Ein Mauerspecht 1989
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Donnerstag, 03 Januar 2013 14:37

Mr Shirov tear down this wall

Ursprünglich war als Titel einfach "Noch ein Endspiel" geplant, aber vielleicht hat Mattovsky ja Recht und ein anderer 'attraktiverer' Titel bringt mehr Leser? Jeder weiss (die Jüngeren zumindest aus dem Schulunterricht?) dass die Berliner Mauer 1989 fiel. Schachspieler die schon einige Zeit dabei sind wissen dass sie 2000 in London wieder aufgebaut wurde und zwar auf dem Schachbrett. Wie das Leben so spielt: damit wollte ein Russe einen anderen Russen ärgern was ihm ganz gut gelang. Gemeint sind natürlich Kramnik und Kasparow. Kramniks damaliger Sekundant Bareev schrieb sieben Jahre später (in "From London to Elista") dass dies im Nachhinein die ideale Eröffnung gegen 1.e4 (und gegen diesen Gegner) war. Ich zitiere ihn noch etwas ausführlicher:
"Die Variante zeichnet sich aus durch Grabenkrieg [Original "trench warfare"] und - die Hauptsache - zum damaligen Zeitpunkt war die Theorie nur unzureichend entwickelt. Das 2000 Match lieferte einen gigantischen Impuls für dieses System, ernsthafte Diskussionen dauern immer noch an. Viele führende Grossmeister haben die Berliner Verteidigung in ihr Waffenarsenal aufgenommen und bewiesen dass sie spielbar ist. .... Die Stellung ist sehr reich, egal wie Schwarz sich entwickelt ist es für Weiss nicht leicht den besten Plan zu finden, angesichts sehr vieler Möglichkeiten."
Na ich kenne mich in der Variante praktisch gar nicht aus und vermeide sie tunlichst mit beiden Farben, aber Kramnik oder auch Aronian können wir uns als Gastautor absolut nicht leisten! Aber das folgende Endspiel ist ein Beispiel das selbst ich im Nachhinein verstehe oder glaube zu verstehen, lege aber erst nach der Eröffung richtig los. Schirow gelang es die Berliner Mauer niederzureissen, dafür musste er (vergleichsweise) rabiater zu Werke gehen als der nette ältere Herr auf dem Titelbild:

Schirow-Sargissian, Warschau 2012 (Schnellschach-EM letzte Runde)

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 Sf6 wir sprechen heute Berlinerisch. Hat Sargissian das von seinem Kumpel und Wahl-Berliner Aronian gelernt, oder war es anfangs sogar andersherum? 4.0-0 Sxe4 5.d4 Sd6 6.Lxc6 dxc6 7.dxe5 Sf5 8.Dxd8+ Kxd8 Ich will es mit den Diagrammen nicht übertreiben, diese Stellung haben interessierte Leser wohl auch ohne noch vor ihrem geistigen Auge. Die Damen sind vom Brett, haben wir damit bereits ein Endspiel oder ist das ein damenloses Mittelspiel? Die Stellung wird - was immer das genau heissen mag - generell eher wie ein Endspiel behandelt. Andererseits spielt es manchmal (auch in dieser Partie) später eine Rolle dass der schwarze König im Zentrum anfällig stehen kann, und das ist eher ein Mittelspiel-Motiv?

Um kurz etwas abzuschweifen: Weiss kann diese damenlose Stellung vermeiden mit 4.d3 (mache ich zum Beispiel) oder 5.Te1. Beides verspricht nicht unbedingt Vorteil, und 5.Te1 ist sehr remislich (die Hauptvariante tendenziell auch) - ich zeige zwei hochinteressante Schlusstellungen aus der GM-Praxis, mit bewusst kleineren Diagrammen:
Adams-Aronian London 2011

Naiditsch-Aronian Porto Carras
Im zweiten Beispiel bot Weiss schon hier (nach 11 Zügen) remis, und Schwarz war einverstanden wohl eher zähneknirschend. Die Namen der Spieler verrate ich nicht - nur soviel: der Grossbuchstabe A ist mehrfach vertreten, ausserdem noch L, M und N (das habe ich doch schön hinbekommen?).
Wenn man in der Datenbank ganz unten schaut (bei elolosen Spielern) stellt man übrigens fest dass diese Variante mit 5.Te1 schon im allerersten offiziellen WM-Match reichlich geübt wurde, 1886 zwischen den Herren Steinitz und Zukertort, Steinitz holte mit Weiss +2=3-1.
Und was sagte Aronian dazu? "How do you feel if your opponent plays 5.Re1 against the Berlin?" "In that I case I feel sorrow and mild hatred for an opponent who’s refused to go for that most complicated and interesting of endgames." Tja, ein Nachteil dieser Variante ist dass Weiss mit 5.Te1 quasi remis erzwingen kann (Nachteil natürlich nur wenn Schwarz mehr will) wie auch Kramnik mehrfach feststellen musste. In unserer Partie spielte es wohl keine Rolle: Sargissian wäre wohl mit remis zufrieden, und Shirov wollte mehr - angesichts der Turniersituation und weil er der nominell stärkere Spieler ist.

Ende des Exkurses, weiter geht's: 9.Sc3 Ke8 10.h3 h5

Shirov-Sargissian 2
Damit haben wir was im (ursprünglich wohl russischen) Schachjargon als tabiya bezeichnet wird: grob gesagt eine Stellung die GMs im Blitztempo erreichen können denn das gab es schon zigmal - genauer gesagt laut meiner Datenbank 208-mal und oft zwischen sehr starken Spielern. Populär (u.a. auch Kramniks erste Wahl) ist es erst seit 2008, nur ein mir bekannter Spieler hat es schon viel früher versucht - Tony Miles im Mai 2000, das war noch viereinhalb Monate vor dem letzten K&K WM-Match! Ältere Züge sind 10.-Le7, 10.-a5, 10.-Se7, 10.-h6 und 10.-Le6 - aber hoppla, ich wollte doch die Eröffnungstheorie vernachlässigen, damit verwirre ich den Leser nur und mich selbst auch.
Was soll denn 10.-h5 ? Zum einen erschwert es die weisse Expansion am Königsflügel - so ähnlich gibt es das auch in diversen sizilianischen Abspielen (wo Schwarz hiermit quasi auf die kurze Rochade verzichtet, im Berliner irrelevant da schon längst passiert). Zum anderen muss Schwarz seinen h-Turm irgendwann irgendwie aktivieren, eventuell eben auch (siehe Partie) über h6. Das Schlüsselfeld der Partie habe ich nun schon genannt, aber schau'n mer mal was noch so passiert. 11.Lf4 Le7 12.Tad1 Le6 13.Sg5 Th6 sagte ich doch, immer noch 14 Vorgängerpartien darunter bekannte Schwarzspieler wie Karjakin, Naiditsch, Nakamura, Bacrot, Ponomariov, Anand und Malakhov 14.Tfe1 h4 hier offenbar neu (in ähnlichen Stellungen immer noch bekannt), letzter prominenter Vorgänger ist Caruana-Karjakin, Bilbao 2012 wo Schwarz 14.-Lb4 spielte und das wurde remis 15.Sce4 Tg6 Shirov hatte bereits ziemlich viel Bedenkzeit verbraten, und auch an seinem nächsten Zug überlegte er vielleicht fünf Minuten (wie gesagt, in einer Schnellpartie) 16.Sxe6 Txe6
Shirov-Sargissian 3
Was hat Weiss mit der schweren Geburt 16.Sxe6 erreicht? Damit halbierte er das schwarze Läuferpaar das sonst irgendwann wichtig werden könnte (u.a. so kann man im Berliner mit Schwarz auf Gewinn spielen) wobei der Le6 bisher noch keine konkrete Aufgabe hatte. Dagegen hat Schwarz jetzt (zumindest für diese Variante) seine Figuren recht harmonisch aufgestellt. Der Ta8 steht noch abseits, kann aber entweder auch vertikal entwickelt werden (was Schwarz zunächst versucht oder andeutet) oder auf d8 abgetauscht werden (was später passiert). Schnell wird klar was Shirov mit 16.Sxe6 konkret erreichen will: 17.g4 hxg3 18.fxg3
Shirov-Sargissian 4
Hier war mir bei der Liveübertragung bereits klar dass Weiss einen Freibauern auf der h-Linie bilden will, schafft er das? Im Nachhinein könnte man vermuten dass 17.-hxg3 vielleicht falsch war, ich denke eher nicht. Erstens war es wohl nicht partieentscheidend, zweitens heisst mein heutiger Verein so (En Passant), drittens ist die einzige Alternative 17.-Sh6 einfach hässlich, selbst für Berliner Verhältnisse - wie sagte Kramnik in der Pressekonferenz nach seiner Londoner Partie gegen Aronian: "The Berlin is ugly!". Dann könnte der Bauer auf h4 (zu) schwach werden, oder Weiss spielt langsam aber sicher Lh2 und f2-f4-f5.
Engines hatten 17.g4 übrigens zunächst nicht in der engeren Wahl, Houdini hat anfangs (neben dem schon plausiblen 17.Sg5) unter anderem Tb1, Tc1 und Ta1 im Angebot was mich irgendwie gar nicht überzeugt. 17.g4 ist für mich der naheliegendste Zug, und ich sehe auch nicht wie und warum man das erst noch vorbereiten müsste. Irgendwann sehen Engines es auch, oder auch das gleichwertige 17.g3 mit der Drohung 18.g4. Wenn ich schon Engines erwähne kann ich nochmal Meister Kramnik AKA Big Vlad zitieren, vielleicht exklusiv für die westliche Welt. Das sagte er vor fast einem Jahr in einem Skype-Interview mit chess-news.ru - Livekommentar zu Wijk aan Zee wo er nicht eingeladen wurde (dieses Jahr wieder nicht):
"Alle spielen meine Eröffnungen. Die Berliner Variante wurde populär denn Engines wurden besser - statt wie früher die weisse Stellung zu überschätzen verstehen sie nun auch das schwarze Spiel. Damit spielen es nun auch vom Computer hypnotisierte Spieler. Allerdings übertreiben es Engines nun andersrum: Houdini hat eine Tendenz zu 0.00 selbst wenn Weiss besser steht."
Ausserdem interviewte chess-news.ru "Small Vlad" (Giris Trainer Vladimir Chuchelov) und noch jemand dessen Namen ich nicht entziffern kann. Damit weiss der Leser dass ich gar kein Russisch kann - das hatte mir ein Schachfreund freundlicher- und auszugsweise bzw. sinngemäss übersetzt. Ich wusste es da Gert Ligterink es in einer niederländischen Zeitung erwähnte und habe nachgefragt (nicht bei Ligterink).
Was Engines betrifft hat Kramnik wohl Recht: Houdini sagt hier zwar nicht 0.00 aber nur 0.2-0.3 während Stockfish doch viel lieber Weiss hätte (0.6-0.8).
Zurück zur Partie: 18.-c5 19.c3 a5 20.h4 a4 Schwarz mobilisiert auch seinen a-Bauern und droht nun positionell a4-a3, wahrscheinlich erst nach c5-c4 und der Turm steht auf der a-Linie richtig. 21.a3 Shirov hat es gesehen 21.-Sh6 22.Kg2 Sg4 23.Sg5
Shirov-Sargissian 5
Ist das die kritische Stellung der Partie? Ob das Manöver Sf5-h6-g4 mit (etwas) Druck gegen e5 glücklich war sei dahingestellt, beide Engines bestehen nun auf 23.-Lxg5 24.hxg5 und das wars dann mit einem weissen h-Freibauern. Moment mal, steht der Sg4 dann nicht gefährdet? Kein Problem für Engines das taktisch zusammenzuhalten: 24.-Td8 (nicht erzwungen aber plausibel) 25.Txd8+ Kxd8. Wenn es jetzt - als legalen Zug - die lettische Rochade gäbe nämlich in einem Zug Te2 und Kf3 dann könnte Schwarz aufgeben. So geht nach 26.Te2 oder 26.Kf3 26.-f5 27.gxf6 Sxf6 dank der entstandenen Fesselung auf der e-Linie. Nun hat Weiss zwar einen e-Freibauern, aber der scheint sicher blockiert. Interessant dass hier ein taktisches Motiv die schwarze Stellung zusammenhält während sie später taktisch zusammenbricht und da ist die e-Linie auch wichtig.
Nach 23.-Tb6 verliert auch Houdini den Glauben an die schwarze Stellung. Der Druck gegen e5 ist hinfällig, der gegen b2 entlockt Weiss nur ein müdes Lächeln und dann marschieren die g- und h-Bauern. 24.Te2 Td8 Ideen wie -Ta6 oder -Ta5 sind nicht mehr relevant, also wird er nun abgetauscht 25.Txd8+ Lxd8 26.Kf3 Nun geht 26.-f5 natürlich nicht, daher muss der Springer zurück. 26.-Sh6 27.Se4 Tc6 28.h5 Sg8 Das musste noch nicht sein, aber Weiss spielt ohnehin g3-g4-g5 29.g4
Shirov-Sargissian 6
Jeweils ein Schritt weiter im Vergleich zum letzten Diagramm, und weiter wird es gehen. 29.-Le7 30.g5 Lf8 31.Kg4 b5
Shirov-Sargissian 7

Schwarz stemmt sich mit allen Kräften gegen h5-h6 (den Turm muss er dafür nicht nach h8 zurückbeordern, der hat auf c6 dieselbe Aufgabe). Der nächste Zug kam für mich überraschend, für Sargissian vielleicht auch: 32.h6 Naja überraschend ist vielleicht falsch ausgedrückt - damit muss man rechnen, das muss man berechnen. Aber geht es wirklich, und warum? Dafür musste A, B und C zusammenkommen: 32.-gxh6 33.Sf6+ A ermöglichte B, B rechtfertigt A aber nur zusammen mit C 33.-Sxf6+ 34.exf6 SCHACH
Shirov-Sargissian 8

Das entscheidende Tempo: dass Weiss am Ende einen Bauern weniger hat ist natürlich reine Erbsenzählerei denn weder der schwarze f-Bauer (obwohl auch Freibauer) noch der Doppel-Mehrbauer am Damenflügel spielt irgendeine Rolle. Der Rest ist trivial auch wenn ich noch zwei Diagramme setzen werde. Schwarz konnte dieses Abzugsschach mit dem prophylaktischen 31.-Kd7 verhindern, dann hat Weiss wohl keinen forcierten Gewinn. Er macht dann wohl am Damenflügel weiter mit 32.c4, der Springer hüpft über c3 nach d5 oder b5 undsoweiter undsofort, Schwarz muss nach wie vor immer mit h5-h6 rechnen. Ob Schwarz eine Art Festung hat die hält, dafür müsste man lange analysieren (und zumindest ich würde zu keinem Endurteil kommen). 31.-b5 wollte wohl 23.c4 verhindern und zumindest so tun als ob Schwarz auch einen aktiven Plan hat? 34.-Kd7 35.Td2+ Ke8 ob 35.-Kc8 zäher war? Schwarz ist wohl ohnehin glatt verloren. 36.gxh6 Txf6 37.Lg5
Shirov-Sargissian 9
Hier kann Schwarz noch das trickreiche 37.-Lxh6 versuchen und Weiss muss ein bisschen aufpassen: nicht etwa automatisch 38.Lxf6?? Lxd2 sondern erst 38.Te2+ was mindestens einen Läufer gewinnt. Mit dem König auf c8 ginge das nicht (und dank b7-b5 ist Td8 auch kein Matt), aber dann hätte Shirov das sicher anders gespielt. 37.-Td6 laut Stockfish am besten (Houdini nennt 37.-Lxh6 etwas weniger hoffnungslos) aber hier war Ke8 fällt nach e9 bereits eine plausible Alternative. 38.Txd6 cxd6 39.h7 Lg7 40.Kf5
Shirov-Sargissian 10
1-0 mehr fällt mir zu dieser Stellung auch nicht ein.

Noch ein paar Worte zum Nachtisch: Teil 3 ist momentan nicht geplant, unter anderem da derlei Beiträge recht viel Zeit kosten. Nochmals: falls jemand anders sich ge- und berufen fühlt, herzlich willkommen! Zum Beispiel könnte man Tiviakovs Endspiele bei der World Cities Championship zwischen den Jahren näher unter die Lupe nehmen !? Der Reiz dieses und des vorigen Endspiels (Dreev-Naiditsch vom selben Turnier) lag für mich auch darin dass ich beide Partien live verfolgt habe - und im Schnellschach geht das ja flotter als bei klassischen Partien die stundenlang dauern. Und Endspiele die 60, 80 oder 100 Züge dauern will ich mir (und den Lesern !?) nicht zumuten.
Kommentare sind wiederum ausdrücklich willkommen. Da würde es mich sehr wundern oder überraschen wenn jemand die Stellung nach 31.-Kd7 32.c4 abschliessend beurteilen kann - "Weiss steht besser" reicht da nicht aus!