerne mit dem Zug auch in weit entfernte Destinationen.
Lohnt das Schachspielen denn so eine weite Reise? Ich habe es mal probiert, und ich möchte sagen - na klar! Aber besser ist es, wenn man mit dem Zug hinfahren kann und nicht unbedingt fliegen muss. Oder man wandert einfach locker hin, wie der Werderaner David Kardoeus von Bremen zum Xtracon Open in Dänemark!
Nach etwas Akklimatisieren auf der Kanalinsel, Geldwechseln, Spazieren und dem Kauf einer Bananenstaude als Energiespeicher für das Turnier saß ich am Anreisetag um 15:45 am Brett und schien bereit für die erste Runde - mein Gegner war GM Sergei Tiviakov, ein großes Kaliber!
Umso größer mein Erschrecken, als ich merkte, dass ich meinen treuen Tiger vergessen hatte einzupacken zur Partie - es ist natürlich völlig unmöglich, ohne Tiger-Turbo zu spielen! Zum Glück konnte ich noch flugs zum Hotel zurückeilen (200 Schritte einfache Strecke), und gestärkt mit meiner Begleitung dann das Spiel beginnen.
Alle Mann an Bord? Dann kann's ja losgehen.
Olaf Steffens (2175) - Sergei Tiviakov (2605), Polar Capital Open 2019
1.b4
Der Orang-Utan - das kann nicht ganz verkehrt sein.
Zwar eher ein Gorilla, aber doch ein Bruder des Orang-Utan im Geiste.
Bedroht vom Aussterben sind sie leider beide - wie gehen wir nur um mit dieser Welt?
1... e5
2.a3 d5
3.Lb2 Sd7
4.e3 a5
5.b5 Sgf6
6.c4 Ld6
Was ist hier los? Tiviakov spielte alles sehr zügig, und verzichtet auf den zentrumsstabilisierende c7–c6. So kann ich ein paar Felder gewinnen für meine Mannschaft - einen Versuch ist es jedenfalls wert.
7.cxd5 Sxd5
8.Dc2 0–0
9.Sf3 Te8
10.Sc3
Idee: weißfeldrig spielen, und bald dann Ld3, h2–h4, und Sg5 - oder so.
10...Sxc3
11.Lxc3 e4
12.Sd4 Sc5
Schwarz stopft die Diagonale nach h7 und postiert sein Pferd auf dem wunderbaren Feld c5. Mein einziger Hebel ist nun f2–f3, oder sogar g2–g4 nebst Sf5 - aber tatsächlich sieht das alles eher anrüchig aus.
13.Le2 Dg5!
Der GM macht das Spiel schnell und hat das Feld (oder den Bauern) auf g2 als Schwäche ausgemacht. Und nun? Kf1 ist lau, auch g2–g3 ist nicht sehr chancenreich (Lg4!), und darum bleibt wie so oft nur der Versuch, einen Bengalo zu zünden und die Stellung zu vernebeln.
14.f4!? Dh4+
14...exf3 wird besser gewesen sein - egal wie Weiß nimmt, die Stellung wird nicht so richtig harmonisch.; 14...Dxg2 15.0–0–0 mit der Idee Tdg1 und allfälligem Drohspiel gegen g7. Ob es reicht, ob es geht - wer weiß das schon, aber es sah unangenehm genug aus, um meinen Gegner von einem
Schlagen auf g2 abzuhalten. 15...Sd3+ 16.Kb1 Dh3
FM vs GM - man hat's nicht leicht!
15.g3 Dh3
16.Kf2 Lg4
17.Lxg4 Dxg4
18.Kg2 Sd3
Wie aus dem Lehrbuch: ein shöner Systemspringer auf d3
19.h3 Dg6
Hurra, meine Stellung hat noch eine Struktur, und ich bin noch da und kann spielen (g3–g4!?). Erstmal aber die Dame umgruppieren und den Königsflügel etwas stützen.
20.Dd1 h5
21.Tg1 Lc5
22.Kh2 Lxd4
23.Lxd4 Tad8
Schwarz ist schön entwickelt und kann eigentlich nicht schlechter stehen. Oder doch? Ist c7 etwas weich, und droht doch mitunter mal g3–g4 mit Blick auf g7? Erstmal aber sorgte ich mich vor einem großmeisterlichen Txd4–Qualitätsopfer - der Läufer ist sozusagen mein einziger Trumpf
und soll auf dem Brett bleiben!
24.Lc3 Td5
25.g4
Vielleicht sogar erst den Praktikerzug a3–a4 mit einer Nebendrohung Lc3xa5. Die knapp werdende Bedenkzeit verhinderte aber tiefergehende Erkundungen, und darum gegen den übermächtigen Gegner lieber etwas drohen - frei nach Simon Webb in seinem wundervollen Buch „Schach
für Tiger“, im Kapitel „Wie man Trampelfanten fängt“. (Dort lockt der Tiger sie in einen Sumpf, wo er dann zuschlagen kann - eine traurige Geschichte.)
Stubentiger bei der häuslichen Analyse
25...h4
26.a4 Dd6
27.g5
27.Lxa5 g5! ist unangenehm. Darum ganz im Sinne von Dvoretski etwas Prophylaxe und selber einen Bauern nach g5 stellen.
Natürlich war das unheimlich, denn kann Schwarz jetzt nicht auch auf f4 reinhauen? Er kann, aber Weiß steht noch stabil genug danach. Gefährlicher erschien mir der schwarze Zug g7–g5 - und darum blieb mir fast nur g4–g5, um im Spiel zu bleiben. Prophylaxe eben.
27...Te6?!
27...Sxf4 28.exf4 e3 29.Dg4 exd2 30.Tad1 Te3 31.Le5 Tdxe5 32.fxe5 Dxe5+ 33.Kh1 Dd5+ =.
Etwas haarsträubend alles. Unser Werder-Trainer Matthias Krallmann hat diese und einige der hier angegebenen Varianten in seinem Training im April herausgearbeitet (vielen Dank!), und es scheint nun dynamisch Remis zu sein.
Hier aber kommt vielleicht die Rating ins Spiel, denn Tiviakov mit einer Super-Zahl von 2600 ELO möchte gegen ein kleines ELO-Nordlichtlein von knapp 2200 natürlich noch etwas probieren.
28.Dg4
Erstmal stabilisieren, und Nerven schonen. Die Zeit ist ja schon knapp genug!
28...Sc5
29.Tg2
Lieber erstmal d2 decken - der Bauer stützt ja irgendwie doch die ganze weiße Stellung, und nicht, dass da jetzt jemand noch eine Qualität reinhaut.
29...c6?
Und da kommt ein Fehler, und plötzlich stehe ich ... super! (!!) Leider habe ich das aber gar nicht begriffen und war im Gegensatz zum praktischer spielenden Tiviakov schon beinahe runter im 30–Sekunden-Modus (wir spielten 90 Minuten „für alles“ ohne jegliche Extraminute nach dem 40.Zug).
29...Sb3, 30.Ta2 b6, 31.Kh1 Dd7, 32.Dxh4 +=
30.Dxh4?
30.bxc6!, bxc6, 31.Kh1 ? mit dem Plan f4–f5, Dxh4, g5–g6 - irgendwie so, sehr unangenehm für Schwarz. Nach dem Textzug gewinnt Tiviakov plötzlich einen Bauern am Damenflügel, bekommt verbundene Freibauern - oh je, oh je.
30...cxb5
31.axb5 b6
Sichert erstmal alles ab - das ist gute Technik.
32.Kh1, Sb3
33.Td1 Txb5
Das war‘s dann wohl. Ich merkte, dass ich hier nun wirklich kein Spiel mehr habe - oder so dachte ich.
Allerdings sagt Kollege Stockfish, Weiß steht hier fett auf Gewinn! Mit 34.Tf2, Tf5, dann 35.Dg4, Dd5, und danach 36.h4–h5 bekommt Weiß wilden Angriff. Wow. Und ich dachte, ich wäre schon erledigt.
34.g6?
Noch rumfummeln, ein bisschen
34...fxg6
35.Tdg1
Alle weißen Figuren tun jetzt irgendetwas, aber wie kann man die g-Linie öffnen?
35...Tf5
36.Le5
Sozusagen ein letzter Aktivierungsversuch - der Läufer auf e5 lenkt die Dame ab, die nun entweder das Feld d8 freigeben muss (Weiß hat ein Schach!), oder aber die Deckung von g6 aufgeben.
Tiviakov wählt das Letztere und baut auf ein Endspiel mit verbundenen Freibauern am Damenflügel.
36...De7
36...Dc6, 37.Dg4 Kf7, 38.h4 Sc5, 39.Lxg7 Sd3 =+
37.Dxe7 Txe7
38.Txg6
Verbundene Türme gegen verbundene Freibauern! Weiß drückt auf g7, und - Überraschung! - ein Bauer auf b6 hängt auch. Vielleicht bekomme ich noch ein Remis aus dieser Partie?
38...b5?
Das ist wohl zu ambitioniert, doch so spielt man eben in einer aufregenden Schachpartie, in der beide Spieler mit Adrenalin vollgepumpt sind! (und einer von beiden auch mit etwas Kaffee).
Bei knapper Zeit Tiviakov geht weiter auf den vollen Punkt, und gibt g7 auf - doch ganz ungefährlich ist das nicht.
38...Tff7, 39.Txb6 Sxd2, 40.Ta1 Td7, 41.Txa5 Sc4, 42.Tb8+ Kh7, 43.Taa8 Sxe5, 44.fxe5 Tf3 =
Was macht der Kaffee mit uns Schachspielern? Die Forschungen dauern an.
39.Lxg7 Kf7
40.Le5 b4
41.Ta6
Mit allerlei Drohungen! Die Würfel rollen, das Spiel ist vogelwild und außer Kontrolle - wer (außer vielleicht Holger Hebbinghaus) kann jetzt noch sagen, wie es ausgehen wird?
41...Sxd2?
Das ist ein Bauer zuviel, doch - siehe oben - die Partie war schon völlig im Trampelfanten-Sumpf angekommen. Gut für mich - genau so wie bei „Schach für Tiger“ beschrieben.
41...Tfxe5, 42.fxe5 Txe5, 43.Tf1+ Ke7, 44.Tf4 +-
42.Tg7+
+–
42...Kf8
43.Ta8+ Te8
44.Taa7
Zwei Türme auf der siebten Reihen - das muss doch zu irgendetwas gut sein? In Berlin heißen die doppelten Türme glaube ich „Schweine“ - und die Schweine und der Läufer drohen nun schon beinahe Matt auf d6! Schwarz muss Material geben. Aber immer noch sind seine verbundenen Freibauern auf dem Brett, was beim Gegner ja stets verlässlich diffuse Sorgen auslöst.
44...Texe5
45.fxe5 Txe5
Sicher ist das schon irgendwie prima für mich - doch was jetzt auf die Schnelle spielen und mit dreißig Sekunden Inkrement nichts verderben?
Doch manchmal hat man Glück: es geht tatsächlich etwas, UND trotz einer schon nirwanaartigen Tunnelwahrnehmung habe ich es offenbar gesehen. Vor allem wenn Letzeres misslingt, kann es viele schlaflose Nächte bereiten.
46.Th7
Den König von e8 weglocken, so dass der Turm nicht mehr auf e8 dazwischengehen kann. Und dann ...
46...Kg8 47.Thd7!
Das schönste Diagramm der ganzen Partie - darum auch ein bisschen größer als sonst
Es wird Matt, oder der Springer fällt - beides ist nicht schön für Schwarz. Tiviakov gab sofort auf, unterschrieb das Partieformular und weg war er.
Ein Schnappschuss bald nach der Partie - verblüfft und ungläubig
blieb ich noch 20 Minuten sitzen und konnte es gar nicht fassen
Punkt!
Es war sozusagen eine typische Erstrundenpartie von Meister gegen Außenseiter, und man weiß ja, da können die verrücktesten Sachen passieren. GM Tiviakov jedenfalls gewann in den nächsten 8 Runden noch großmeisterliche siebenmal, zeigte sich in starker Form und gab nur gegen den an Zwei gesetzten Tiger Hillarp Persson noch ein Remis ab. Das reichte locker für den Turniersieg auf Jersey - selbst nach einer etwas missglückten Auftaktpartie.
Auch mein Turnier auf der Insel ging phantastisch weiter. In den neun Partien spielte ich unter anderem weitere vier Male gegen IMs oder GMs (Tiger Hillarp Persson in der Schlussrunde!) und holte insgesamt 5 solide Punkte. Fazit? Das Polar Capital Open auf Jersey = eine wunderbare Woche Schach in England!
Im Anschluss sprang ich flugs wieder auf die Fähre und in den Zug, und machte mich sehr froh (und mit Tiger) auf den Rückweg nach Bremen. Bei einem längeren Zwischenhalt in Paris schlief ich bis in den Nachmittag, um dann noch ein bisschen durch die frrühlingshafte Stadt zu bummeln - schafft man ja sonst nicht so einfach. Irgendwann Rauchschwaden, Sirenen, unruhige Menschen - Notre Dame brannte, der alte Mittelturm war schon eingestürzt. Unglaublich. Es war sehr bewegend, die Menschen standen fassungslos, trauerten, sangen gemeinsam. Eine Zäsur für die Stadt und für die Franzosen - Glüci im Unglück immerhin, dass ein großer Teil der Kirchenfassade erhalten geblieben ist.
Kurzer Ausflug an die Westküste
Catwalk am Channel
Schlussrunde mit zwei Tigern und einem temporär schnauzbärtigen Werderaner
Der Orang Utan 1.b2-b4 ist selbstverständlich eine fabelhafte Eröffnung. Leider nur: Tiger, Königstiger, Gorillas, Orang-Utans, Wale, Elefanten und allerlei mehr - alle immer massiver vom Aussterben bedroht. Was tun wir?
Gefährlich ist's, den Leu zu wecken,
verderblich ist des Tigers Zahn;
jedoch der schrecklichste der Schrecken,
das ist der Mensch in seinem Wahn.
(Friedrich von Schiller)
Wer helfen möchte, kann auf Palmöl verzichten oder noch mehr nachhaltig angebaute Bioprodukte kaufen. Oder etwas spenden, zum Beispiel bei www.greenpeace.de. Danke! :-)
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