Schuh schaut Schach: Keep It Simple 1.e4
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Mittwoch, 10 Juni 2020 09:14

Schuh schaut Schach: Keep It Simple 1.e4

von IM Dirk Schuh

Was macht ein gutes Eröffnungsrepertoire aus? Es sollte sich in seinen Eröffnungsvarianten dem Spielstil und der Spielstärke des jeweiligen Schachspielers unterordnen. Das klingt erst einmal sehr einfach, aber erstens wissen viele Spieler gar nicht, welchen Stil sie beherrschen und zweitens gibt es Unmengen an verschiedenen Eröffnungen, die man spielen könnte, unter denen man erstmal eine Auswahl treffen muss. Ich habe darum bisher nicht wenige Schüler gehabt, die zum Beispiel ursprünglich im Londoner System verkümmerten, obwohl sie taktisch stark waren.

Ein falsches Eröffnungsrepertoire kann die ganze Entwicklung eines Spielers hemmen oder zerstören, darum sollte man gerade als junger Mensch am besten erfahrene Schachtrainer fragen, ehe man eines aufbaut. Gleichzeitig sollte man aber auch schauen, welche Variantenzahl man sich denn merken kann. Es gibt Eröffnungen, in denen man sehr häufig in bestimmte Strukturen einlenkt und in diesen darum auch sehr schnell Verständnis aufbauen kann. Der Vorbereitungsfaktor ist hier geringer und man kann sich in seinem Schachtraining mehr auf spielerische Details konzentrieren.

Es gibt aber auch Eröffnungen, die sehr viel gehaltvoller sind und in denen man eine enorme Bandbreite an verschiedenen Strukturen beherrschen muss, um nicht unterzugehen. Dies ist für schwächere Spieler nur schwer zu händeln und man muss sowohl ein gutes Gedächtnis als auch viel Zeit und Geduld mitbringen, um sich diese Eröffnungen anzueignen.

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Wo ist das beste Feld für den Springer? (Foto: OSt)

Ich bevorzuge als Spieler und Trainer stets erstere Eröffnungen. Meine Schüler haben normalerweise alle unter 2000 DWZ und sollen nicht nur andauernd Varianten auswendig lernen. Ich selbst habe zwar ein ganz gutes Gedächtnis, aber mag konkrete Eröffnungsvarianten, wo derjenige gewinnt, der sich besser auskennt, einfach nicht. Am Schachbrett möchte ich spielen und mich nicht nur erinnern. Darum war ich auch sehr auf das neue Buch des Internationalen Meisters Christof Sielecki gespannt.

In "Keep It Simple 1.e4- A Solid and Straightforward Chess Opening Repertoire for White" aus dem Hause New in Chess soll der Leser ein vollständiges Eröffnungsrepertoire nach 1.e4 erhalten, das einerseits solide ist, aber auch keine konkreten Varianten beinhalten soll, die man auswendig lernen muss. Stattdessen soll der Leser jederzeit gute Züge finden, auch wenn er die Theorie einmal vergessen hat. Die Zielgruppe wird mit einer Elo ab 1500 und nach oben hin offen klar definiert.
Mit dem Wort "simple" hat er mich natürlich sofort begeistert. Ich dachte dabei erst an Sam Collins`"A Simple Chess Opening Repertoire for White", in dem auf nur 160 Seiten ebenfalls ein Eröffnungsrepertoire nach 1.e4 vorgestellt wurde. Die geringe Seitenzahl schaffte der Autor damals, indem er gegen die Haupterwiderungen 1. ...c5, 1. ...e6, 1. ...c6 und mit Abstrichen auch 1. ...e5 stets die gleiche Bauernstruktur im Zentrum, den Damenisolani, anstrebte. Der Leser konnte so schnell zum Experten werden.
Mir gefiel das damals sehr gut, auch wenn das Buch schon eine höhere Spielstärke der Leser voraussetzte. Ganz so simpel ist das Sieleckirepertoire allerdings nicht. Statt einer Hauptstruktur im Zentrum, durch die man relativ schnell weiß, wohin man seine Figuren entwickeln kann, gibt es in diesem Buch sehr viele zu bestaunen.

So gibt es zum Beispiel nach 1.e4 e5 das Schottische Vierspringerspiel und damit eine offene Zentrumsstruktur mit dem e4 gegen den d6 oder gar ohne weiße Zentrumsbauern gegen einen schwarzen d5, gegen Sizilianisch gibt es Lb5-Aufbauten mit spanischen Zentrumsstrukturen und dem Vollzentrum e4 und d4, Igelstrukturen mit e4 und c4 gegen e6 und d6, gegen e6-Sizilianer kann Weiß auch mal den Damenisolani anstreben oder gegen einen schwarzen Damenisolani spielen, während Weiß gegen die Französische Verteidigung einfach auf d5 tauscht und dann ein statisches Zentrum mit dem d4 gegen den d5 erhält, um nur einmal die Stellungen zu nennen, die nach den häufigsten Verteidigungen vorkommen. Das stellt einen unfassbaren Aufwand dar.
Ich hätte das aber ganz gut verstanden, wenn der Autor jede Möglichkeit wahrgenommen hätte, sein Repertoire halbwegs eng zu lassen und im Hinblick auf das Oberthema "Keep It Simple" keine andere Wahl gehabt hätte. Es sollen halt einfache Stellungen angestrebt werden, in denen Weiß kaum verlieren kann und Schwarz immer etwas gequält wird.
Allerdings hätte er sich da zum Beispiel sein Russischkapitel halbwegs sparen können. Nach 1.e4 e5 2.Sf3 Sf6 3.Sxe5 d6 4.Sf3 Sxe4 5.d3 Sf6 6.d4 spielen die meisten Russischspieler d5 und nach 7.Ld3 sind wir in der Französischabtauschvariante. Man hätte dann nur noch kurz zeigen müssen, was Weiß macht, wenn Schwarz nun nicht d5 spielt, aber das wäre vom Aufwand her vertretbar gewesen. Der Autor nennt diese Möglichkeit auch, aber ohne Weiß einen Plan nach dem Auslassen von d5 an die Hand zu geben. Seine Wahl ist stattdessen nach den obigen Zügen 3.Sc3, wonach Sc6 wieder in das Schottische Vierspringerspiel einmündet, aber nach 3. ...Lb4 4.Sxe5 0-0 5.Le2 Te8 6.Sd3 Lxc3 7.dxc3 Sxe4 haben wir wieder eine neue Zentrumsstruktur zu meistern.
Bundesliga Markus Ragger gegen Luke McShane
Grenzenlose Schachspielerfreiheit: Vor dem ersten Zug ist alles möglich!     (Foto: OSt)


Da ich 3.Sc3 häufig gegen die Russische Verteidigung spiele, kann ich sagen, dass Lb4 nicht so selten vorkommt und lästig ist. Ok, der Autor meint, dass Leute ab 1500 Elo ein unglaublich gutes Gedächtnis haben und fordert sie. Das kommt mir zwar komisch vor, aber im Hinblick auf ein in sich stimmiges Repertoire hätte ich das in Kauf genommen. Es kommt aber leider noch schlimmer. Gegen die Caro-Kann-Verteidigung hätte ich nach der Französischabtauschvariante eigentlich 1.e4 c6 2.d4 d5 3.exd5 cxd5 4.Ld3 erwartet. Das System ist derzeit ähnlich populär und bietet einfache Stellungen, in denen Weiß meist etwas aktiver steht. Stattdessen wird in dem Buch allerdings 2.Sc3 d5 3.Sf3 empfohlen. Das Zweispringersystem habe ich selbst jahrelang gespielt, aber nicht im Turnierschach. Der Grund dafür ist 3. ...Lg4 4.h3 Lh5, wonach Weiß mit 5.exd5 cxd5 6.Lb5 Sc6 7.g4 Lg6 8.Se5 Tc8 9.d4 e6 10.De2 Lb4 11.h4 Sge7 12.h5 Le4 13.f3 eine Figur gewinnen kann, aber nach 0-0 14.Sxc6 Sxc6 15.Le3 Df6 16.fxe4 Sxd4 17.Lxd4 Dxd4 18.Td1 Lxc3 19.bxc3 Dxc3 20.Kf1 dxe4 21.Dxe4 kann Schwarz sowohl Dxc2 als auch f5 spielen und Weiß muss weiterhin sehr konkret spielen, um nicht Probleme zu bekommen.

Ich wundere mich, dass der Autor hier seine Grundsätze für das Repertoire ganz vergessen hat, denn erstens muss man diese Variante einfach auswendig lernen, was auch das mehrfache im Text auftauchende "forced" belegt, zweitens erwähnt er f5 gar nicht, obwohl der Zug genauso oft wie Dxc2 gespielt wird und drittens möchte ich den Spieler mit einer Elo von 1500, dem ich mal eine DWZ zwischen 1300 und 1400 zuordne, sehen, der das entstehende Endspiel ohne weitere Schulung gewinnt oder auch nicht verliert. Hier hätte ich zumindest eine Modellpartie erwartet, die dem armen Tropf noch ein wenig weiterhilft. Stattdessen erwähnt der Autor nur, dass diese Variante häufiger vorkommt als man denkt und dass man das Ganze auswendiglernen sollte. Aber ich dachte eigentlich, sowas soll in dem Repertoire vermieden werden.

Ich möchte dazu noch ein weiteres Beispiel nennen, um zu zeigen, dass das Repertoire leider nicht wirklich stimmig ist. Die Skandinavische Verteidigung ist für viele e4-Spieler ein kleines Problem, weil die Stellungen schnell mal austrocknen können. Der Autor bietet hier ein hartes System nach 1.e4 d5 2.exd5 Dxd5 3.Sc3 Da5 4.d4 Sf6 5.Sf3 c6 6.Lc4 Lf5 7.Se5 e6 8.g4 Lg6 9.h4 Sbd7 10.Sxd7 Sxd7 11.h5 Le4 möchte er, dass sein Leser mit 12.0-0 in die Königsflügelruine rochiert. Nach Ld5 13.Sxd5 cxd5 14.Ld3 Ld6 15.Ld2 gibt er jetzt nur Dc7 16.Df3 an, ohne weiteren Plan für Weiß und schreibt nur, dass man sich schon keine Sorgen um den ab jetzt für den Rest der Partie geschwächten König machen muss.
Die Leute, die nach 15. ...Dd8 auch den Buchzug 16.Df3 spielen und nach Dh4 17.Dg2 Sf6 18.f3 g6 nicht mehr das Gleichgewicht halten können, tun mir jetzt schon ein wenig leid. Der Autor liefert diesmal sogar eine Modellpartie von niemand geringerem als Viswanathan Anand, der aber 12.Th3 spielt.

Luke Fridman1
Das Gute an Endspielen ist, dass alle Eröffnungssorgen überstanden sind (McShane - Fridman, Bundesliga 2013)

Aber es gibt auch tolle Varianten in dem Buch. Für mich ist die Darstellung des Schottischen Vierspringerspiels beispielsweise top. Weiß hat klare Pläne und Felder für seine Figuren und die Verlustgefahr ist relativ gering. Ich spiele dieses System seit über 25 Jahren und hatte nie sonderlich Probleme damit. Zwar gewinnt man ab einer Spielstärke von 2200 nicht mehr allzu viele Partien damit, aber das sollte für die meisten Spieler hoffentlich nicht zu schlimm sein.

Der Autor analysiert dabei in der Hauptvariante nach 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Sc3 Sf6 4.d4 exd4 5.Sxd4 Lb4 6.Sxc6 bxc6 7.Ld3 d5 8.exd5 0-0 9.0-0 cxd5 den modernen Zug 10.h3. Dieser ist noch gar nicht allzu alt und fand enorme Beachtung, nachdem Wladimir Kramnik ihn 2012 gegen Levon Aronian gespielt hatte. Weiß lässt meist Df3 und Lf4 folgen, hat aber immer noch Lg5 in Reserve, sodass Schwarz noch nicht genau weiß, was Weiß im Schilde führt. Später wird die schwarze Bauerninsel d5, c6 oder c7 meist mit c4 angerempelt und Schwarz hat mit der schlechteren Bauernstruktur im Endspiel zu kämpfen.
Die Empfehlungen von Christof Sielecki gefallen mir hier sehr gut und sind auch recht aktuell. Selbst die derzeit modische Variante nach den obigen Zügen und dann statt 9. ...cxd5 9. ...Lg4 bespricht er und empfiehlt hier eine einfache stellungsgerechte Variante.

Alles in allem hätte man die Nennung der Zielgruppe wohl weglassen oder auf mindestens 1800 DWZ anheben müssen. Mit dieser Spielstärke sollte man die zahlreichen verschiedenen Strukturen und Klippen meistern können. Auch hätte man vielleicht besser schauen sollen, ob man die genannten überscharfen und konkreten Systeme nicht durch andere hätte ersetzen können.
Vielleicht kommt hier zum Tragen, dass Christof Sielecki selbst eigentlich eher mit 1.Sf3, 1.c4 oder 1.d4 eröffnet und ihm darum die nötige Erfahrung fehlt, die Gefahren der Stellungen richtig einzuschätzen. Dass die Engine seine Varianten alle gut findet, ist klar, dafür ist er einfach zu professionell. Als Eröffnungsbuch finde ich sein Werk darum auch sehr gut, aber als angedachtes Repertoirebuch für die genannte Spielstärkegruppe hat es doch leider viele Mängel.
Ein Problem ist natürlich auch, dass ein e4-Repertoire auf nur 365 Seiten an sich schon etwas oberflächlich wäre, aber durch das Auslassen von möglichen Varianten- oder Strukturabkürzungen ist der Leser aufgrund des Umfangs in vielen Systemen schon recht früh auf sich gestellt, obwohl noch gar nicht alle seiner Figuren entwickelt sind. Wer aber die nötige Spielstärke mitbringt und bereit ist, die empfohlenen Varianten selbständig mit einer Datenbank weiterzuentwickeln, wird an dem Werk viel Spaß haben.

IM Dirk Schuh, November 2018

Schachtraining mit Dirk Schuh

keep it simple

Das Ansichtsexemplar wurde von der Firma Schach Niggemann in Münster freundlich zur Verfügung gestellt.