Mittwoch, 05 Februar 2014 01:21

Tückische Turmendspiele im Tata-Turnier

Tata! Die Endspielrubrik ist wieder da, diesmal mit frischem Material aus Holland. Auch in diesem Jahr war das Niveau der Endspielbehandlungen nicht berauschend. Logisch, Carlsen war ja nicht dabei. Aber auch aus Fehlern kann man ja lernen, also schauen wir uns einfach mal ein paar Beispiele an. Die wichtigste Lektion, die ich in diesem Artikel vermitteln will, ist folgende: Schematisches Denken spielt im Endspiel zwar eine wichtige Rolle, darf aber nicht in blindes Befolgen abstrakter Regeln ausarten. Die konkreten Umstände der Stellung dürfen nie aus den Augen verloren werden.

In der Partie Karjakin - Gelfand kam sogar ein Weltklassemann auf erstaunliche Weise vom rechten Weg ab. Die Diagrammstellung ist für Weiß eigentlich kinderleicht gewonnen (er besitzt u.a. zwei Mehrbauern!), nämlich ganz einfach mit 42.Ka5 nebst Durchmarsch des b-Bauern. Schwarz hat nicht einmal den Ansatz einer Verteidigung und ich vermute, Gelfand hätte einfach aufgegeben. Doch irgendwie geisterten Karjakin offenbar gewisse Lehrsätze aus seiner Jugend im Kopf herum und er verfiel auf den Zug 42.Tf3? Offenbar nach dem Motto "erst sollst du den gegnerischen König abschneiden, dann ist es noch einfacher". In Wirklichkeit wird es aber nur komplizierter, denn der schwarze König steht ohnehin zu weit weg, wogegen nun der e-Bauer zu einem echten Ärgernis wird. Aber die Stellung bleibt zunächst trotz allem klar gewonnen. 42...e4 43.Tf1 e3 44.Kc4?? Bei aller Liebe: Den aktiven König zurückzubeordern, ist nun wirklich Humbug. Vielleicht war Karjakin einfach rechenfaul oder er hatte schon wieder einen schlauen Spruch im Kopf wie "im Endspiel sollst du nichts überstürzen". Dabei gab es auch hier noch äußerst geradlinige Gewinnwege, z.B. 44.Te1 Te8 45.b6 Kf5 46.Kb5 Ke4 47.Kc6 Kd3 48.Kxd6+- Sicherlich keine Variante, die einen Karjakin normalerweise überfordert, wenn er unbefangen aufs Brett schaut. 44...Tc8+ 45.Kd3 (?) (45.Kb4!) 45...Tc5 46.b4 Txd5+ 47.Kxe3 Txb5 48.Tf4! Endlich wieder ein guter Zug, nach welchem die Stellung zum Glück immer noch knapp gewonnen ist. Karjakin hatte inzwischen sicherlich gemerkt, was er angerichtet hatte und riss sich mächtig am Riemen. Die weiteren Züge sind auch ohne Kommentar verständlich: d5 49.Kd3 Rb7 50. Kc2 Rb8 51. Kc3 Rb7 52. Rf8 Rc7+ 53. Kb3 Rd7 54. b5 d4 55. Kc2 d3+ 56. Kd2 Rd5 57. Rg8+ Kh6 58. Rg5 Rd4 59. Rc5 Kg6 60. b6 1-0 Warum einfach, wenn's auch kompliziert geht?

 

Eine andere bekannte Regel lautet, dass man im Endspiel den König aktivieren soll. Das ist natürlich nicht verkehrt, wird aber gerne missverstanden: "Aktivieren" ist im Sinne von "ins Geschehen einbinden" zu verstehen, nicht von "möglichst weit nach vorne laufen"! Ein gutes Beispiel, wie es nicht geht, liefert die Partie van Delft - Brunello aus dem B-Turnier. Hier standen die weißen Figuren eigentlich schon recht gut: Sein König behält gleichzeitig den Freibauern und den eigenen Königsflügel im Auge, der Turm schneidet den schwarzen König ab. Bei vernünftiger, ruhiger Verteidigung sollte Weiß gute Remischancen haben, z.B. sieht 62.Td5 logisch aus. "Turm hinter den Freibauern", tja, auch diese Regel gilt nicht ausnahmslos, aber doch ziemlich häufig. Fatal war hingegen die Partiefolge 62.Kf3?! Td6 63.Ke4?? (was soll der König hier?) d3 Nun musste Weiß seinen Turm zurückziehen und nach 64.Tb1 d2 65.Td1 Kg5 gab er bereits auf. Sein Turm spielt überhaupt nicht mehr mit und sein "aktiver" König muss wegen Zugzwangs bald wieder zurückweichen. Immer wieder traurig, wenn man stundenlange harte Verteidigungsarbeit auf solche Weise leichtfertig zunichte macht.

"Freibauern müssen laufen" ist noch so eine Weisheit, die man immer wieder hört. Ja, im Prinzip richtig, aber doch bitte mit Sinn und Verstand! Also nicht so wie in der Partie Reinderman - Bok: Der Freibauer marschiert nicht von alleine durch, sondern braucht offensichtlich die Unterstützung des Königs. Was liegt also näher als 45.Ke4, was in der Tat glatt gewinnt. Mit seinem abgeschnittenen König hat Schwarz keine Chance, auch ein Angriff auf die weißen Königsflügelbauern ist viel zu langsam. Stattdessen geschah jedoch geradezu anfängerhaft 45.b5?? Tb4! und ohne den König war die Partie nicht mehr zu gewinnen.

Es ist wirklich so: Diese Großmeister sind uns Amateuren in fast allen Belangen des Spiels natürlich weit überlegen, aber im Endspiel unterlaufen auch ihnen immer wieder ganz elementare Fehler. Was ich hier zeige, sind keineswegs Einzelfälle; es handelt sich sogar eher um die Regel als um die Ausnahme. Werden solche Sachen heutzutage nicht mehr trainiert?

Fazit der heutigen Lektion: Die bekannten Endspielregeln sind schön und gut, aber sie können auch gewaltig in die Irre führen, wenn man ihnen blind vertraut. Eigentlich sollte man bei jeder Regel noch einen kurzen Halbsatz hinten dranhängen: "...wenn es gut ist!"

Der Turniersaal
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Donnerstag, 26 Januar 2012 00:47

Vor Ort in Wijk aan Zee

Man kann das Tata Steel Chess Turnier natürlich prima im Internet verfolgen, aber ein Besuch vor Ort lohnt sich durchaus – ich mache es jedenfalls alle Jahre wieder. Dieser Bericht geht vor allem über die 9. Runde am Dienstag 24.1., wobei aber auch frühere Erfahrungen ein bisschen mit einfliessen. Beide Fotos © Fred Lucas.

In Wijk aan Zee gibt es zwei Schauplätze: Dorfhaus de Moriaan steht für einige Wochen ganz im Zeichen des Schachs – ein paar hundert Amateure spielen im Saal und in einigen Nebenräumen, die Grossmeisterturniere ABC sind abgetrennt auf der Bühne (auf dem Foto ganz hinten hinter den Monitoren). Zweiter Schauplatz ist das Kommentarzelt das jedes Jahr ein paar hundert Meter entfernt auf einer Wiese mitten im Dorf aufgebaut wird – der Rest dieser Grünfläche ist teilweise Parkplatz, nebendran laufen Pferde herum, die sind aber etwas grösser und bewegen sich anders als die Schachfiguren!

Zuerst zum Turniersaal: die Bühne betreten zunächst, so 15-20 Minuten vor Rundenbeginn, diverse Fotografen. Erkannt habe ich Hausfotograf Fred Lucas und den Tschechen Pavel Matocha mit seinem Hahnenkamm; später traf ich noch Chessvibes-Chef Peter Doggers. Dann nach und nach die Spieler. Als erster kam Topalov – was er einem anderen Pavel, Hauptschiedsrichter Votruba, erzählte weiss ich nicht denn sie unterhielten sich in irgendeiner slawischen Sprache. Dabei "bewachte" er den Eingang zur Bühne – schade dass ich keine eigene Kamera hatte denn "Türsteher Topalov" wäre ein nettes Motiv gewesen. Traditionell konzentriere ich mich aber auf die C-Gruppe: da ist die Menschentraube kleiner, die Spieler kommen tendenziell früher und die Atmosphäre ist lockerer. Zwei Damen waren besonders gut gelaunt: worüber sie sich sehr angeregt unterhielten kann ich auch nur vermuten obwohl sie Englisch sprachen. Sachdev und Pähtz vor der RundeHinterher sah ich dass Elisabeth Pähtz im Video-Interview auf der Turnierseite lachend verriet was sie einen Tag davor am Ruhetag tat: shopping in Amsterdam mit Tania Sachdev. Es dauerte ein zwei Minuten bis Fotografen dazu kamen – Fred Lucas hat mir sein Foto (genommen aus <1m Entfernung) dankenswerterweise geschickt schon bevor es hier veröffentlicht wurde. Im Hintergrund Elina Danielian, Gegnerin von Pähtz die sich bereits voll auf die Partie konzentriert, die Stellung ist ja auch durchaus kompliziert. Der Gong zum Start der Runde kam aber erst fünf Minuten später.

Dann habe ich noch die Eröffnungsphase verfolgt, Zustimmung eingeholt um Fotos für diesen Bericht zu verwenden (dieses Jahr neu für mich), und eine Stunde später beginnt der Kommentar. Da harmonierten Smeets und Stellwagen auch prächtig, wobei der holländische Jan (nicht Timman, der spielt ja im B-Turnier) die besseren Sprüche hatte u.a. als Sekundant von Topalov:
"Topalov spielt die Eröffnung immer schnell – mal ist es Vorbereitung, mal ist es Bluff, das weiss der Gegner ja nicht."
[Zur Eröffnung bei Carlsen-Karjakin:] "Das musste ich auch mal analysieren, aber erst einige Züge später. Oft bin ich Experte in Stellungen ohne zu wissen wie sie zustande kommen." (denn der Chef kennt die ersten 10-15 Züge auswendig, sein Assistent aber offenbar nicht)

Aus dem Publikum kam die (logische) Frage warum sie nicht selber spielen. Beide hatten eine Einladung für die B-Gruppe, worauf Smeets aber nach dreimal A-Turnier keine soooo grosse Lust hatte. Ausserdem will er so langsam sein Studium abschliessen, und Stellwagen ist inzwischen berufstätig.

Irgendwann ging ich zurück in den Turniersaal. Besonders faszinierend ist dass mehrere Spieler immer in Gedanken versunken auf der Bühne rumlaufen ohne miteinander zu kollidieren. Oft legt Gelfand mit die meisten Meter zurück, diesmal aber nicht denn seine Partie wurde schnell Remis. Das Resultat war nicht überraschend, schliesslich spielte er gegen van Wely und der kann dieses Jahr weder gewinnen noch verlieren. Der ultime Beweis einen Tag danach: King Loek akzeptierte remis genau als er plötzlich forciert gewinnen konnte! Absicht war es sicher nicht, und er hatte nur noch wenige Sekunden für seinen 40. Zug. Und van Welys eigentliche Rolle übernimmt dieses Jahr Karjakin.

Ein anderes Foto das nicht geschossen wurde hat den Titel "Aronian überholt Carlsen". Beide liefen parallel zueinander, Carlsen vor, Aronian hinter den Brettern der A-Gruppe, und der Armenier war viel schneller unterwegs. Das passierte am selben Tag ja auch im Turnier. Wenn Carlsen nicht spazieren geht hat er übrigens auch seine ganz eigene Sitzhaltung am Brett – ich kann es nicht beschreiben, auch in der Hinsicht ist er einmalig.

So das war's. Was hinterher passiert (Analyse, Kommentare der Spieler, Pressekonferenz) erfahren zunächst nur etablierte Journalisten mit Zugang zum abgeschlossenen Pressebereich; darüber steht inzwischen einiges anderswo im weltweiten Web. Zwar liefen zunächst Pähtz und dann Topalov direkt an mir vorbei, aber ich wollte sie nicht ansprechen bzw. stören. Und sowohl "worüber hast Du/haben Sie denn mit Tania Sachdev gequatscht?" (oder etwa auf Englisch um die Sache mit der Anrede zu vermeiden??) als auch "What was it today, bluff or preparation?" wäre überfrech gewesen – bei Topalov vermute ich in seiner Partie gegen Nakamura letzteres.