Laptop oder Buch?
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Mittwoch, 16 Februar 2011 10:32

Menschen ändern sich – nicht wirklich

Gestern, spät am Abend, war ich zu müde, um mich zu sehr zu konzentrieren, sei es um etwas zu schreiben. Überhaupt der Computer. Viel zu oft hängt man an diesem Kasten, es muss doch noch möglich sein, ohne auszukommen. Also kruschtelte ich in meinem Büro, in den Büchern, Unterlagen, Erinnerungen. Über Capablanca und Aljechin und ein paar Schleifen von Assoziationsketten hinweg blieb ich irgendwie im Jahr 1991 haften. Zwar nicht so weit weg wie Capablanca, aber doch auch schon ein ordentliches Stück. Es dauerte, bis mir auffiel, dass die Zeitspanne von 20 Jahren dazwischen liegt. Überhaupt, war es nicht ziemlich genau vor 20 Jahren, dass ich mich hier in Tübingen zum Studium einschrieb? Stimmt, das muss im Februar gewesen sein, im April zog ich hierher – und bin hängen geblieben.

Da bekam ich spontan Lust, Partien von mir aus dieser Zeit, Anfang 1991, nachzuspielen!

Früher konnte ich mich noch lange an jede einzelne Turnierpartie erinnern, das hörte irgendwann mal auf. Heute kann ich mich kaum mehr an die Züge erinnern, dann schon eher an Gefühle, die an eine bestimmte Partie verknüpft sind oder an die spezielle Turniersituation.  Jedenfalls erscheinen mit heute alte Partien von mir völlig fremd und ich kann davon ausgehen, dass ich über manche Züge und Sentenzen, die ich damals gespielt haben soll (es steht so auf dem Partieformular!) im Guten wie im Schlechten verblüfft sein werde!

Es war noch eine halbe Flasche Rotwein vorrätig, ich stellte die „Feiertagsfiguren“ auf und schaltete dazu SWR1 im Radio ein – da läuft immer noch ziemlich die gleiche Musik, die ich schon vor 20 Jahren hörte – und begann die ersten Partien aus dem Ordner herauszusuchen und nachzuspielen.

Man ist es ja vom Internet, zum Beispiel bei Live-Übertragungen, gewohnt, den Rätselspaß „predict the move“ zu spielen. „Was würden Sie nun machen – und was spielt der Großmeister dann tatsächlich? Rechnen Sie sich 5 Punkte an, wenn Sie genau so spielen wollten und noch mal 3, wenn Sie die versteckte Drohung wahrgenommen haben“. So oder ähnlich kennt man das, nur betrachtete ich hier nicht fremde, sondern eigene „Werke“, wenngleich mit einer gewissen Distanz, hervorgerufen durch die verflossene Zeit und die schwindende Erinnerung. Und die Frage lautete nicht: „ spiele ich wie ein Großmeister?“,  sondern „spiele ich wie ich?“ oder „hat sich mein Denken und mein Schachverständnis entwickelt, oder habe ich immer noch dieselben Gedankengänge?“ 

Spätestens nachdem ich die folgende Partie nachspielte war mir schlagartig klar, dass vor allem die letzte Behauptung zutrifft. Im Grunde verändert man sich nicht. Weder als Mensch noch als Schachspieler. Meistens wollte ich letzte Nacht dieselben Züge machen, die ich dann auch vor 20 Jahren zog. abgesehen von ein paar Ausnahmen und „barocken Ausrutschern“. Damals hatte ich eine Zahl von um die 2300, im Grunde war die Entwicklung meines, wenn man es so will, „Stils“, schon abgeschlossen. Auch wenn im Laufe der Jahre noch Erfahrung, Genauigkeit, Wissen und psychologisches Geschick dazukam – die Spielstärke war damals vorhanden und ausgeprägt, die „Kampfeskraft“ wahrscheinlich größer als heute. Aber im Grunde genommen ist man derselbe. Das Frappierende: man lernt auch schwerlich aus seinen Fehlern, das geht vielleicht kurzfristig, solange einem eine Fehlleistung noch deutlich im Bewusstsein ist, aber wenn die Fehlerquelle nicht mehr so präsent ist, wird man in ähnlichen Situation wieder zu den gleichen falschen Schlüssen und Intuitionen gelangen wie einst vor ferner Zeit:

P. Kunert – F. Zeller

Staufer Open 1991

(nach 23.Sf3-e1 )

Kunert_-_Zeller_1991

Weiß ist derart überspielt, dass ich damals wie heute gar nicht mehr wahrnahm, dass er mit seinem letzten Zug, Sf3-e1, ja was angegriffen hatte. Ich wunderte mich beim Nachspielen, warum in aller Welt ich diese völlige Gewinnstellung verloren haben soll. Hatte ich das Resultat falsch eingetragen? In der Diagrammstellung drängt sich mir auch das Motiv …Lc6-b5 auf, zu gern wollte ich es zum Laufen bringen. Deshalb kreisten meine Gedanken letzte Nacht um die Züge …Lb5 und …cxd4, und als ich auf dem Partieformular 23. …Td8 las war ich spontan tiefster Zustimmung – ja, wunderbar, toller Vorbereitungszug, muss gut sein! Aber dann stand da 24.Sxg2 und ich erschrak! Ich hatte die Bedrohung übersehen – damals wie heute! Immerhin war es nur die Qualität, aber wenige Züge später gab ich nach einem weiteren Fehler entnervt auf. Auch in dieser Beziehung hat sich in all den Jahren nichts geändert: nach einer Enttäuschung bin ich nicht mehr in der Lage, mich mit allen Kräften gegen die drohende Niederlage zu stemmen und gehe schnell unter.

Wie im Schach so auch im Leben. Sie kennen die Modellfrage: „was würde ich tun, wenn ich wieder in dieselbe Situation kommen würde wie damals, so frisch und knackig, nur mit der heutigen Erfahrung und Weisheit aufgemotzt?“ Ich sage Ihnen: Sie würden es genauso wieder machen. Auch Ihre Fehler würden Sie wiederholen. Und Jahre später würden Sie hoffentlich darüber schmunzeln können, so wie ich es letzte Nacht tat, der Rotwein trug mittlerweile das seinige zum verklärten Lächeln bei.