Schach 2012
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„Ich mogelte bei meiner Metaphysikprüfung, indem ich dem Jungen neben mir in die Seele guckte“ (Woody Allen)

Dem Österreicher Gerhard Kubik ist es gelungen, ein Buch über Schach zu schreiben, das eine garantierte Leistungssteigerung der Spielstärke verspricht und dabei ganz ohne einen einzigen Schachzug auskommt. Das ist schon an sich beachtlich, aber kann es auch halten, was es verspricht?

„Schach 2012
“, Untertitel: „In 12 Schritten zum spirituellen Schachmeister“ heißt die kleine, schmale Broschüre, die auf knapp 100 Seiten kommt und dabei den Mut zu viel Leere aufbringt. Fast die Hälfte des Raumes soll dem Leser dazu dienen, eigene Gedanken und Erfahrungen niederzuschreiben, beim Lesen eine Art Tagebuch zu führen. Die marktschreierischen Versprechungen sind sicher überzogen, Voraussetzung für die Lektüre ist eine gewisse Affinität zum Weltbild des Autors. Kubik selbst gibt an, in vergangene Leben sowie in die Zukunft blicken zu können; einen Hang zur Seelenwanderung und Vorkenntnisse in indische und fernöstliche Kulturen sind beim Leser durchaus von Nutzen. 2012 ist für manche Leute ein Jahr, in dem einschneidende Veränderungen im Bewusstsein der Menschheit geschehen sollen, für andere dagegen das Jahr der nächsten Fußball-EM. Verschiedene Leute setzen eben die Prioritäten anders. Kurzum: man muss schon dran glauben, um gewisse Dinge ernst nehmen zu können.

Wenn Sie bei Begriffen wie „Astralebene“ „Ätherkörper“ nicht richtig mitschwingen können wird Ihnen die Lektüre des Buches womöglich herzlich wenig bringen. So regt sich bei mir ein innerer Widerstand bei Sätzen wie „erklären Sie sich zum Kanal für Spirit!“ Da fällt es mir schwer, ernst zu bleiben, vielmehr drängt sich mir ein Buchtitel Dieter Hildebrandts auf: „Ich musste immer lachen“ (2006). Die Sprache und die Begrifflichkeiten, derer sich Kubik bedient, sind was für Eingeweihte. Der „Verstandesmensch“ wird eher verdutzt an manchen Formulierungen hängen bleiben und läuft Gefahr, schnell „dicht zu machen“. Der leichteste Weg etwas abzutun, wofür man kein Verständnis aufbringen kann oder will ist sicher, es abzulehnen, zum Beispiel in dem man es der Lächerlichkeit aussetzt.

Nun wollen wir nicht den bequemen Weg gehen. So rät Kubik in einer Lektion: „Urteile nie!“ und weist dabei auf eine menschliche Grundsituation hin, die auch im Schach existiert: um uns im Umfeld zu orientieren sind wir zu schnellen Urteilen gezwungen, die ganz schnell zu vorschnellen Urteilen und damit zu Vorurteilen werden. So ist es beim Schach schwierig, die Elozahl des Gegners auszublenden. Man lässt sich mehr oder minder bewusst von der nominellen Spielstärke seines Gegenübers blenden, unter- bzw. überschätzt ihn, klammert deshalb verstärkt auf Remis, nimmt zuviel Risiko, kurz verhält sich voreingenommen und von daher eingeschränkt. Auch wir sollten nicht zu vorschnell den Kubik verdammen oder gar der Lächerlichkeit preisgeben. Denn auch bei gesundem Misstrauen kann man einiges Positives aus der Lektüre ziehen!

Zunächst finde ich es begrüßenswert, ein Schachlehrbuch zu entdecken, das einen ganz anderen Zugang zur Materie hat als die „Üblichen“: ohne Diagramm, ohne Varianten! Viel zu sehr sind wir es gewohnt, unseren Verbesserungsprozess als eine Ansammlung von Wissen zu sehen: Mittelspielstrukturen, Pläne, Motive und im überdimensionalen Maßstab freilich Eröffnungsvarianten bestimmen unsere schachliche Ausbildung. „Das ausgefeiltere Repertoire gewinnt!“ wollen uns die meisten Schachschriftsteller weismachen.  Das Büffeln von Varianten und deren computergestützte Überprüfung diktieren die Diskussion über „Wahrheiten“ im Schach. Wo man früher komplizierte Stellungen nach der Partie zusammen mit dem Gegner im Gedankenaustausch überprüfte bekommt man heute hinterher stereotyp zu hören: „das muss ich mal mit Rybka checken!“ Oder noch personifizierter: „…mit MEINEM Rybka“ oder „…mit MEINEM Fritz“, so als wäre die Software durch die Häufigkeit des Anschaltens zu einem liebgewordenen Familienmitglied geworden oder gar mit dem Stammhirn des Spielers verwachsen.
Je mehr wir uns bemühen, zu Computerwesen zu werden und mit unseren Programmen zu verschmelzen, geben wir unsere Persönlichkeit preis und vergessen ganz, dass wir als Menschen mit unseren Emotionen am Schachbrett sitzen und die Fehlerquellen in uns sind. Von daher empfinde ich es als wohltuend, mal auf einen anderen Zugang hingewiesen zu werden.

Zudem gefällt mir, dass Kubik ausdauernd auf die sinnliche Seite des Schachspiels verweist: er fordert dazu auf, das Brett und die Figur in ihrer Präsenz und Schönheit wahrzunehmen, rät dazu, die Figuren ganz bewusst zu berühren und zu fühlen, ihnen gleichsam „Leben einzuhauchen“. Das erinnert mich an die Weisung eines bekannteren „Schachgurus“, Jonathan Rowson, der da forderte: „talk to your pieces!“ –Plaudere mit Deinen Figuren und frage sie, wie sie sich fühlen und was sie sich wünschen!

Das hat sicher einen belustigenden Unterton,  trägt aber auch Substantielles in sich. Dieser Aspekt des Spieles kommt in der Fachliteratur leider etwas zu kurz.
Ich will Ihnen nun nicht raten, den Kubik zu kaufen, aber schauen Sie sich bei der Suche nach Lektüre doch mal um und wagen Sie es auch mal ein Buch mitzunehmen, das einen anderen Zugang zu Schach eröffnet als diese hoch gezüchteten „Weiß gewinnt im x.ten Abspiel des y-Angriff gegen die z-Verteidigung“ und auch mal das Menschliche, das Sinnliche und Psychologische am Schachspiel nicht zu kurz kommen lässt. Und ich wünsche mir mehr Bücher, die in diese Richtung gehen.

Vielleicht hilft uns der Kubik wirklich, unser Schach zu verbessern, zumindest insofern, indem wir uns überlegen, welche Faktoren noch eine Rolle spielen neben den rein schachlichen und wir uns versuchen klarer (bewusster) zu werden, was es heißt, dass wir mit unserer Persönlichkeit eine Partie spielen in einem gewissen Raum an einem sinnlichen Brett zu einem bestimmten Zeitpunkt.  Und so weiter…
Im Prinzip verweist uns der Österreicher Kubik (der immerhin eine Spielstärke um die 2100 mitbringt) auf die alte Binsenweisheit, die schon am Orakel von Delphi zu lesen war: „erkenne Dich selbst“ …und alles wird besser bzw. Du wirst Deine Fähigkeiten effektiver einsetzen können.
Und wenn Sie nicht wollen, müssen Sie auch nicht „Kanal von Spirit“ werden. Es bleibt auch Ihnen überlassen, was Sie zur Möglichkeit eines Lebens nach dem Tode denken. Woody Allen ist in diesem Thema skeptisch, aber für den Fall, dass da doch noch was wäre führt er stets Zweitwäsche mit sich. Dieser Gedanke hat zweifellos was für sich: ich halte das Mitführen eines Magnetschachs beim Ausgehen für unerlässlich. Man weiß schließlich nie, wie alles endet.