
Ende gut, (fast) alles Gelfand
Der London Grand Prix ist auch schon wieder vorbei. Er bot insgesamt interessantes Schach und tolle Live-Videoübertragung nebst Kommentaren der Spieler kurz nach der Partie. Nur die Bedingungen für Zuschauer vor Ort waren offenbar - trotz ansprechendem Ambiente - sub-suboptimal, man kann nicht alles haben .... . Gewonnen haben am Ende mit Topalov, Gelfand und Mamedscharow drei Spieler (zum Glück hatte die Tiebreak-Lotterie keinen Einfluss auf Preisgeld und GP-Punkte!); warum ich einen besonders hervorhebe verrate ich später in diesem Blogbeitrag.
Vor dem Turnier haben diverse "Experten" wohl erwartet dass Gelfand und Nakamura am entgegengesetzten Ende der Abschlusstabelle landen würden - so kam es dann auch aber doch anders als prognostiziert. Auch die erste Runde (Nakamura-Gelfand 0-1) betrachteten "sie" vielleicht als Ausrutscher den beide noch reparieren würden. Ich setze gleich mal ein Diagramm:
Typisch Sveshnikov, wobei diese Bauernstruktur erst nach dem 42. Zug aufs Brett kam. Weiss am Zug kann sich zwar einen Bauern auf h5 schnappen, aber weder dieser Mehrbauer noch die ungleichfarbigen Läufer konnten langfristig verhindern dass die schwarzen e- und f-Bauern unwiderstehlich voran stürmen - Nakamura hat es verhindert indem er im 58. Zug das Handtuch warf. Damit ist schon ein Pluspunkt von Gelfand erwähnt: er profitierte deutlich von seiner Eröffnungsvorbereitung für Anand. Mit Sizilianisch holte er zunächst 2.5/3 - dann wichen die Gegner auf Nebenvarianten aus, Grischuk mit durchschlagendem Erfolg, die Partie erinnerte mich an eine Partie gegen Anand. Wie damals in Moskau ist Gelfand anschliessend nicht eingebrochen; die siegreiche Partie in der Schlussrunde gegen Kasimdzhanov war grosses Kino wobei er einen halben Zug lang schlecht stand - no guts no glory! Generell war er des öfteren kreativ, erwähnen will ich noch das aggressive Bauernopfer gegen Ivanchuk, das eher defensive gegen Mamedscharow und seine Weisspartie gegen Giris Königsinder - auch wenn das alles remis wurde. Dann gab es noch den technischen Sieg gegen Wang Hao - da hatte er am Ende Glück dass der Chinese böse patzte (was er lachend und mit Fassung akzeptierte), aber völlig unverdient war es für mich nicht da er die ganze Partie am Drücker war und ein ähnliches Mattmotiv einige Züge eher ohne Hilfe des Gegners erzwingen hätte können.
Zu einigen anderen Teilnehmern: Topalov war verdient vorne mit dabei, nach Wertung sogar ganz vorne. Allerdings hatte er meiner Meinung nach, mehr als Gelfand, Glück, meinetwegen das Glück des Tüchtigen. Sein Haudrauf-Stil brachte ihm diesmal nur einen Sieg gegen Dominguez, ansonsten remis, remis und noch einige Remisen. Vielleicht haben sich die Gegner inzwischen auf seinen Stil eingestellt, witzig dass Leko Topas Qualleopfer antizipierte weil er es bei Gelegenheit selbst mit Weiss versuchen wollte. +3 holte er weil Ivanchuk und Giri sehr remisliche Endspiele vergeigten. Damit war für Topa auch insgesamt +1=10 drin, das Ergebnis des bösen Peter Leko (s.u.). Um kurz in die hintere Hälfte der Tabelle zu springen: Ivanchuk hatte ein für seine Verhältnisse mässiges aber nicht untypisches Turnier, gewonnen hat er nur gegen Nakamura (zu dem komme ich noch). Giri hatte acht akzeptable Remisen und drei relativ grausame Verluste gegen Mamedscharow, Nakamura und Topalov, jede Partie auf ihre Weise grausam.
Mamedscharow spielte, wie wir ihn kennen, Haudrauf-Schach. Gegen Giri klappte es wunderbar (lag aber auch an Giri), gegen Adams hätte es durchaus nach hinten losgehen können. Nur der Sieg gegen Dominguez war Endspieltechnik mit Läufer- gegen Springerpaar, aber auch in der Partie hatte er früh randaliert (10.g4, 17.Ke2 - Rochade ist für Weicheier?). Verloren hat er nur, auch recht spektakulär, gegen Grischuk.
Damit habe ich Grischuks Siege bereits erwähnt - er konnte zwei von drei Siegern besiegen, aber das wars auch schon. Versucht hat er es durchaus und die eine oder andere Chance vergeben (gegen Wang Hao und Kasimdzhanov, vielleicht auch gegen Dominguez). Dafür liess Leko ihn entwischen (der Sizilianer von Grisch war etwas zu kreativ?). Dann waren da noch korrekte und spannende Remisen gegen Topalov und Ivanchuk, und am Ende hatte er vielleicht Pech dass Nakamura ausgerechnet gegen ihn nicht verlieren wollte. Beschwert hat er sich aber hinterher nur - aus seiner Sicht verständlich - über Giris unglaubliche Niederlage gegen Topalov ("unbelievable").
Damit ging - wie in Kommentaren auf Chessvibes betont - Platz 1-4 an die teilnehmenden Teilnehmer der letzten Kandidatenmatches. Gelfand und Grischuk sind demnächst in London(!) wieder dabei. Mamedscharow nicht, denn diesmal braucht Radjabov eine wildcard. Topalov auch nicht da Bulgarien das Kandidatenturnier nicht organisieren darf - ausser vielleicht wenn Danailov sich vor Gericht durchsetzt?
Dann noch, wie versprochen, Nakamura. Ebenfalls auf Chessvibes wurde viel spekuliert was bei ihm nicht stimmte: ist er krank, verliebt, ... ??? Ich hatte es dort schon erwähnt: er ist eben genau wie Ivanchuk, Shirov und Morozevich - manchmal top, manchmal flop. Diesmal hat er doch nur seine Form aus einigen Superturnieren anno 2011 bestätigt (Dortmund, Tal Memorial). Wenn man sich z.B. Ivanchuks Ergebnisse der ersten GP-Serie anschaut: einmal hatte er gewonnen, einmal holte er 50%, zweimal weniger (5.5/13). Daneben hat er für Super-GM Verhältnisse gewisse Schwächen in Endspielen, zumindest in strategischen oder theoretischen - siehe die Niederlagen gegen Gelfand und Ivanchuk und der verpasste Sieg gegen Leko. Wenn es taktisch wird ist er da - siehe Kasimdzhanov und Giri. Vielleicht sollte er doch mal ein Schachbuch lesen oder mit einem guten Trainer arbeiten - das Experiment mit Kasparov ist ja recht grandios gescheitert, was wohl an beiden lag.
Auch wie versprochen: warum habe ich mit Gelfand angefangen? Ich sympathisiere generell, ein bisschen auch aus Prinzip mit Spielern denen sonst in Schachforen eher Abneigung bis Hass zuteil wird. Gelfand gehört erst seit kurzem dazu - vor Kazan wurde er eher ignoriert, aber dann war er so frech das Ding zu gewinnen. Dass er sich gegen Anand sehr wacker geschlagen hat nannte man tendenziell Misserfolg bis Schande für Vishy und nicht etwa einen (am Ende nur Achtungs-) Erfolg für Gelfand. Nach dem London Grand Prix äusserte sich Gelfand im Video-Interview mit Daniel King : "I want to listen some comments from the public who say I cannot play tournaments or things like this, only in second-hand events like world championships he is doing well. Players including the greatest made such comments, maybe again the formula of the tournament was wrong ...". Schon länger gehört Leko dazu. Diesmal spielte er wieder viel remis, aber nicht unbedingt weil er keine Ambitionen oder Ideen hatte - aber warum soll man sich die Partien anschauen wenn das Ergebnis reicht um Vorurteile zu bestätigen? Auch Kramnik nennen manche immer noch Drawnik - die haben wohl entweder die letzten Jahre komplett verschlafen, oder sie können/wollen nicht glauben oder verkraften dass manches (früher mal nicht ganz unberechtigte) Vorurteil von der Realität überholt wurde.
Nakamura und Topalov sind für mich eine andere Kiste. Die haben auch ihre "Feinde", aber sie müssen nicht nur einstecken sondern können auch selbst austeilen, polarisieren und provozieren und polemisieren. Wie man in den Wald ruft so schallt es mitunter zurück?
P.S.: Das Foto von Gelfand stammt aus 2006 - ich konnte kein neueres frei verwendbares finden aber rein äusserlich hat er sich nicht gross verändert. Damals war er in den top10, danach nochmal 2009/2010, schafft er das nochmal?

Vor Ort in Wijk aan Zee
Man kann das Tata Steel Chess Turnier natürlich prima im Internet verfolgen, aber ein Besuch vor Ort lohnt sich durchaus – ich mache es jedenfalls alle Jahre wieder. Dieser Bericht geht vor allem über die 9. Runde am Dienstag 24.1., wobei aber auch frühere Erfahrungen ein bisschen mit einfliessen. Beide Fotos © Fred Lucas.
In Wijk aan Zee gibt es zwei Schauplätze: Dorfhaus de Moriaan steht für einige Wochen ganz im Zeichen des Schachs – ein paar hundert Amateure spielen im Saal und in einigen Nebenräumen, die Grossmeisterturniere ABC sind abgetrennt auf der Bühne (auf dem Foto ganz hinten hinter den Monitoren). Zweiter Schauplatz ist das Kommentarzelt das jedes Jahr ein paar hundert Meter entfernt auf einer Wiese mitten im Dorf aufgebaut wird – der Rest dieser Grünfläche ist teilweise Parkplatz, nebendran laufen Pferde herum, die sind aber etwas grösser und bewegen sich anders als die Schachfiguren!
Zuerst zum Turniersaal: die Bühne betreten zunächst, so 15-20 Minuten vor Rundenbeginn, diverse Fotografen. Erkannt habe ich Hausfotograf Fred Lucas und den Tschechen Pavel Matocha mit seinem Hahnenkamm; später traf ich noch Chessvibes-Chef Peter Doggers. Dann nach und nach die Spieler. Als erster kam Topalov – was er einem anderen Pavel, Hauptschiedsrichter Votruba, erzählte weiss ich nicht denn sie unterhielten sich in irgendeiner slawischen Sprache. Dabei "bewachte" er den Eingang zur Bühne – schade dass ich keine eigene Kamera hatte denn "Türsteher Topalov" wäre ein nettes Motiv gewesen. Traditionell konzentriere ich mich aber auf die C-Gruppe: da ist die Menschentraube kleiner, die Spieler kommen tendenziell früher und die Atmosphäre ist lockerer. Zwei Damen waren besonders gut gelaunt: worüber sie sich sehr angeregt unterhielten kann ich auch nur vermuten obwohl sie Englisch sprachen. Hinterher sah ich dass Elisabeth Pähtz im Video-Interview auf der Turnierseite lachend verriet was sie einen Tag davor am Ruhetag tat: shopping in Amsterdam mit Tania Sachdev. Es dauerte ein zwei Minuten bis Fotografen dazu kamen – Fred Lucas hat mir sein Foto (genommen aus <1m Entfernung) dankenswerterweise geschickt schon bevor es hier veröffentlicht wurde. Im Hintergrund Elina Danielian, Gegnerin von Pähtz die sich bereits voll auf die Partie konzentriert, die Stellung ist ja auch durchaus kompliziert. Der Gong zum Start der Runde kam aber erst fünf Minuten später.
Dann habe ich noch die Eröffnungsphase verfolgt, Zustimmung eingeholt um Fotos für diesen Bericht zu verwenden (dieses Jahr neu für mich), und eine Stunde später beginnt der Kommentar. Da harmonierten Smeets und Stellwagen auch prächtig, wobei der holländische Jan (nicht Timman, der spielt ja im B-Turnier) die besseren Sprüche hatte u.a. als Sekundant von Topalov:
"Topalov spielt die Eröffnung immer schnell – mal ist es Vorbereitung, mal ist es Bluff, das weiss der Gegner ja nicht."
[Zur Eröffnung bei Carlsen-Karjakin:] "Das musste ich auch mal analysieren, aber erst einige Züge später. Oft bin ich Experte in Stellungen ohne zu wissen wie sie zustande kommen." (denn der Chef kennt die ersten 10-15 Züge auswendig, sein Assistent aber offenbar nicht)
Aus dem Publikum kam die (logische) Frage warum sie nicht selber spielen. Beide hatten eine Einladung für die B-Gruppe, worauf Smeets aber nach dreimal A-Turnier keine soooo grosse Lust hatte. Ausserdem will er so langsam sein Studium abschliessen, und Stellwagen ist inzwischen berufstätig.
Irgendwann ging ich zurück in den Turniersaal. Besonders faszinierend ist dass mehrere Spieler immer in Gedanken versunken auf der Bühne rumlaufen ohne miteinander zu kollidieren. Oft legt Gelfand mit die meisten Meter zurück, diesmal aber nicht denn seine Partie wurde schnell Remis. Das Resultat war nicht überraschend, schliesslich spielte er gegen van Wely und der kann dieses Jahr weder gewinnen noch verlieren. Der ultime Beweis einen Tag danach: King Loek akzeptierte remis genau als er plötzlich forciert gewinnen konnte! Absicht war es sicher nicht, und er hatte nur noch wenige Sekunden für seinen 40. Zug. Und van Welys eigentliche Rolle übernimmt dieses Jahr Karjakin.
Ein anderes Foto das nicht geschossen wurde hat den Titel "Aronian überholt Carlsen". Beide liefen parallel zueinander, Carlsen vor, Aronian hinter den Brettern der A-Gruppe, und der Armenier war viel schneller unterwegs. Das passierte am selben Tag ja auch im Turnier. Wenn Carlsen nicht spazieren geht hat er übrigens auch seine ganz eigene Sitzhaltung am Brett – ich kann es nicht beschreiben, auch in der Hinsicht ist er einmalig.
So das war's. Was hinterher passiert (Analyse, Kommentare der Spieler, Pressekonferenz) erfahren zunächst nur etablierte Journalisten mit Zugang zum abgeschlossenen Pressebereich; darüber steht inzwischen einiges anderswo im weltweiten Web. Zwar liefen zunächst Pähtz und dann Topalov direkt an mir vorbei, aber ich wollte sie nicht ansprechen bzw. stören. Und sowohl "worüber hast Du/haben Sie denn mit Tania Sachdev gequatscht?" (oder etwa auf Englisch um die Sache mit der Anrede zu vermeiden??) als auch "What was it today, bluff or preparation?" wäre überfrech gewesen – bei Topalov vermute ich in seiner Partie gegen Nakamura letzteres.

Unser Spieler des Jahres
Hier das Ergebnis:
Auf Platz 2 finden wir den amtierenden Weltmeister Viswanathan Anand (16%). Der ruhig und zurückhaltend wirkende Inder verteidigte im Mai seinen Weltmeistertitel (SW war live dabei). Seinem Gegner, Wesselin Topalow (5%), bekannt für ein gewisses Hau-Ruck-Schach, haftet wohl noch immer die Toilettenaffäre des Jahres 2006 und die damit verbundene negative Presse in Deutschland (siehe Chessbase.de) an.
Aus deutscher Sicht sehr erfreulich der dritte Platz** Georg Meiers (14%), dem (ehemaligen?) zweiten Brett der Nationalmannschaft, der eine klare Position gegenüber dem Schachbund vertritt und breite Rückendeckung in der Schachbevölkerung erhält.

Wie Magnus Carlsen spielend seine Gegner überrennt
Carlsen,M (2825) - Bacrot,E (2715) Schottisch [C45]
Am Bildschirm nachspielen:

Beeindruckend fand ich auch, wie er ein paar Runden später den früheren Weltmeister Topalov, der anscheinend meilenweit von seiner früheren Form entfernt ist, mit einer praktischen Eröffnungswahl überspielte:
Carlsen,M (2825) - Topalov,V (2800) [C84]
Am Bildschirm nachspielen:
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