Hängepartien in Amsterdam

Nein das hat rein gar nichts mit FIDE und Schachpolitik zu tun, im Gegenteil: das Turnier wird von der Association of Chess Professionals organisiert und die Partien werden nicht einmal Elo-ausgewertet. Dem Vernehmen nach weil einige Spieler unsicher sind welche Folgen eine "Neuerung" haben könnte: es gibt mal wieder Hängepartien. Was ist das denn? Ich bin alt genug um mich daran zu erinnern: kurz gesagt die Partie wird nach (spätestens) fünf Stunden unterbrochen, ein Spieler schreibt seinen Zug auf und versteckt ihn in einem Umschlag (ohne ihn auf dem Brett auszuführen) und die Partie wird später zu Ende gespielt. Zwischenzeitlich sind Spieler nicht an einige FIDE-Regeln gebunden: sie dürfen den Turniersaal verlassen, sie dürfen die Stellung auf einem anderen Brett (oder Monitor) analysieren und andere - Menschen und/oder Engines - konsultieren. Wie es ganz genau funktioniert steht auf Englisch hier.

Wie gesagt, mir ist das alles noch ein Begriff. Ich fand es im letzten Jahrtausend sehr spannend und lehrreich Partien aus Mannschaftskämpfen mit dem halben Verein zu analysieren. Wann ist man schon als Amateur gezwungen bzw. zwingt sich selber eine Stellung so detailliert zu untersuchen? Das war bevor Computerprogramme das Schach sehr beeinflussten ... . Inzwischen gehen zumindest die Veranstalter davon aus dass alle Spieler +- dieselben Ressourcen haben, also Chancengleichheit. Es reicht wohl auch nicht die abgebrochene Stellung einem Computer anzuvertrauen, es bedeutet trotzdem Arbeit für die Spieler bzw. für ihre Sekundanten. Das ist zumindest meine Meinung - in der Diskussion auf Chessvibes kann ich neben meinen eigenen Beiträgen (wo ist im Editor das Smiley?) vor allem die von brabo empfehlen.

Hängepartien sind die am meisten erwähnte und diskutierte aber nicht die einzige Besonderheit des Turniers. Da wäre
- die heutzutage grosszügige Bedenkzeit von 2 1/2 Stunden für die ersten 40 Züge
- das sehr interessante Teilnehmerfeld mit Ivanchuk, Kamsky, Jobava, Sasikiran, Le Quang Liem (dieses Jahr mal nicht in Dortmund), Sutovsky (der bei der Organisation kräftig mitmischt) und Anna Muzychuk
- der schicke Austragungsort im Science Park Amsterdam
- Und nicht zuletzt: das Turnier ist, genau wie in Wijk aan Zee, nur eines von mehreren im gleichen Saal. Parallel laufen die niederländische Meisterschaft (deshalb wohl kein Einheimischer im ACP-Turnier) und diverse Open. Bisher haben sich nur wenige Deutsche angemeldet, vielleicht hat noch jemand Lust? Ach ja, Termin ist 14.-21. Juli.

Da das Ganze für mich quasi um die Ecke ist werde ich wohl mal vor Ort vorbeischauen und vielleicht noch was darüber schreiben. Zur Einstimmung zwei Partien zwischen dem bekanntesten und dem womöglich (aber meines Erachtens zu Unrecht) unbekanntesten Teilnehmer. Die erste - chronologisch ist es die zweite - ist nicht unbedingt zur Nachahmung empfohlen, don't try this at home !? Die allermeisten Schachspieler sollten sich doch an gewisse Faustregeln halten wann man welche Figuren entwickelt, den beiden Schachkünstlern war es ziemlich egal, also geschah dies:

Die zweite Partie (bzw. die erste, gespielt wurde sie knapp zwei Jahre davor auch bei der Olympiade) passt zum Thema: Wie wäre sie ausgegangen wenn/falls sie nach dem 40. Zug abgebrochen worden wäre? Hätte Ivanchuks Festung mit zwei Läufern gegen die Dame dann gehalten? Ich beende diesen Beitrag mal mit dieser Frage, ohne sie zu beantworten.

Kommentare   

#1 Northsea 2012-07-02 14:00
Hängepartien sind durchaus mit den aktuellen FIDE-Regeln vom 1.7.2009 www.schachbund.de/downloads/FIDE_Laws_of_chess_2009.pdf konform, es gibt da den Abschnitt "Guidelines in case a game needs to be adjourned". Jedoch können in solchen Turnieren
keine Titel erworben werden, da dieses nur dann möglich ist, wenn eine der folgenden sechs Bedenkzeiten vorliegt:
- 90 Min./Partie + 30 Sek. für jeden Zug
- 90 Min./40 Züge + 30 Min./Rest + 30 Sek. für jeden Zug
- 100 Min./40 Züge + 50 Min./20 Züge + 10 Min./Rest + 30 Sek. für jeden Zug
- 120 Min./40 Züge + 30 Min./Rest
- 120 Min./40 Züge + 60 Min./Rest
- 120 Min./40 Züge + 60 Min./20 Züge + 30 Min./Rest.
Für Turniere die ELO-gewertet werden sollen ist die Bedenkzeit nur wie folgt eingeschränkt: www.schachbund.de/downloads/Rating_Regs_2009.pdf Siehe Abschnitt "1.0 Rate of play", d.h. für eine angenommene Partielänge von 60 Zügen sollten den Spielern zumindest 60 / 90 / 120 Minuten zur Verfügung stehen wenn im Turnier alle Spieler unter 1600 Elo sind / mindestens einer Elo 1600 hat / mindestens einer 2200 hat. Natürlich ist die Bedenkzeit für alle Partien gleich, es wird jedoch ein Mindestmaß (60 min) gesetzt, das steigt, sobald ein Teilnehmer des Turniers 1600 (dann 90 min) bzw. 2200 Elo hat (dann 120 min). Falls es eine erste Phase gibt mit x Zügen, so soll das x bei 40 liegen. Hängepartien finde ich übrigens nicht gut, auch wenn es sicherlich einen Trainingseffekt hat. Aber Turnier und Training sollten nicht auf diese weise vermischt sein. Bei Hängepartien könnte jemand der stärkere Sekundanten oder Engines hat einen Vorteil. haben. Es sollte NUR die eigene Leistung zählen. Und Partien sollten nicht unterbrochen werden. Wer keinen Marathon schafft, sollte sich eben lieber beim Halbmarathon anmelden statt eine Nacht im Hotel zu verbringen und am nächsten Tag weiterlaufen :-)
#2 Thomas Richter 2012-07-02 18:10
Hallo Northsea,

Erstmal schöne Grüsse von der Noordzee (Texel). Dass Hängepartien im Prinzip noch möglich sind wusste ich - die Partien in Amsterdam _könnten_ also Elo-ausgewertet werden, aber mindestens einer der Teilnehmer will das offenbar nicht (wie Sutovsky gegenüber Chessvibes andeutete). Allerdings frage ich mich ob sie in den FIDE-Regeln nur noch nicht offiziell abgeschafft wurden - in der Praxis gibt es sie wohl schon seit langem nicht mehr.

Kontra Hängepartien: die von Dir angedeutete fehlende Chancengleichheit. Ich würde sagen dass das auf GM-Niveau keine entscheidende Rolle spielt, aber durchaus unter Amateuren wenn ein Spieler der dritten Mannschaft sich Tips von weit stärkeren Spielern holen kann.

Pro Hängepartien: die Qualität der Züge im Endspiel nimmt zu da man für diese Partiephase mehr Zeit bekommt und Ermüdung weniger eine Rolle spielt. Man kann zwar sagen dass Schach (auch) Ausdauersport ist, aber mit konstanter Bedenkzeit und ohne Partieabbruch könnte ein Mannschaftskampf unter der Woche abends bis 4:00 morgens dauern, wer will das schon?

Ich gehöre übrigens zu den Leuten die nur einen Halbmarathon schaffen bzw. nicht mehr anstreben - wollte allerdings auch nicht am Tag nach einem Halbmarathon gleich den nächsten Halbmarathon laufen. Aber der Vergleich hinkt: im Schach weiss man beim Start, d.h. vor der Partie ja nicht ob man 10, 15, 21, 42km oder noch länger "laufen" muss - das betrifft sowohl die Gesamtspielzeit als auch die Anzahl der Züge.
#3 Bercher 2012-07-02 20:06
Bei uns im Verein sind Hängepartien für Vereinsmeisterschaft und -pokal seit Jahrzehnten möglich.
Von Jugendlichen und Frühaufdiearbeitgehern kann man nicht unbedingt erwarten bis 2 Uhr Schach zu spielen.
Bis jetzt hat sich diese Regelung bewährt.

Und das Analysieren von Partien lernt man hervorragend durch seine Hängepartien.

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