
Frage an die Leser
Als Abwechslung zur endlosen Schachpolitik mal wieder etwas Handfestes: Die aktuelle "Schach"-Ausgabe wirft eine Endspielfrage auf, die ich mir genau so auch schon gestellt hatte. Die Sache ist mir bis heute etwas rätselhaft. Vielleicht können die Leser dabei helfen, Licht ins Dunkel zu bringen? Es geht um die Partie Carlsen-Gelfand vom Londoner Kandidatenturnier, Stellung nach dem 44. Zug von Weiß (siehe Diagramm). Zur Erinnerung kurz die Partiefortsetzung: 44...Dxf1+ 45.Kh2 Db1 46.b7 Db5 47.c6 Ld5 48.Dg3 1-0. So weit, so einfach. Was aber ist, wenn Schwarz auf f1 mit dem Läufer nimmt? Es ist verblüffend, wie wenig Beachtung diese Möglichkeit fand. Die Londoner Kommentatoren hielten sie für hoffnungslos, Carlsen im Interview ebenso und Peter Heine Nielsen, der die Partie für "Schach" kommentierte, erwähnte den Zug nicht einmal. Aber wenigstens findet sich nun eine "Anm. d. Red." (vermutlich von IM Dirk Poldauf), die ich hiermit zitiere: "Zu prüfen wäre, ob bzw. wie Weiß nach 44...Lxf1! 45.Dxf7+ Kh8 46.Df6+ Kh7 47.Kh2 De8 gewinnt." Endlich noch jemand, der sich diese Frage stellt - ich dachte schon, ich sei einfach zu blöd! Zur Veranschaulichung noch einmal ein Diagramm:
Schwarz plant, eine weißfeldrige Blockade zu errichten und, wenn möglich, seinen Läufer für die beiden Freibauern zu geben. 48.c6 Lb5! 49.c7 La6 führt zu nichts, ebenso wenig wie 48.b7 Db8+. Also was tun? Dazu noch eine Anmerkung: Jeder kann hier seine Lieblings-Engine einschalten und wird feststellen, dass sie eine Gewinnstellung für Weiß anzeigt. Eine ganz andere Frage ist aber, ob dabei auch ein Gewinnweg herauskommt, ob also z.B. diverse Festungsmotive verstanden werden. Branchenführer Houdini hat hier jedenfalls seine liebe Mühe. Ich glaube, dass ich inzwischen trotz allem einen gewinnträchtigen Plan gefunden habe, aber besonders klar ist die Sache keineswegs. Für mich liegt auf der Hand, dass Gelfand so hätte spielen müssen, und ich verstehe nicht, warum dies so wenig beachtet wurde. Zu viel Engine-Gläubigkeit? Oder gibt es doch eine einfache Lösung? Was meinen die Leser?

Two days in London
Was war das für ein Finale beim Kandidatenturnier in London! Dramatisch war's, kurios auch, nervenaufreibend, emotional, historisch - und ich war dabei. "Zufällig" hatte ich schon ein paar Wochen vorher meinen Oster-Kurzurlaub (Samstag bis Dienstag) in London gebucht und ich war dann auch wirklich zur richtigen Zeit am richtigen Ort, d.h. ich konnte die beiden letzten Runden live verfolgen. Diese Tage werde ich so schnell nicht vergessen. Was Schach betrifft, habe ich noch nie etwas Mitreißenderes erlebt. Die besten Spieler der Welt hautnah, ein Wechselbad der Gefühle, Hochspannung bis zur letzten Minute - und am Ende gewinnt auch noch mein Lieblingsspieler, Wahnsinn.
Schon bald war mir der Gedanke gekommen, dass ich für die Blogleser hier einen Stimmungsbericht verfassen könnte. Inzwischen bin ich seit über einer Woche wieder zu Hause und habe schon ungefähr zwanzig Mal erfolglos dazu angesetzt, etwas zu schreiben. Es ist nicht so, dass mir nichts einfallen würde, im Gegenteil fällt mir viel zu viel ein; ich bin immer noch ziemlich überwältigt von all den Eindrücken. Diese zu kanalisieren und in passende Worte zu kleiden, erweist sich als noch schwieriger, als ich anfangs dachte. Ich war ja nicht als neutraler Beobachter da, sondern in erster Linie als Carlsen-Fan. Und was habe ich gezittert und gebangt, meine Güte! Wenn man vor Ort dabei ist, hat es einfach eine ganz andere Intensität, als wenn man lässig zu Hause vor dem Computer sitzt, womöglich mit laufender Engine im Hintergrund. Man versteht viel besser die menschliche Ebene. Auch die vermeintlichen Halbgötter mit ihren gigantischen Elozahlen sind Menschen aus Fleisch und Blut, jeder ist anders veranlagt, aber alle sind von Emotionen geprägt. Was der Computer anzeigt, mag wissenschaftlich interessant sein, hat aber oft herzlich wenig mit dem zu tun, was in den Köpfen der Spieler vorgeht. Es ist auch z.B. einfach, aus der Ferne über Iwantschuks Zeitüberschreitungen zu lästern. Aber wenn der Mann wenige Meter vor einem sitzt und man jede Regung in seinem Gesicht studieren kann, beginnt man wenigstens annäherungsweise zu begreifen, wie er denkt, wie er fühlt, wie sensibel er ist. Iwantschuk verhält sich unwürdig, schmeißt leichtfertig oder gar absichtlich seine Partien weg? Wohl kaum.
Wie war denn nun die Atmosphäre vor Ort, wie fühlte es sich an? Zunächst ein bisschen wie Harry Potter, wenn er in Diagon Alley einkaufen geht. Man steht vor dem unauffälligen Gebäude, nichts lässt darauf schließen, was drinnen abläuft, aber man weiß ja Bescheid. Man lässt also die ahnungslosen Muggel stehen, tritt ein wie ein Mitglied einer verschworenen Gemeinschaft und legt seine alltägliche Existenz an der Garderobe ab. Willkommen in der Parallelwelt. Hier sind die Bretter, die die Welt bedeuten, hier im dunklen Halbrund wird Geschichte geschrieben. Nichts auf der Welt ist wichtiger als der nächste Zug. Nur der Tablet-Computer, mit dem man die Kommentare verfolgen können soll, erinnert ein wenig an die materielle Außenwelt. Das Ding funktioniert aber sowieso nicht vernünftig, die Übertragung ruckelt wie verrückt, also weg damit, Atmosphäre einsaugen. Nobles Ambiente hier drin, aber egal, entscheidend ist die Gestik und Mimik der Spieler. Was macht Carlsen für einen Eindruck? Der sonst so lässige Junge sieht angespannt aus, sitzt steif am Brett, manchmal verzieht er gequält das Gesicht. Der Spaßfaktor spielt ja für ihn sonst eine große Rolle, er spielt einfach unheimlich gern Schach. Im Moment macht es aber offensichtlich keinen großen Spaß, der Druck ist immens, aber da muss er durch. 4.Dc2 gegen Nimzo-Indisch von Radja, na gut, das hat er gegen Grischuk auch schon gemacht. Trotzdem starrt Carlsen die Stellung an, als sähe er sie zum ersten Mal in seinem Leben. Was ist los? Mein Gott, bereitet er sich denn gar nicht vor? Was macht eigentlich sein Sekundant in London, außer Sightseeing? Aber wenigstens kommen nach und nach ein paar Züge, auch wenn sie vollkommen improvisiert und nicht sehr überzeugend aussehen. Verrückt wird man hingegen bei der zweiten zentralen Partie des Tages (s. Diagramm):
Kramnik hat gerade 5.e3 gezogen, kein üblicher Zug, aber weiß Gott auch nicht besonders furchteinflößend. Man könnte meinen, dass Schwarz z.B. 5...Lg7 antworten kann, ohne direkt zu verlieren. Aber Gelfand, die alte Schnarchnase, überlegt und überlegt und überlegt. Man wartet, sieht, wie die Zeit verrinnt (10, 20, 30 Minuten...) und wird schier wahnsinnig. Als ob in der Partie nicht noch viel kritischere Momente zu erwarten wären! Irgendwann erfolgt endlich 5...dxc4, Kramnik eilt ans Brett, zieht a tempo 6.Se2 und verschwindet wieder. Und Gelfand verfällt in die nächste Brütphase, nicht zu fassen!
Aber schließlich geht die Partie natürlich doch weiter, ich habe inwischen auch genug gesehen und siedle in den Kommentarraum um, wo eine deutlich lebhaftere Stimmung herrscht. Richtig voll ist es hier, bei weitem nicht alle haben einen Sitzplatz. Vorne gibt Lawrence Trent mit wechselnden Partnern den Chef-Moderator und -Kommentator und er macht es richtig klasse. Jeden Spieltag ist er von Anfang bis Ende da und muss sich den Mund fusselig reden, aber er beweist eine tolle Kondition und ist nie um einen guten Spruch verlegen. Vor allem findet er eine schöne Balance zwischen Sachlichkeit und Unterhaltung. Und langweilig wird es sowieso nicht, schon allein wegen der Turnierkonstellation.
Vor allem die Partie Kramnik - Gelfand ist natürlich hochinteressant. Zunächst scheint Gelfand die Eröffnung doch ganz gut gemeistert zu haben, aber die Zeit läuft ihm davon. Je näher die Zeitkontrolle rückt, desto höher steigt die Spannungskurve. Gelfand steht kritisch, aber er verteidigt sich prächtig, findet immer wieder Ressourcen. Der ganze Raum fiebert mit, wohl über 100 Leute. Keiner weiß, was los ist. "Kramnik gewinnt!", heißt es zwischendurch, "nee, doch nicht!" Und so weiter. Nach der Zeitkontrolle ist die Lage immer noch unklar, aber zum Glück schaut in diesem Moment Peter Swidler vorbei. Er tut zwar wie üblich so, als hätte er keine Ahnung, sieht aber in einer Minute mehr als Trent & Co. in einer halben Stunde. Tja, deswegen darf er hier auch mitspielen. Der Weltklassemann prophezeit ein Remis und tätsachlich kommt es einige Zeit später auch so. Vorhang auf für Carlsens Endspiel-Magie!
Und damit sind wir bei meinem persönlichen Highlight der ganzen Veranstaltung. Die Schlussrunde war ja auch nicht von schlechten Eltern, aber wie Carlsen dieses Endspiel knetete, hat auf mich einen noch größeren Eindruck hinterlassen. Natürlich war Radjabow nicht besonders gut drauf, aber meine Güte, der Mann hat knapp 2800 Elo und ist (noch) die Nr. 4 der Welt. Und Carlsen drückt ihn aus wie einen Schulbuben! Wobei ich einen Moment herausgreifen möchte, in dem noch einmal richtig Zittern angesagt war:
Wohin mit dem schwarzen König? Natürlich möchte man gerne nach b7, was die Kommentatoren zunächst auch empfohlen hatten, und auf 76.Sc4 folgt vermeintlich 76...Sc6 "mit sicherem Mehrbauern". Plötzlich stellte man aber fest, dass nach 77.Sb2! dann auf einmal der Läufer weg wäre. Hoppla, das kann man nach so langem Kampf schon mal übersehen! Und just in diesem Moment zieht Carlsen tatsächlich 75...Kb7. Er wird doch nicht etwa... Oh Gott! Alle Carlsen-Fans (ich bin natürlich nicht der Einzige) halten den Atem an, Manager Espen Agdestein mag gar nicht mehr hingucken. 76.Sc4 geschieht, jetzt AUFPASSEN, waaaaa... und man erkennt auf dem Bildschirm, wie Carlsen von der Erkenntnis durchzuckt wird. König zurück nach a6, in nächsten Anlauf nach a7 und weiter geht's. Puh! Man wischt sich die Schweißtropfen von der Stirn, aber Moment mal, wie steht's denn jetzt überhaupt? Carlsen hat zwar einen Bauern mehr, er hat nicht die Figur eingestellt, aber kommt jetzt nicht der weiße König reinmarschiert? 78.Kd4 schon gespielt! Oh je, jetzt wird's konkret. Man versucht zu rechnen, auf den Analysebrettern wird fleißig herumprobiert, wieder weiß zunächst keiner, was los ist. Trent unkt: "Das kann Carlsen auch noch verlieren!" Aaarg! Gibt's eigentlich einen Arzt hier? Aber Radjabow ist inzwischen auch ziemlich fertig und findet nicht die besten Züge. Ehe man sich's versieht, hat Carlsen eine Figur mehr, der Rest ist einfach. Alles bereit zum großen Finale!
Am letzten Tag herrscht dann eine Atmosphäre, wie man sie von Schachturnieren wirklich nicht gewohnt ist. Die Räumlichkeiten sind proppevoll und im Analyseraum geht es teilweise zu wie auf einem Rummelplatz. Von links und rechts wird reingerufen, obwohl dies wegen der Internet-Übertragung eigentlich untersagt wurde. Vor allem der direkt neben mir stehende Jonathan Speelman (der immerhin auch schon mal im Kandidaten-Halbfinale war) ist überhaupt nicht zu bändigen und gibt mehr oder weniger laut ständig Zugfolgen und Bewertungen von sich. Auch sonst sind viele englische Prominente da: von der älteren Generation Nunn und Mestel, von den jüngeren Leuten u.a. Jones und Williams, leider lässt Adams sich nicht blicken. Speelmans Prognosen gefallen mir überhaupt nicht: Bei Carlsen wird es remis und Kramnik gewinnt das noch, prophezeit er. So weit sind wir aber noch lange nicht. Die Spannung ist mit Händen zu greifen, mit zunehmender Dauer wird es fast unerträglich, aber man kann ja hier nichts anderes machen als gebannt auf die Bildschirme zu starren und das Beste zu hoffen. Einer hat einen Laptop dabei und analysiert mit Houdini, das gilt nicht! Die Computer-Vorschläge nicht zu kennen trägt außerordentlich zum Reiz der Sache bei. Auch ohne Hilfsmittel wird allerdings mit der Zeit immer klarer, dass beide Führenden die Kontrolle verlieren und somit wohl tatsächlich das eintritt, was vorher nur als Gag vorhergesagt wurde: Carlsen und Kramnik verlieren beide! Aber die Dramaturgie wäre nicht perfekt ohne ein retardierendes Moment: Carlsen hat bereits aufgegeben, Iwantschuk steht kurz vor dem Sieg. Plötzlich wird die Kunde verbreitet, auch die letzte Partie sei vorbei. "Iwantschuk hat Remis angeboten!" Lähmendes Entsetzen - wieso remis? In totaler Gewinnstellung? Iwantschuk schenkt Kramnik den Turniersieg? Skandal, Schiebung, Betrug? Doch da kommt die Auflösung: "April, April!" Tatsächlich, es ist der 1. April und fast könnte man meinen, dass der liebe Gott persönlich sich einen kleinen Scherz erlaubt hat... Mir ist aber eigentlich nicht zum Lachen zumute, sondern ich bin einfach überwältigt. Diese zwei Tage waren so intensiv, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Ein einzigartiges Erlebnis - Schach pur!

Ein tolles Jahr für (deutsche) Schachfans
2013 bringt keine Schacholympiade, wahrscheinlich keinen WM-Kampf, und doch verspricht das neue Jahr ein gutes Schachjahr zu werden. Das gilt insbesondere für die deutschen Schachfans: Gleich drei Weltklasseturniere sollen in den nächsten Monaten in Deutschland stattfinden: Am 6.-17. Februar in Baden-Baden mit Anand, Adams, Caruana, Fridman, Meier, Naiditsch und einem ganzen Schachfestival. Am 3.-17. Juli ein FIDE-Grandprixturnier in Berlin und ab 22. Juli das Dortmunder Sparkassen-Chess-Meeting.
Wer im Süden wohnt, hat es nicht weit nach Zürich, wo am 23.Februar bis 1. März Anand, Caruana, Kramnik und Gelfand antreten. Die im Nordwesten können sich einen Abstecher zum ersten Knaller des Jahres in Wijk aan Zee von 12. bis 27. Januar überlegen. Ein Leckerbissen für heimische Fans ist auch das zum zweiten Mal zentral ausgetragene Bundesligafinale am 5. bis 7. April im Schwetzinger Schloss.
Den sportlichen Höhepunkt des Jahres erwarte ich vom doppelrundig mit acht Teilnehmern (Carlsen, Kramnik, Aronjan, Radschabow, Grischtschuk, Swidler, Iwantschuk und Gelfand) ausgetragene Kandidatenturnier am 14. März bis 1. April in London, das eher nicht mit einem Aprilscherz sondern der Kürung von Anands designiertem Nachfolger endet. Dass der 43jährige Inder bei seinem Kraftakt in Wijk aan Zee, Baden-Baden und Zürich mit 29 Partien binnen sieben Wochen wieder seit Jahren vermisste Siegerqualitäten zeigt und sich wieder – seinem Titel gemäß – über die 2800 schwingt, erwarte ich nicht, lasse mich aber gerne eines Besseren belehren. Offenbar ist Anand klar, dass seine beste Chance, zu alter Größe zu finden, jetzt ist, bevor sein Herausforderer feststeht und die nächste WM beginnt, sich im Kopf breit zu machen.
Nach dem starken ersten Quartal wird das Schachjahr etwas ruhiger. Abgesehen von den schon erwähnten Ereignissen erwarten uns das Festival in Biel, FIDE-Grandprixturniere in Lissabon, Madrid und Paris, im August der Weltcup in Tromsö als Generalprobe für die ziemlich genau ein Jahr später dort stattfindende Schacholympiade, und im Herbst dann wieder Bilbao, London und das Moskauer Tal-Memorial, falls es nicht beim voriges Jahr provisorischen Juni-Termin bleiben soll. Der WM-Kampf könnte zwar laut einer früheren Ankündigung der FIDE schon Ende des Jahres in Anands Heimatstadt Chennai über die Bühne gehen. Wahrscheinlicher ist aber 2014 und nach einer Ausschreibung, sobald der Herausforderer in London ermittelt ist.
Gespannt bin ich auch, ob es Andrew Paulson, dem von der FIDE beauftragten Impressario des Grandprix, Kandidatenturniers und der nächsten WM gelingt, die Präsentation des Spitzenschachs zu verbessern. Dass Veranstaltungen wie Linares oder die Amber-Turniere in Monte Carlo und Nizza verschwunden sind, merkt man dem gut gefüllten Kalender jedenfalls nicht an. Für Fans hochklassigen Schachs hat ein gutes Jahr begonnen.

Anand zeigt uns die Sterne
In seinem Guardian-Interview verrät Anand kaum Neues. Vermutlich die Aufregung. Nein, nicht wegen seiner Partien, die er routiniert zum Remis herunterspult, wenn er nicht gerade von Hikaru Nakamuras Königsinder schwindlig gespielt wird (die dritte Niederlage des Weltmeisters in drei Monaten), sondern vor seinem ersten Auftritt als Astronomie-Professor. Am heutigen beim London Chess Classic spielfreien Mittwoch will er uns zusammen mit John Nunn die Sterne zeigen, erklären, wie Teleskope funktionieren und sich von seiner Schlappe gegen Naki erholen. Ein Livestream ab 20 Uhr ist geplant.

Verpasste Geschenke
Was schenkt man jemand, der so gut wie alles hat oder zumindest haben kann? Peter Davies´ Bruder wusste um dessen Faible für Schach und entschied sich, ihm einen Schachlehrer zu besorgen. Das ungewöhnliche Geburtstagsgeschenk hat sich als Glücksfall für das Schach erwiesen. Und unser Glück könnte noch größer sein, stünde ihm nicht einmal mehr die FIDE im Weg, aber dazu gleich mehr.
Zunächst zu Peter Davies. Er ist Hedge-Fond-Manager, einer der erfolgreichsten in London. Er hatte schon einige Schachlehrer verschlissen. Mit Malcolm Pein verstand er sich auf Anhieb. Vielleicht weil Pein in seinem Metier selbst zu den Erfolgreichsten gehört. Sein Schachladen ist samt Versandgeschäft und Ableger in den USA der umsatzstärkste der Welt. Pein gibt eine Monatszeitschrift (Chess) heraus, verlegt Schachbücher (Everyman Chess), schreibt eine tägliche Schachkolumne (Telegraph), gibt Privatstunden und organisiert Schachevents.
Ein halbes Jahr nach ihrer ersten Schachstunde reiste Davies mit seinem Schachlehrer nach Bonn. Er hatte Lust bekommen, einen WM-Kampf zu sehen. Anand, Kramnik und die ganze Inszenierung beeindruckten ihn, und er bohrte: Wann holen wir die WM nach London? Pein schlug vor, eine Spur kleiner zu beginnen und erst einmal ein Turnier auszurichten. So wurde auf einem Abstecher an den Rhein der Grundstein zum London Chess Classic gelegt.
Dieses nun schon zweimal in der Vorweihnachtszeit ausgerichtete Turnier hat neue Maßstäbe in Sachen Publikumsfreundlichkeit gesetzt. Nicht nur wer die tadellose Inszenierung im Kensington Olympia verfolgt hat, sondern auch Zehntausende, die nur online dabei waren, wurden überzeugt: Malcom Pein und sein Team sind derzeit die besten möglichen WM-Veranstalter.
Im Juli vorigen Jahres hat Pein der FIDE ein Angebot vorlegt. Das Preisgeld sollte ähnlich hoch liegen wie vor zwei Jahren in Sofia (damals zwei Millionen Euro für die Spieler, 400 000 für die FIDE). Die geplante Inszenierung und der mögliche Werbeeffekt für Schach waren absehbar vielfach besser. Pein hat auch die von der FIDE als Voraussetzung für Verhandlungen verlangten 50 000 Euro eingezahlt. Weltmeister Anand unterstützte die Bewerbung. Selbst als Carlsen das Kandidatenturnier absagte, blieb London am Ball. Alles passte. Nur den FIDE-Unterhändlern passte etwas nicht.
Bis Ende Jänner brauchte Pein Klarheit. Die Option auf den geplanten, repräsentativen Spielort lief ab. Je kürzer die verbleibende Zeit bis zur ím Mai 2012, also drei Monate vor den Sommerspielen geplante Ausrichtung umso teurer und fehleranfälliger würde es. Die FIDE hat die von London gestellte Frist verstreichen lassen. Man kann nur (und besser privat als öffentlich in einem Blog) spekulieren, was die Unterhändler der FIDE noch von Pein erwartet haben. Er tat einfach, was er ihnen ankündigte und zog, wie er heute bekannt machte, die Bewerbung zurück.
Die WM in London wäre ein Geschenk für die Schachwelt gewesen. Die FIDE-Unterhändler haben entschieden, dass wir ein Geschenk nicht verdienen. Wir nicht...
2010 im Schnelldurchlauf
Los ging es mit der Mannschafts-WM im türkischen Bursa und einem Favoritensieg Russlands. Überraschend holten die USA mit dem überragenden Nakamura und Indien, obwohl ohne Anand, die Medaillen vor den höher eingeschätzten Team aus Aserbaidschan und Armenien. Den besten Start des Jahres erwischte Alexei Schirow in Wijk aan Zee mit fünf Siegen en suite. Am Ende wurde er dann doch noch überholt von dem trotz seiner erst 19 Jahre seit 1.Januar Führenden der Weltrangliste Magnus Carlsen. Die B-Gruppe wurde eine Beute des nächsten Carlsen, des 15jährigen Anish Giri.
Weltmeister Anand riss sich in Wijk aan Zee bei seinem letzten Test vor seinem Titelkampf kein Bein aus und holte seine üblichen plus zwei. Anders einen Monat später Wesselin Topalow: Mit unberechenbarem, hoch riskantem Schach gewann der Herausforderer in Linares, wo allerdings weder Carlsen, Anand noch Kramnik am Start war. Das wahrscheinlich stärkste Open des Jahres gewann der 18jährige Vietname Le Quang Liem. Während die Nationalspieler bei der EM in Rijeka unter ferner liefen mit ansahen, wie der 19jährige Jan Nepomnjaschtschi als Nummer 35 der Setzliste Europameister wurde, holte sich ein anderer Junior, der 18jährige Hamburger Schüler Nicolas Huschenbeth den deutschen Titel.
Korruption ist im Weltschach sonst eher auf Funktionärsebene ein Problem. Hoffnungen auf Veränderung nährte die Kandidatur von Anatoli Karpow um die FIDE-Präsidentschaft mit maßgeblicher Unterstützung von Garri Kasparow und dessen Draht zu Financiers im Westen. Das Turnier im rumänischen Bazna mauserte sich zum Elitewettbewerb. Der Sieger hieß einmal mehr Carlsen. Derweil eskalierte ein seit längerem schwelender Streit zwischen den Nationalspielern und dem Deutschen Schachbund um Honorare und die Bedingungen für Profis in Deutschland. Dazu gehört etwa auch, dass in Dortmund nur Naiditsch willkommen ist (das unzureichend gemanagte Turnier gewann heuer Ponomarjow) und in Mainz, dem Treffpunkt des Schachs in Deutschland, aufgrund der Wirtschaftskrise das Programm auf zweieinhalb Tage eingedampft werden musste.
Bei der Schacholympiade holte dann eine Ersatzauswahl mit Platz 64 das mit Abstand schlechteste deutsche Ergebnis. Im sibirischen Chanti-Mansisk enttäuschte auch Gastgeber Russland und musste Gold den leidenschaftlicheren, von einem entfesselten Wassili Iwantschuk angeführten Ukrainern überlassen. Dafür dominierten die Russinnen den Frauenwettbewerb. Bei der FIDE-Wahl unterlag Karpow mit praktisch der selben Marge wie vier Jahre zuvor Bessel Kok gegen Kirsan Iljumschinow, dessen Hintermänner seit 1995 in die eigenen Taschen wirtschaftend das Chaos verwalten.
Kurz danach schockte der Norweger, dessen WM-Sieg für viele nur eine Frage der Zeit ist, mit dem Rücktritt aus dem im Frühjahr anstehenden Kandidatenturnier. Keinen klaren Sieger gab es in Moskau. Aronjan (der anschließend die Blitz-WM gewann), Mamedscharow und Karjakin teilten am Ende Platz eins. Das wäre nach der üblichen Wertung auch in London der Fall gewesen. Weil ein Sieg dort aber drei Punkte wert war, wurde Carlsen vor McShane und Anand zum Sieger erklärt. Zwischendurch setzte Marc Lang, FIDE-Meister aus Günzburg, mit einem Blindsimultan gegen 35 Gegner das deutsche Schachhighlight des Jahres. Die Frauen-WM im türkischen Antakya wurde von den Chinesinnen dominiert. Den Titel holte sich die 16jährige Hou Yifan, so dass sie sich künftig wohl öfter mit Männern messen darf.
Russischer Meister wurde nach einem Stichkampf, in dem es nur Remisen gab, und obwohl er zuvor im regulären Vergleich gegen den gleichaltrigen Karjakin unterlegen war, der mittlerweile 20jährige Nepomnjaschtschi. An die Weltranglistenspitze kehrt aber, nachdem zwischenzeitlich Anand vorne war, Carlsen (ebenfalls 20) zurück.

Schachwelt anno Tobak - London 1851
Beim 2. London Chess Classic Turnier sind inzwischen 4 Runden gespielt. In Führung liegen Weltmeister Vishy Anand und der englische Großmeister Luke McShane mit jeweils 3 Punkten. Wie bereits im Vorjahr ist die Veranstaltung vorbildlich organisiert und Spieler sowie Zuschauer werden bespielhaft „gepampert“. Die Spiellaune der Akteure ist ebenfalls blendend. In der dritten Runde wurde besonders hart gekämpft. So benötigte z.B. Weltmeister Anand 77 Züge, um Magnus Carlsen zur Aufgabe zu bewegen. In der Begegnung McShane-Kramnik (remis) wurde ein T+L vs. T Endspiel sogar bis zum 139 Zuge geübt. Allerdings reichen die modernen Schachhelden damit noch lange nicht an die Ausdauer der Turnierschachpioniere aus dem Jahre 1851 heran. Beim ersten, ebenfalls in London abgehaltenen, Schachturnier saßen die Spieler oftmals noch wesentlich länger am Brett. Sie produzierten zwar nicht mehr Züge, aber es gab damals noch keine Beschränkungen der Bedenkzeit. Die ersten Schachuhren wurden erst ca. 10 Jahre später eingeführt, so dass es vorkam, dass bei einzelnen Zügen über 2 Stunden (!) nachgedacht wurde. Einige Partien dauerten 12, 16 oder sogar 20 Stunden. Der Turniersieger Adolf Anderssen berichtete über die Zustände in einem Brief wie folgt:
„Der Komfort war nicht sonderlich; Tische und Stühle waren klein und niedrig; die großen Bretter ragten auf beiden Seiten über die Tischkanten hinaus; neben den Spielern wurde alle Räumlichkeit von einem Kopisten in Anspruch genommen; kurz, man hatte kein freies Plätzchen, um das sorgenvolle Haupt während des harten Kampfes zu unterstützen. Für den englischen Schachspieler ist allerdings eine bequemere Einrichtung überflüssig. Kerzengerade sitzt er auf seinem Stuhle, steckt die Daumen in die beiden Westentaschen und sieht, bevor er zieht, eine halbe Stunde regungslos aufs Brett. Hundert Seufzer hat sein Gegner ausgestoßen, wenn er endlich seinen Zug rasch und entschieden ausführt.“
Anderssens Ausführungen kann man entnehmen, dass es damals auch noch weitere Unterschiede zu den heutigen Standards gab. Aber wenigstens mussten die Spieler die Partien nicht eigenhändig mitschreiben, hierfür gab es die Kopisten bzw. Protokollführer. Diese waren um ihren Job aber wahrlich nicht zu beneiden. So konnte man im Turnierbuch in den Aufzeichnungen zur Begegnung Williams-Mucklow beispielsweise folgende Bemerkung finden:
„... beide Herren schlafen bereits.“
Wie lange diese Erholungspause angedauert hat wurde leider nicht übermittelt. Eventuell haben die Spieler die Partie auch in schlafzieherischer Weise beendet, jedenfalls gewann Williams später.
Das Turnierbuch wurde übrigens von Howard Staunton (siehe Artikelbild) herausgegeben. Er war auch der Organisator der Veranstaltung und einer der 16 Teilnehmer. Er galt im Vorfeld sogar als großer Favorit auf den Turniersieg. Eine solche Konstellation ist heutzutage kaum mehr vorstellbar. Es wäre so, als ob Vishy Anand das aktuelle Londoner Turnier als Organisator, Pressechef und Spieler in Personalunion bestreiten würde.
Staunton wurde übrigens in der dritten Runde (das Turnier fand im K.O.-System mit Mini-Matches statt) von Adolf Anderssen besiegt, welcher auch im Finale gegen Marmaduke Wyvill siegreich blieb. Zum Abschluss eine kleine Kombination aus der 4. Partie des Finalmatches:
Weiß: Wyvill Schwarz: Anderssen
{fen}5rk1/p2p3r/1p2pn2/2pPqpp1/P1P1n3/B1PQP1P1/6KP/3R1RN1 b - - 0 25{end-fen}
25...Txh2+ 26.Kxh2 Dxg3+ 27.Kh1 Kg7. 0-1.

Wie Magnus Carlsen spielend seine Gegner überrennt
Carlsen,M (2825) - Bacrot,E (2715) Schottisch [C45]
Am Bildschirm nachspielen:

Beeindruckend fand ich auch, wie er ein paar Runden später den früheren Weltmeister Topalov, der anscheinend meilenweit von seiner früheren Form entfernt ist, mit einer praktischen Eröffnungswahl überspielte:
Carlsen,M (2825) - Topalov,V (2800) [C84]
Am Bildschirm nachspielen:

Form seines Lebens
Schwarz gegen Anand, Schwarz gegen Kramnik. So geht das London Chess Classic für Hikaru Nakamura (wer seinen Namen googelt, stößt übrigens auf eine Manga-Zeichnerin (!) gleichen Namens) los. Gegen Anand hat er in der ersten Runde „eine schreckliche Partie“ gerade noch gehalten. „Zum Glück ist die Berliner Mauer ein forciertes Remis“, twitterte er gleich hinterher fröhlich. Und: „nun ist Zeit, mit Stil Geburtstag zu feiern“. Der ist am Donnerstag und wie schon erwähnt: Schwarz gegen Kramnik. 23 wird Nakamura und ist „in der Form meines Lebens“, wie er vor wenigen Tagen twitterte. Sein für ihn und seine Fans enttäuschendes Abschneiden bei der Blitz-WM in Moskau (und dass er seine Twitter-Ansage, er werde Grischtschuk beim Blitzen abschlachten wie ein Baby, nicht ganz einlöste) hat seinem Selbstbewusstsein anscheinend nichts anhaben können. Im Tal-Memorial selbst gab er sich keine Blöße, holte solide 5 aus 9 (überhaupt spielt er in hochrangigen Turnieren viel mehr Remis, als seinem Spitznamen H-Bomb entspricht). In der Liveratingliste ist Nakamura seitdem knapp aber doch in den Top Ten. Unter den Schachtwitterern ist er bereits die Nummer eins.

London Calling
Keine Sorge, dieser Blog wechselt nicht zur englischen Sprache. Das ist nur die Vorfreude auf das am Mittwoch beginnende London Chess Classic, das bei seiner Erstauflage voriges Jahr auf Anhieb neue Maßstäbe in Sachen Publikumsfreundlichkeit setzte. Wo sonst kommen die Akteure nach den Partien nahezu alle zu den Zuschauern und erläutern ihre Partien selbst? Und das nicht etwa, weil es vorher an kompetenten und spannend anzuhörenden Kommentatoren gefehlt hätte. Es ist allererste Sahne, was der Londoner Schachhändler und -veranstalter Malcolm Pein auf die Beine gestellt hat.
Statt wie in Dortmund die immergleichen drei Lieblingsspieler des Veranstalters mit drei Weltklassespielern zu matchen, treffen in London vier Weltklassespieler auf die vier stärksten Engländer. Kritikwürdig ist dabei nur, dass sich das Teilnehmerfeld gegenüber vorigem Jahr nur auf einer Position geändert hat. Statt Ni Hua spielt Anand. Es macht Sinn, den Weltmeister mit den hohen Londoner Standards vertraut zu machen, denn 2012 soll er dort seinen WM-Titel verteidigen. Allerdings dann nicht gegen Vorjahressieger Carlsen, der sich ja aus dem laufenden Zyklus abgemeldet hat. Ihr in Bilbao begonnenes und in Nanking fortgesetztes Minimatch geht übrigens in Runde fünf. Ein zweiter kleiner Makel ist das Open. Das läuft zeitversetzt, aber nicht früher sondern später als die Spitzengruppe, so dass Openspieler weniger Gelegenheit zum Kiebitzen haben als möglich wäre. Ob sich deshalb nur vier Deutsche zur Teilnahme entschließen konnten? Und andere vielleicht ohne Openteilnahme kommen? Wie Hans-Walter Schmitt, der sich, obwohl Deutschlands führender Schachveranstalter, auch noch das eine oder andere abschauen kann, aber offiziell wegen des anstehenden 41.Geburtstags eines guten indischen Freundes nach London reist.
Besonders wichtig sind dem Festival Besucher anderer Art. Für Schulkinder, die mit ihren Schachgruppen die ganz Großen besuchen kommen, gibt es ein volles Programm. Die Charity Chess in Schools and Communities, die hinter dem Festival steht, ist nämlich nicht dem Spitzenschach sondern dem Kinder- und Breitenschach verpflichtet. Ohne diese Schnittstelle macht das ganze und auch eine WM 2012 wenig Sinn.
Weiterlesen...