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Donnerstag, 24 Februar 2011 01:34
Tückische Turmendspiele (1): Turm in der Ecke – die Ausnahme von der Regel
Grau ist alle Theorie in den Turmendspielen. Gesehen oder gelesen haben wir schon so manches darüber und wissen um die wesentlichen Prinzipien. Eigentlich. Doch zu jedem Grundsatz gibt es mindestens eine Ausnahme – und oft sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht, will sagen, man starrt auf das Brett, sieht ein Turmendspiel vor sich, weiß aber nicht, zu welcher Kategorie man dieses spezielle Stück zuordnen soll. „Ist das Lucena? Oder Philidor? Behrsche Regel? Oder vielleicht ganz was anderes?“ Und selbst wenn man es verifizieren sollte – wie ist die Position dann zu behandeln?
Durch nichts lernt man besser als durch die praktische Partie. Das gilt besonders für Turmendspiele. Eine wichtige Erfahrung machte ich vor ein paar Jahren, als ich glaubte, gegen Großmeister Joszef Horvath eine Remisstellung erreicht zu haben. Doch das war dann eher die Ausnahme zu der Regel, die ich mir zur Grundlage meiner Beurteilung gemacht hatte:
„Türme gehören hinter die Freibauern“ (Tarrasch) und „ der König muss aktiv eingesetzt werden“
F. Zeller (2451) – J. Horvath (2560), Deizisau 2000
Nach 53...Ta3+

Nach ziemlich vielen Aufregungen zuvor blieben mir nur noch wenige Minuten, um hier die richtige Strategie abzuschätzen. Augenscheinlich müsste die Stellung Remis sein, mein Turm steht sehr aktiv und kann jederzeit nach a8 hinter den Freibauern gehen, was „in der Regel“ günstig ist. Und wie verhält es sich mit dem König? Soll der sich bescheiden auf die zweite Reihe zurückziehen oder sich aktiv ins Geschehen stürzen?
54.Kf4? Ich entschied mich für die offensive Ausrichtung, im Glauben, dass dies den Schwarzen in seinen Möglichkeiten einschränken würde. Bei 54.Kg2 war mir nicht klar, wie ich den vielfältigen schwarzen Ideen begegnen soll und ich fürchtete später in einer passiven Stellung zu landen und dann den Bauern unter ungünstigeren Umständen zu verlieren. Vor allem wird er e5 aufs Korn nehmen: 54. …Td3 (bei 54...Te3 55.Tb5 a4 56.Ta5 a3 57.h4 kommt er nicht recht weiter und bei 54...Kg5 ist f7 schwach: 55.Tf8=), doch Weiß hält Remis, indem er seinen Turm auf eine anscheinend passive Position zurückbeordert: 55.Tb1! (55.Tb5 Td5) und nun
a) 55...Td5 56.Te1! a4 (56...Kg5 57.Tf1!) 57.Ta1 Td4 (57...Ta5 58.Ta3 Kg5) 58.Kg3 Td3+ 59.Kf4 a3 60.h4 Td4+ 61.Kg3 Ta4 62.Ta2 und Schwarz kommt nicht voran.
Analysediagramm:y

Schauen Sie, wie dumm der weiße Turm auf a2 steht – so eine Verteidigungsführung lehnt man intuitiv ab! Doch Weiß hat eine Festung. Er gerät nicht in Zugzwang, er kann mit seinem König zwischen f3 und h3 pendeln. Ein äußerst wichtiger Umstand! Und bringt Schwarz seinen König über f8-e8-d7 gen Damenflügel, so kann Weiß den Trumpf des entfernten h-Bauern in die Schale werfen. In der Partie gab ich diesen leider viel zu voreilig ab…
b) 55...a4 56.Tb4! (56.Ta1 a3) 56...a3 57.h4! a2 58.Ta4 und bei 58. ...Td4 59.h5+ Kg5 60.Txa2 Txg4+ 61.Kf3 Kxh5 hält unter anderem 62.Ta7 Tg1 63.Ta8! das Gleichgewicht.
54...Txh3 55.Tg8+ Kh7 56.Ta8 Ta3 57.Kg5

Darauf war ich aus, ich dachte, Turmzüge auf der a-Linie würden nun ausreichen und der schwarze König befände sich in einer Pattsituation. Aber das erweist sich als grobes Fehlurteil.
57...a4 58.Ta7 Kg7 59.Ta8 Ta1 60.Ta7 a3 61.Ta6
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61. …a2! Nur so, anders kommt Schwarz nicht weiter: 61. …Kf8 62.Ta8+ Ke7 63.Ta7+ Ke8 64.Kh6! nebst Kg7. Das Erstaunliche ist, dass nun Weiß in Zugzwang gerät. Ich dachte, ich hätte den schwarzen König in der „Mausefalle“, aus der er sich nicht oder nur durch eine Konzession befreien kann, doch plötzlich dreht Schwarz den Spieß um und setzt den weißen König patt! Auf g5 steht er nur scheinbar aktiv; in Wirklichkeit wird jeder Schritt, den er tut, mit einem tödlichen Schachgebot des schwarzen Turmes bestraft.
In meinem Optimismus und meinem Urteil ließ ich mich vom Standardendspiel leiten, das ungefähr so aussieht:
Beispieldiagramm:

Weiß zieht 1.Kg2! und macht Remis, der schwarze Turm kann nicht ziehen und sobald sich der König dem a-Bauern nähert bietet der weiße Turm von oben Schach und der schwarze Monarch kann sich nicht verstecken. Anders wäre dies, wenn der Bauern noch auf a3 stünde – dann könnte der König sich auf a2 verstecken. In dem Fall müsste der weiße Turm von der Seite Schach bieten – aber das ist schon wieder eine andere Geschichte! Obiges Standardendspiel ist auch Remis, wenn Schwarz noch einen zweiten Mehrbauern auf der g- oder der h-Linie hätte. Dass ich in der Partie indes in Zugzwang geraten würde wurde mir erst klar, als es schon zu spät war!
62.Ta8 Kh7 63.Ta7 Kg8 64.Ta8+ Kg7 65.Ta5 Kf8 66.Ta7 Ke8 Weiß kann nur den Turm ziehen und durch Zugzwang und Dreiecksmanöver entkommt der schwarze Monarch seinem Gefängnis. 67.Ta3 Kd7 68.Ta6 Kc7 69.Ta8 Kb6 70.Ta3 Kc5 71.Ta8 Kd4 72.Ta5

72. …Ke4! die zweite Feinheit: Schwarz kann von zwei Feldern aus den e-Bauern angreifen. Leider fällt der e-Bauer - und zwei sind einer zuviel! 0–1
Diese Erfahrung grub sich tief ein, seither fühle ich mich in solchen und ähnlichen Turmendspielen deutlich sicherer in Punkto Urteil und Planfindung.
Im Januar in Schwäbisch Gmünd wurde ich dann Zeuge dieses Turmendspieles am Spitzenbrett der 5. Runde:
R. Buhmann (2577) – H. Pötsch (2408), Staufer Open 2011
(nach 51.Kd3-c2 ):

Achtung: ich habe das Brett absichtlich gedreht, damit die Ähnlichkeiten mit dem Vorherigen besser ins Auge springen – Sie sehen die Stellung von der Perspektive des Verteidigers aus. Hier stand Pötsch vor der schwierigen Entscheidung, ob er den seinen König aktiv nach vorne oder passiv ins Eck beordern sollte.
51.Kc2 Kc6? Während ich verlor, weil ich zu aktiv spielte, geht Pötsch hier am passiven Spiel zugrunde! Richtig war 51...Kc5!, um das Zusammenspiel König und Turm zu optimieren und noch die letzten Ressourcen herauszuquetschen. Doch es war auch kaum möglich, bei begrenzter Zeit herauszufinden, dass Schwarz nach 52.Th8 Kc4 53.h7 Th2+ 54.Kb1 Kd3 55.c4! die Partie noch retten kann:
Analysebrett:

Und zwar mit 55. ...d4! (55...dxc4 56.Td8+; 55...Kxc4 56.Tc8+) 56.c5 Kc3 57.c6 Th1+ 58.Ka2 Th2+ 59.Ka3 und nun ...Th6!! (der springende Punkt, dagegen büchst der weiße König nach 59...Th1 60.Ka4 Kc4 61.Ka5 Kc5 62.Ka6 aus) 60.Ka4 (60.c7?? Ta6 matt – das Zusammenspiel der schwarzen Figuren eben!) Txc6 61.Ta8 Th6 62.Tc8+ Kb2! 63.h8D Txh8 64.Txh8 und nach …d3 ist es remis.
52.Th8 Kb7 53.Kd2 Ka7


54.h7! Die einzige Möglichkeit, voran zu kommen. Nun kann Weiß mit seinem König übers ganze Brett wandern, während sein schwarzer Widersacher auf g2/h2 verweilen muss. Aber halt! Immerhin hat Schwarz zwei Felder für seinen König zur Auswahl – dann sollte er ja eigentlich nicht in die Verlegenheit kommen müssen, seinen Turm zu ziehen und der Turm kann von h5 aus den Bauern d5 decken, oder? Denn was klar wird, wenn wir uns wieder an das Standardendspiel von vorher erinnern: sollte d5 verloren gehen, dann besitzt Schwarz zwei Mehrbauern, und das wäre, da der zweite Bauer von Weiß nicht auf den äußeren zwei Linien steht, für Weiß gewonnen!
54. ...Kb7 55.Ke2 Ka7 56.Kf2 Kb7 57.Kg2 Th5 58.Kg3 Th6 59.Kf4 Th5 60.Kg4 Schon das erste Problem. Der schwarze Turm kann den weißen König nicht daran hindern, den Äquator zu überschreiten. Kein Problem wäre es für Schwarz, wenn Weiß den König nach d4 gebracht hätte. Dann bleibt der schwarze Turm auf h5 und Schwarz zieht einfach …Kb7-a7-b7. Doch nun pirscht sich der weiße König von hinten an den Bd5 heran:
60. ...Th1 61.Kf5 Th2 62.Ke6 Th5 63.Kd6 Ka7

64.Kc6! Und schafft es, den Gegner in Zugzwang zu bringen: er nimmt dem Gegner b7 und zwingt den Turm, sich zu bewegen.
64. ...Th6+ 65.Kxd5 Kb7 66.c4 Jetzt ist die Gewinnführung klar und einfach: der c-Bauer läuft unbeirrt nach vorne und wenn Schwarz ihn schlägt gewinnt Tc8+ bzw. die Umgehung Ta8.
66. ...Th5+ 67.Kd4 Th4+ 68.Kc3 Th5 69.Kb4 Ka7 70.c5 Th6 71.c6 1–0
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