Annäherung ans Faszinosum Endspiel
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Donnerstag, 10 Januar 2013 01:00

Annäherung ans Faszinosum Endspiel

Vor etwa zwei Wochen äußerte ich in einem Kommentar den Vorschlag, dass ich in diesem Blog eine Endspielrubrik eröffnen könnte. Es handelte sich um eine ziemlich spontane Idee, über die ich nicht groß nachgedacht habe. Inzwischen ist der Deal tatsächlich zustande gekommen und es ist sicherlich angebracht, dass ich zunächst erkläre, was ich eigentlich vorhabe. Ehrlich gesagt muss ich da selbst erst einmal nachdenken. Es gehört zu den Mysterien der menschlichen Psyche, dass man das Zustandekommen seiner eigenen Entscheidungen selten (manche Experten sagen sogar: nie) wirklich nachvollziehen kann. Dies ist übrigens auch ein faszinierendes Thema, das gerade für Schachspieler von Interesse ist, führt hier aber zu weit.

 

Ich werde also nach besten Kräften (alle Angaben ohne Gewähr) versuchen zu erklären, worum es mir geht. Mein Ausgangspunkt ist, dass das Endspiel eine Materie ist, die stark polarisiert. Natürlich gibt es viele Schattierungen und ich übertreibe in der Folge ein bisschen, aber vereinfacht ausgedrückt gibt es zwei „Pole“, d.h. zwei grundsätzlich verschiedene Sichtweisen, die ich unter Schachfreunden beobachtet habe.

 

Sichtweise Nr. 1 (v.a. unter Amateuren sehr weit verbreitet): Endspiele sind langweilig. Eine technische Angelegenheit, zäh, trocken, oft passiert lange Zeit „nichts“. Es fehlt das Feuer der Kombinationen, es fehlt die Dynamik, die Romantik, kurz: alles, was Schach spannend macht! Endspielbücher sind voll von irgendwelchen abstrakten Manövern, die kein normaler Mensch versteht. Angeblich soll man die auch noch auswendig lernen, obwohl sie doch so gut wie nie aufs Brett kommen. Komische Namen haben sie oft auch noch. Wie bitte, „Van?ura-Stellung“, was soll das sein? Hat man in 20 Jahren Turnierschach noch nie gebraucht, also wird es wohl auch die nächsten 20 Jahre ohne gehen. Das ist doch nur was für Freaks. Ein richtig guter Spieler ist auf das Endspiel sowieso nicht angewiesen, der gewinnt sein Partien schon vorher. Eine starke Eröffnung, im Mittelspiel den Vorteil ausbauen, zünftig angreifen, mattsetzen und fertig. So spielt man Schach!

 

Sichtweise Nr. 2: Endspiele sind großartig, sie sind eigentlich das Schönste am Schach, quasi Schach pur. Unglaublich, was für subtile, raffinierte Wendungen selbst mit ganz wenigen Steinen möglich sind! Und diese klare, kraftvolle Logik ist einfach hinreißend; im Endspiel kann man endlich vollkommen in die Stellung eindringen und ihre innersten Zusammenhänge erkennen, alle Gesetze liegen einem vor Augen, alles passt zusammen, man ist praktisch wie Gott, es ist unglaublich. Wenn man seine wenigen Einheiten perfekt zu koordinieren versteht, so dass sie geradezu Wunder vollbringen, das ist wahre Harmonie, das ist die ganz große Kunst! In den Partiephasen davor, seien wir ehrlich, da wird doch viel herumgepfuscht. Man versucht halt, den Gegner irgendwie übers Ohr zu hauen, da ist jedes Mittel recht. Klar, so eine Opferkombination zum Beispiel ist nicht schlecht, aber letztlich ist das nicht viel mehr als Schaumschlägerei, ein seichtes Amüsement für die geistig einfach Gestrickten. Dieses taktische Geplänkel kann doch jeder lernen, wenn er unbedingt will. Im Endspiel hingegen trennt sich die Spreu vom Weizen, hier zeigt sich der wahre Könner!

 

bansem300Man könnte sich jetzt noch fragen, ob es nicht auch eine Sichtweise Nr. 3 gibt, nach der im Schach alles gleichermaßen toll ist, aber diese Einstellung habe ich noch selten angetroffen. Das heißt nicht, dass es sie nicht gibt, aber sie kann hier außer Betracht bleiben (ebenso wie die Sichtweise Nr. 4, dass Schach generell total doof ist). Nach meinen Erfahrungen würde ich ohnehin schätzen, dass mindestens 80 % aller Amateure mehr oder weniger der Nr. 1 zuzuordnen sind.

 

So weit, so schön – und welches Lager hat nun recht? Eine reine Geschmacksfrage? Welche Sichtweise bringt denn die besseren Ergebnisse? Nun, die einzige ehrliche Antwort, die ich hierauf geben kann, lautet: ich weiß es nicht. Auch die großen Autoritäten sind sich nicht einig. Manche sagen dieses, andere jenes. Vielleicht liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte oder sonstwo. Wobei sich noch fragt, ob es überhaupt eine Wahrheit gibt oder nicht vielleicht viele individuelle Wahrheiten. Es gibt viele Arten, Schach zu spielen und sich mit Schach zu beschäftigen. Viele von ihnen können zum Erfolg oder zumindest zu großem Genuss führen. Letztlich muss jeder seinen eigenen Weg finden. Ich persönlich neige zur Zeit, wie sich der Leser wahrscheinlich schon gedacht hat, zur Nr. 2 (natürlich in einer etwas gemäßigteren Fassung; ich habe, wie gesagt, bewusst übertrieben), aber ich habe auch lange Zeit Nr. 1 vertreten. Mein Vorteil besteht eben darin, dass ich beide Lager sehr gut verstehen kann. Deshalb sehe ich mich als dazu geeignet an, als Vermittler zwischen ihnen aufzutreten. Ich bin kein Missionar, der die Leute unbedingt von seiner eigenen Meinung überzeugen will, sondern biete den zahlreichen Nr. 1-Anhängern an, sich etwas zu öffnen und sich mehr auf Nr. 2 einzulassen. Ich will versuchen zu zeigen, wie fabelhaft Endspiele sein können, wenn man sie vorurteilsfrei betrachtet.

 

Die Frage ist natürlich, ob die „1er“ an diesem Angebot überhaupt interessiert sind. Auch das weiß ich nicht, es wird sich zeigen. Wenn nicht, dann höre ich mit dem Schreiben wieder auf, denn für die paar „2er“, die sowieso jede Menge tolle Endspielbücher zu Hause haben, lohnt sich der Aufwand nicht (ich verdiene hier keinen Cent und habe genug andere Sachen zu tun). Meine Theorie ist jedenfalls, dass, genauso wie ich meine Einstellung im Laufe der Zeit geändert habe, etliche 1er in Wirklichkeit verkappte 2er sind oder zumindest dem Endspiel gar nicht so abgeneigt sind, wie sie selber glauben.

 

Schuld an der mutmaßlichen Verirrung ist m.E. vor allem die Propaganda der Schachbuchverlage, auch wenn diese möglicherweise (irgendwie auch verständlich) nichts anderes tun, als die naiven Wünsche ihrer Kunden zu bedienen. Eröffnungsbücher lassen sich am einfachsten vermarkten, denn es werden ja ständig neue Partien gespielt, so dass sich die Theorie laufend verändert. Man kann den Leuten also leicht vorgaukeln, dass sie unbedingt auf dem Laufenden bleiben und ständig neue Bücher kaufen müssen. Dies funktioniert noch besser, wenn man der Eröffnung eine völlig überhöhte Bedeutung zuschreibt. Gute Vorbereitung sei essentiell, wird behauptet, man muss irgendwie einen Vorteil erzielen, der Rest wird sich dann schon finden. „Winning with [Eröffnung XY]“ heißt es doch z.B. so schön. Mit der richtigen Eröffnung gewinnt man also die Partie! 

Besonders raffiniert ist dabei die klassische Zwei-Schritt-Methode, die in vielen Marketingbereichen Anwendung findet:

a) Man bauscht ein Problem auf, dass es eigentlich gar nicht gibt.

Man jagt den potentiellen Kunden (= ganz überwiegend Feld-, Wald- und Wiesenspieler, zu denen ich mich auch zähle) also Angst ein und täuscht sie darüber, was sie angeblich alles wissen müssen. So bringt man sie dazu, dicke, oft mehrbändige Wälzer zu kaufen, die allenfalls für Profis nützlich sind. Dass die Eröffnung eigentlich ihr geringstes Problem ist und durch die Arbeit an anderen Bereichen automatisch auch die Eröffnungsbehandlung besser wird, braucht man ihnen ja nicht zu verraten. Ganz abgesehen von dem Umstand, dass das sture Kopieren von vorgebenen Repertoires der schachlichen Entwicklung mehr schadet als nützt.

b) Die angebliche Lösung des (eigentlich nicht existenten) Problems hat man zufällig auch im Programm.

Sie besteht in weiteren Eröffnungsbüchern, nur anders aufgemacht. Der Inhalt ist fast derselbe, aber sie sind einen Tick billiger und es steht in großen freundlichen Buchstaben „Don't Panic“ darauf. Nein, tut es nicht, da war ich kurz geistig woanders (Douglas Adams-Fans wissen Bescheid), aber man sieht ähnlich beruhigende Floskeln wie „easy guide“, „starting out“ oder „move by move“.

Wenn man diese Strategie verfolgt, sind Endspielbücher natürlich nur noch schwer zu vermarkten. Von John Nunn gibt es z.B. ein relativ neues zweibändiges Werk, das qualitativ überragend ist und viele tiefsinnige Erkenntnisse enthält. Mit der Wahl zum englischen Schachbuch des Jahres erhielt es die wohl prestigeträchtigste Auszeichnung überhaupt. Trotzdem bietet Niggemann die Dinger an wie sauer Bier und verhökert sie letztlich zum Schleuderpreis.

 

Die Geringschätzung des Endspiels durchsetzt alle Ebenen, wie man z.B. an vielen Bedenkzeitmodi erkennen kann. 2 Stunden für 40 Züge und 30 Minuten für den Rest, so lautet die übliche Open-Bedenkzeit. Die implizite Aussage ist klar: Bis zum 40. Zug wird richtiges Schach gespielt, „der Rest“ (man beachte den abwertenden Ausdruck) ist ein unwichtiger Nachklapp. Die Schachpresse macht auch ganz gerne mit. Gelungene Kombinationen werden immer groß gefeiert, gelungene Endspiele hingegen kaum beachtet. Ein Taktiker wie Nakamura gilt als total interessant und darf überall mitspielen, ein Techniker wie Jakowenko, immerhin amtierender Europameister, wird als Langweiler verschrien und bekommt so gut wie gar keine Einladungen. Nichts gegen persönlichen Geschmack, aber diese regelrechte „Nr. 1-Diktatur“ würde ich gerne ein bisschen aufweichen.

 

So, nun habe ich schon ziemlich viel geschrieben, mehr als ich ursprünglich wollte. So richtig los geht es dann beim nächsten Mal (in ca. zwei Wochen), aber einen kleinen Appetitanreger will ich hier schon noch präsentieren. Ich will dem Kollegen Losso nicht zu sehr das Wasser abgraben, aber die eine oder andere Endspielstudie gehört sicherlich zu meinem Thema dazu. Ich persönlich mag vor allem partienahe Studien, in denen mit einfachen Mitteln elegante Ideen verwirklicht werden. Das folgende Exemplar von Wladimir Korolkow ist ein schönes Beispiel. Die Studie ist auch gar nicht so fürchterlich schwer zu lösen, d.h. wer sie noch nicht kennt, kann ruhig einmal sein Glück versuchen.

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1.f7 liegt auf der Hand und wegen 1...Tf6? 2.Lb2 sowie 1...Tg8? 2.fxg8D+ Kxg8 3.Se7+ ist 1...Ta6 eindeutig die einzige Chance. Nun verstellt 2.Kb2 das Feld b2, erlaubt also 2...Tf6, und nach 2.Kb1? fällt der Springer mit Schach. Also 2.La3! Txa3+ 3.Kb2 und auf den ersten Blick ist es schon aus, aber Schwarz hat noch eine Menge trickreiche Schachs, da der weiße König bestimmte Felder nicht betreten darf. 3...Tb3+? ist nun von der Idee her richtig (4.Kxb3 Le6+), aber nach 4.Ka2! ist die Diagonale a2-g8 verstellt und man hat schon kein gutes Schach mehr. Deshalb 3...Ta2+ und nun muss Weiß sich genau überlegen, wo er hinläuft. 4.Kc1!! ist der einzige Gewinnzug. 4.Kc3? liefe hingegen in eine Sackgasse: 4...Tc2+! 5.Kb4 (5.Kd4 Td2+ nebst 6...Td8) Tb2+ 6.Kc5 Tc2+ 7.Kb6 Tb2+ und der König findet nirgends eine Zuflucht (8.Kc7 Tb7+). Am Königsflügel gibt es bessere Versteckmöglichkeiten, daher ist die folgende Sequenz klar: 4...Ta1+ 5.Kd2 Ta2+ 6.Ke3 Ta3+ 7.Kf4 Ta4+ 8.Kg5

1koro2

 

Nun gibt es schon mal kein Schach von der Seite mehr, aber deshalb ist Schwarz mit seinem Latein noch nicht am Ende: 8...Tg4+! und das Remis scheint doch gesichert zu sein, denn Weiß darf den Turm nicht schlagen (9.Kxg4 Lxf5+ 10.Kxf5 Kg7 ist remis) und wenn er ihn nicht schlägt, folgt 9...Tg8! mit Neutralisation des Bauern. Wir brauchen also eine neue Idee und allmählich dämmert uns, dass es nicht nur um Bauernumwandlung und Vermeidung von Dauerschach geht, sondern auch um Mattangriff! Deshalb 9.Kh6! (nun hat der König vollends das ganze Brett überquert!) 9...Tg8! (9...Tg6+ 10.Kxg6 Lxf5+ 11.Kf6! oder 11.Kh6!) 10.Se7! und der Turm kann nicht ziehen (10...Tf8 11.Sg6#). Das ist immer noch nicht das Ende vom Lied, denn Schwarz kann den Turm mit 10...Le6! decken. Nützt ihm aber nichts, denn 11.fxg8D+ (oder natürlich 11.fxg8T+, aber so etwas zählt nicht als Doppellösung) Lxg8 12.Sg6# führt zu einem reizenden Mattbild, das zu Beginn keiner erwartet hätte.

 

Ich zitiere dazu aus „Secrets of Spectacular Chess“ von Jonathan Levitt und David Friedgood (meine Übersetzung): „Wenn Sie diese Studie nie zuvor gesehen haben und an ihr nichts Aufregendes finden können, besteht unser einziger Rat darin, das Spiel aufzugeben. Sie werden im Schach keine Zukunft haben!“ Mir persönlich ist das einen Tick zu missionarisch, auch wenn es wahrscheinlich stimmt. Ich orientiere mich lieber an Loriot: Wenn Ihnen diese Studie nicht gefallen hat, werden Sie meine weiteren Artikel auch nicht recht mögen. Sie brauchen sie also nicht zu lesen.