Marienbad (wikipedia commons)
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…habe ich heute anlässlich eines GM-Turniers in Tschechischen Marienbad gespielt. 
Sie umfasste nur drei Züge, dabei hatte ich mir eigentlich fest vorgenommen, auf Gewinn zu spielen. Auf jeden Fall zu spielen, denn deswegen bin ich ja hier. Dachte ich. Doch der Traum von der GM-Norm ist längst ausgeträumt, es wird Zeit, dass das Ding zu Ende geht.
Nun gut, werden Sie sagen, nichts Besonderes, das kennt jeder nur zu gut, ein Turnier ist schon überreif, man ist etwas gefrustet oder zumindest nicht ganz zufrieden.  Wo ist also der Witz? Er besteht darin, dass ich mich in meinem Appartement den gesamten Vormittag auf die Partie vorbereitet habe, unterbrochen von kleineren Appetithäppchen und einer erfrischenden Dusche hat mich das Ausarbeiten eines Konzeptes, das einigermaßen überraschend ist und auch noch analytisch wasserdicht daherkommt, runde fünf Stunden Kopfzermartern bereitet…
  
Dabei begann alles recht harmlos. Beim Frühstück war ich die Partien meines Gegners, dem momentanen Tabellenführer und Elobesten im Turnier, der wahrscheinlich auch als einziger eine GM-Norm machen wird, durchgegangen und hatte mich entschlossen, heute nicht mit meinem Lieblingszug 1.e4 aufzuwarten, weil
a)       die Jungs sich vorbereiten; in meinen zwei bisherigen 1.e4-Weißpartien holte ich nichts, aber auch gar nichts aus der Eröffnung, nur Zeitnachteil und ergatterte mühsam einen halben Punkt.  
b)       ich keine Lust auf seinen Franzosen hatte. Es hätte sich gerade die Variante ergeben können, mit der ich eine miserable Bilanz habe.

In dem Fall ziehe ich gern 1.c4, und da mein Gegner auf Grünfeldindisch schwört war 1.c4 Sf6 2.Sc3 d5 so gut wie sicher. Bei der Durchsicht einiger aktueller Partien kam mir eine Begegnung auf den Schirm, in der die Weiße, die Russin Kovalevskaya, recht  flott gegen die frühere Weltmeisterin Stefanova gewann, und das mit einer frühen Abweichung von der Hauptlinie. Als dann noch mein „Rechenmodul“ (ganz falsch, dem sollte man nicht glauben, zumal da mein Laptop und auch mein Programm leicht veraltet sind!) den Zug 7.d3 empfiehlt  und es mit 7.d3 nur eine Handvoll Partien in der Datenbank gibt, war klar: ich bin auf der richtigen Spur! Hier kann man eine Überraschung landen.

Ganz wie früher die Goldgräber fing ich also an dort zu graben, wo ich das gelobte Land vor mir wähnte. Zunächst ließ es sich gut an, ich fand viele vorteilhafte Ideen und Abspiele und war schon einigermaßen euphorisch. Aber irgendwann kam die Sache ins Stocken: als ich selber nachdachte, was Schwarz wohl so spielen könnte, wusste der Rechner auch keinen besonders schlauen Rat mehr und sein anfänglicher „+=“-Optimismus löste sich mit zunehmender Analysedauer auf – und wandte sich sogar vermehrt in das Gegenteil! Je weiter man die Dinge in die Tiefe trieb desto mehr schlug die Bewertung ins Negative aus – für den Weißspieler! Langsam dämmerte es mir: ich war dabei, einen Quatsch zu spielen. Warum sollte man sich freiwillig auf etwas einlassen, was im besten Falle Ausgleich für Weiß versprach? Und das, zumal die richtigen schwarzen Züge allesamt „gesund“ und durchaus zu finden waren, insbesondere von einem 2500+-Mann. Ich war konsterniert, doch das Schlimmste: bis zum Spiel verblieben mir keine zwei Stunden, gegessen hatte ich auch nichts, was sollte ich tun? Wieder was ganz anderes spielen? Doch 1.e4? Es war zum Verzweifeln…

Egal, dachte ich mir schließlich, ich muss den eingeschlagenen Kurs beibehalten, versuche ich eben eine Linie zu finden, die die meisten Chancen bietet und zumindest noch den Ausgleich sichert. Und ich reizte alle Motive aus, die die Stellung hergab, kombinierte die Zugreihenfolge in jeder erdenklichen Kombination, sprang vor, wieder zurück, verbesserte, änderte, knüpfte, nähte und spann… und siehe da, schließlich war es einigermaßen wasserdicht: meine Hauptlinie ging fast bis zum 40. Zug und endete quasi mit einem Remisendspiel!

Schließlich war Zeit, zu gehen. Und wenn er in den ersten sechs, sieben Zügen abweichen würde? Keine Ahnung, dann improvisiere ich eben, so was habe ich schon in den späten 90ern gespielt, wird mir schon wieder einfallen…

Als ich mich auf den Weg ins Spiellokal machte hatte ich noch 25 Minuten Zeit. Normalerweise benötige ich mindestens 15 Minuten für die Strecke, es geht meist bergauf, ich hab` mich schon öfters in der Zeit vertan und tauchte schon einige Male abgehetzt und verschwitzt auf, als die Uhren bereits liefen. Unterwegs machte sich der Hunger plötzlich mit Macht bemerkbar, mein leerer Magen nörgelte. Ich musste dringend noch was Nahrhaftes aufnehmen, das kostete wieder ein paar Minuten -  auch diesmal war die Runde schon gestartet, mein russischer Gegner, der mich an den jungen Putin erinnert, saß schon mit versteinerter Miene am Brett.

Ich gebe ihm die Hand, er entgegnet mir einem emotionslosen Blick, ich notiere auf mein Blatt – plötzlich um mich herum ein Tumult. In einer mir unverständlichen slawischen Sprache beschimpft mich einer, der hinter mir steht – es ist ein russischer Teilnehmer aus dem im selben Raum stattfindenden IM-Turnier. Neben mir spielt Malanjuk, früher ein starker Großmeister, jetzt gibt er hier den abgehalfterten Revolverhelden und Remisenschieber vor Ort – bzw. er spielte. Denn er hat bereits Remis gegeben, bevor ich meinen Partiezettel überhaupt ausfüllen konnte. Er beteiligt sich auch lautstark an der Diskussion in einem tiefen Bass, lacht und gestikuliert wild. Er übersetzt anscheinend, was der Russe mir vorwirft: ich würde jeden Tag zu spät zur Partie kommen, das wäre unverschämt und so weiter. Hat er vielleicht auch recht, ich würde auch lieber pünktlich sein, aber es klappt halt nicht, außerdem ist das doch jedem selber überlassen, komischerweise könnte ich auch nicht sagen, mit welcher „Regel“ wir hier spielen, zumindest hat keiner sich mal zum Thema geäußert, wie viel man sich verspäten darf. Abgesehen davon bezahle ich hier viel Geld dafür, dass ich in dieser jämmerlichen Provinzposse mitmischen darf, doch das ist ein anderes Thema, vielleicht mal später mehr. Jedenfalls geht mir in den wenigen Minuten - oder sind`s nur Sekunden? - wirres Zeugs durch den Kopf, mittlerweile wurde 1.c4 Sf6 2.Sc3 d5 gezogen (a tempo von meinem Gegner) und mein 3.cxd5 beantwortete er unvermittelt mit 3. …Sxd5 untermalt durch ein „Remis?“-Raunen.  Eigentlich wollte ich ja spielen, aber im Moment fühlte sich alles recht absurd an, ich war derart irritiert, mir wurde schlagartig klar, dass ich verlieren würde, wenn ich weiterspielen würde und schlug kurzentschlossen ein.

Als Anhang biete ich Ihnen noch meine festgehaltene Analyse, ungefilterte Eindrücke ins Labor eines Internationalen Meisters, die ganze Paradoxie des modernen computerbewaffneten Schachs wird dabei vor Ihren Augen ausgebreitet – Enthüllungen, wie sie wikileaks auch nicht skandalträchtiger bieten könnten: eine der vielen Variante hätte aufs Brett kommen können, wenn wir denn gespielt hätten. Ich sage: hätte.

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Zum Nachspielen am Bildschirm:

Sonntag, 19 Dezember 2010 11:40

Look at the board please (I)

Werden wir durch die Schachprogramme und die zunehmende Flut an Trainingsmaterial (Bücher, CDs, DVDs, Online-Lektionen) eigentlich dümmer oder schlauer? Die Frage ist nicht unberechtigt, denn auch etwa erhöhter Umgang mit dem Internet fördert bei Kindern nachweislich Eigenschaften wie Schwächen beim ausdauernden Lesen oder fehlende Geduld/Konzentration. Wie ist es also beim Schach?
Zum Trainigsmaterial sage ich nur mal vorsichtig folgendes. Mittlerweile gibt es durch die sprunghafte Erweiterung des Marktes eine Unzahl von Büchern und DVDs zu ähnlichen Themen. Besonders bei Eröffnungen ist es so, dass sich diese nur zu oft genau widersprechen und dem Leser eine diametral unterschiedliche Sichtweise der Dinge vermitteln. Manchmal ist sogar der gleiche Autor für die Werke verantwortlich, wobei in Werk A eine tricky Nebenvariante aus weißer Sicht empfohlen wird, während im seriöseren Buch B ein nicht schwer zu findendes Gegengift platziert ist. Ich behaupte mal kühn:
Es gibt heutzutage fast keine (halbwegs sinnvoll anmutende) eröffnungstheoretische These,die nicht irgendwo propagiert wird.
Und jeder drittklassige Autor jedes Werks über jede x-beliebige drittklassige Eröffnung bombardiert seinen armen Leser mit spektakulären, ach so wichtigen Varianten, die schon seit Ende der 80-er niemand mehr spielt und versucht ihm das Gefühl zu vermitteln, dass seine Eröffnungsvarianten die wichtigsten und besten sind. Woher soll ann ein 1600er dann noch wissen, was er kaufen, was er lesen und was er noch spielen soll? Es entsteht  Verwirrung, gefährliches Halbwissen und Frustration und der gleiche Spieler, der einem noch im 10 Zug die gesamten verwirrenden Abspiele irgendeines sinnlosen Gambits vorbeten konnte, stellt vielleicht in Zug 12 eine Figur ein.
Es ist, wie auf der Schulbank oder in der Vorlesung neben einem Mädchen zu sitzen, die mit dem gelben Textmarker mindestens 90% des zu bearbeitenden Textes unterstreicht. So ein Vorgehen ergibt natürlich überhaupt keinen Sinn, denn wer alles unterstreicht, unterstreicht ja bekanntlich nichts, und weiß zuhause ja trotzdem nicht, was er lernen soll. (Ich hoffe, ich werde für diesen Text nicht von Stabilo verklagt, denn nach dem Genuss dessen werden jetzt bestimmt die Umsätze der Textmarker rapide in den Keller gehen).
Egal, kommen wir zur Eröffnungsvorbereitung mit Rybka&Co. Bei allen erdenklichen Vorteilen, die eine solche bieten kann (zähle ich jetzt nicht extra auf, weil jedem bekannt) kann man aber auch leicht vergessen, schlichtweg mal selbst aufs Brett zu gucken. Das Holzbrett steht ja meist eh nicht mehr daneben und auf dem Bildschirm kommt es heutzutage sowieso nicht darauf an, was man sieht, sondern wie es der Rechner tut. Mit Weiß suchen wir etwa hektisch nach einem +=0.27, mit Schwarz gegen Schwächere vielleicht sogar nach einem =+. Wenn wir dann diese magischen Symbole ersteinmal auf seinem Monitor erblickt haben, durchzuckt uns ein Adrenalinstoß, wir spüren vielleicht nach vielen Stunden Arbeit endlich eine geistige Befreiung... und hören an diesem Punkt einfach auf zu arbeiten und gehen zur Partie. Und dort passiert dann etwas wie das hier:
Ilja Schneider  - Paul Zwahr, Apolda 2010 (7)
Es war die letzte Runde des Apoldaer Opens und um nicht gerade mit 3 Mark 50 nach Hause zu fahren, musste ich unbedingt gewinnen. In so einer Lage war für mich während der Vorbereitung in der kurzen Mittagspause diesmal alles klar: Nach 1.d4 spielt er 1...Sf6 - also Trompowsky - Rechner zu, Affe tot. Mein Gegner hat sich dagegen etwas mehr Arbeit gemacht:
1.d4 Sf6 2.Lg5 Se4 3.Lf4 c5 4.f3 Da5+ 5.c3 Sf6 6.Sd2 cxd4 7.Sb3 Db6 8.Dxd4 Sc6 9.Dxb6 axb6 10.Sd4 e5 11.Sxc6 exf4 12.Sd4 Lc5 13.Sh3 Sd5 14.e4 fxe3 15.Lc4 Sb4?!

 zwahr 1a

Ich "kannte" an dieser Stelle nur die Wegzüge nach f6 und c7, aber nach ein paar Minuten erinnerte ich mich, dass jemand gegen mich auch schon mal nach b4 weggezogen war. Schon damals hatte ich erst nicht verstanden, was der Aufstand nach 16.0-0-0?! eigentlich bringen sollte, aber die kalte Dusche nach 16...d5! war damals nicht sehr angenehm. Irgendwann hatte ich also meine Gedanken wieder zusammen und zog so, wie ich meine damalige Partie verbessert hatte:

16.cxb4! Lxd4 17.0-0-0 Lf6?!

zwahr 1

Das kam blitzschnell, war also vermutlich (und es stellte sich später heraus) immer noch vorbereitet. In einer älteren Partie hatte Tromp-Experte McShane gegen Volokitin auch 16.0-0-0 gezogen, was Kommentator Postny in der Base nicht beanstandet hatte - also dürfte 16.cxb4 ja auch nicht kritsch sein. Überdies sieht es im Moment ja sowieso so aus, als könnte Schwarz erfolgreich seinen Bauern auf e3 behaupten - nach 18.The1 folgt einfach 18...0-0-0 und 19.Txe3? verliert wegen dem typischen 19...d5! 20.Lxd5 Lxh3 21.gxh3 Lg5 -+. Rybka ist für Schwarz total begeistert und zeigt sogar =+ -0.7 an... - allerdings auch nur ein paar Sekunden. Schnell wird dem Rechner klar, dass hier in Wirklichkeit nicht Weiß, sondern Schwarz denjenigen darstellt, der fast am Abnippeln ist. Es hat diverse Bauern- und Felderschwächen, unentwickelte Figuren und einen unrochierten König. Sein Bauernvorteil ist rein temporärer Natur, denn ich brauche nur ein paar taktische Tricks zu vermeiden, und der e3 wird fallen. Paul ist ein Spieler, der absolut stark genug, das alles selbst am Brett zu sehen und zu erkennen - aber er hat es gar nicht erst versucht, denn er meinte, diese Aufgabe dem Computer anvertrauen zu können. Zusammen mit einer sehr sorglos gewählten Rechenzeit von etwa 2-3 Sekunden nach 17...Lf6?! (17...b5!? gab noch ein paar Rettungschancen)  - danach ging er, wie er mir gegenüber zugab zum nächsten Thema über - ergab das eine absolut tödliche Mischung und die Bestrafung ließ nicht lange auf sich warten.
18.Sf4 0-0 (18...Lg5 wird sehr stark mit 19.Td4! gekontert - man bedenke, dass er ihn nicht angreifen kann!) 19.Sd5 Ld8 Er führte alle Züge nach langem Nachdenken und mit Kopfschütteln aus. Vermutlich verstand er nicht, wohin sein "Vorteil" so schnell verschwunden sein konnte. 20.The1 d6 21.Sxe3 b5 22.Lb3 Ta6 23.Kb1 Le6 24.Ld5 Lf6 25.a3! Td8 26.Tc1 Lxd5 27.Sxd5

zwahr 2

Die schwarze Stellung ist ein Bild der Trauer. Er durfte bis jetzt in dieser Partie kaum einen aktiven Zug machen. Nach 27...Tc6 28.Se7+! Lxe7 29.Txe7 d5 30.Txc6! bxc6 31.Tc7 gewann ich leicht das Endspiel. 10, höchstens 15 Sekunden mehr Rechnen oder selbst aufs Brett gucken hätten zumindest so ein Desaster leicht verhindert.
Leider mache ich es selbst nur allzuoft auch nicht besser.Mehr dazu im nächsten Teil