Vor was haben die meisten Schachspieler mehr Angst als in einer Turnierpartie mit einem gemischten Figurensatz spielen zu müssen?
Ist mir übrigens erst kürzlich passiert.
Echt ärgerlich.
Ich glaube es waren 4 verschiedene Figurensätze bunt zusammengewürfelt worden, wohl traurige Überbleibsel vom letzten Blitzturnier. Auf alle Fälle war es eine Beleidigung fürs Auge was da auf dem Schachbrett geboten wurde, kleine Bauern, große Bauern, Läufer die der Dame zum verwechseln ähnelten, Springer mit verschiedenen Köpfen usw. Ein Wunder das damit überhaupt Partien gespielt und auch beendet wurden ohne das man sich ins Gehege gekommen wäre ob nun der König oder der Läufer gezogen hat! Eine Beleidigung fürs Auge waren auch meine Partien, rein schachlich mein ich jetzt.
Hier ein kurzes Beispiel:
Maurer,Heinrich - Rieger,Martin [C12]
OSEM 2014 Sinzing
1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Sf6 4.Lg5 Lb4 5.e5 h6 6.Ld2 Lxc3 7.Lxc3 Se4 8.Ld3 Sxc3 9.bxc3 c5 10.Sf3 Da5 11.Dd2 c4!N
Das ist anscheinend eine Neuerung.
Auf alle Fälle gibt John Watson in seinem „Play the French“ hier nur 11. …Sc6 an. Der Textzug gewinnt aber ganz einfach einen Bauern!
12.Le2 Sd7 13.0-0 Sb6 14.Tfb1 Da3 15.Dc1 Dxc1+ 16.Txc1 Sa4 17.Sd2 Sxc3 18.Lf3 Ld7 19.Sb1 Sxb1 20.Taxb1 b5 21.c3 0-0 22.Ld1 Tfb8 23.a3
Die Stellung ist natürlich gewonnen für Schwarz. In meiner grenzenlosen Naivität dachte ich, ich hätte nun alle Zeit der Welt um meinen Gegner langsam zu erdrücken. Leider erwies sich das als Trugschluss! Nach meinem hirnrissigen
23. … Tb6
konnte mein Gegner zu meinem Bedauern eine gute Auffangstellung einnehmen und nach weiteren gut 40 Zügen musste ich mich ins Remis fügen. Einfach hätte 23. …a5 nebst b4 gewonnen.
Warum bringe ich dieses armselige Beispiel niederer (End)Spielkunst? Es zeigt eigentlich ganz gut, das es rein gar nichts bringt, wenn man die Eröffnung gut bis sehr gut meistert nur um dann im Endspiel grobe Böcke zu schießen.
Ein anderes Beispiel:
Was würden Sie in einer ernsten Turnierpartie mit Schwarz am Zug spielen? Wie würden Sie die Lage einschätzen?
Die Auflösung kommt etwas später.
Davor möchte ich Ihnen natürlich sagen, warum ich diese Beispiele bringe und worum es hier eigentlich geht. Die Rede ist von „Grandmaster Preparation- Endgame Play“ aus dem Hause Quality-Chess von GM Jacob Aagaard.
Jacob Aagaard Endgame Play Grandmaster Preparation
376 Seiten, kartoniert, 1. Auflage 2013.
In diesem neuen Werk aus der Feder des Vielschreibers Aagaard versucht der Autor, das Endspieltraining auf eine neue Ebene zu transferieren. Wie GM Karsten Müller im Vorwort ironischerweise betont, reicht es nicht aus, nur Übungen aus Büchern zu lösen oder Schachvideos anzusehen (im Chessbase-Verlag erschienen von ihm bisher übrigens 14 DVD zum Thema Endspiel!) um sein Endspiel spürbar zu verbessern. Es muss auch in der Praxis geübt werden unter Turnierbedingungen. Diesen löblichen Ansatz versucht Aagaard auch in seinem neuen Buch, möglichst reale Stellungen mit den häufigsten Materialverteilungen werden vorgestellt, genauer erläutert und mit einigen Partiefragmenten glossiert. Anschließend folgt eine ganze Reihe von Übungsaufgaben unterschiedlicher Schwierigkeit.
Die obige Stellung ist so eine Übungsaufgabe. Falls Sie sich bis jetzt die Zähne daran ausgebissen haben, ich erlöse Sie:
Der etwas überraschende Lösungszug lautet 1. …Th8!!
Falls jetzt 2.g6 geht der Turm zurück auf das Feld f8 2. …Tf8!! Es kann folgen 3.Txf8 b1D 4.Te8+ Kd7! Der Schlüsselzug! Nach 4. …Kxe8 spucken die Tablebases ein Matt in 50 aus.
5.Td8+ Kc7!! 6.h8D Dxg6 7.Kf4 Df7 8.Kg5 De7! mit Dauerschach.
Sie fanden das schwierig?
Ich auch.
Mir ist auch nicht klar, was man aus solch einem Beispiel lernen kann. Vor allem, da sich Aagaard in seiner Lösungsbesprechung nur auf das reine replizieren von offensichtlich tablebaseverseuchten Computervarianten beschränkt. Ehrlicherweise muss ich zugeben, ich wüsste auch nicht, wie man solch ein Beispiel anhand von einprägsamen Lehrsätzen, allgemeinen Grundsätzen und Faustregeln vermitteln könnte.
Im nächsten Beispiel verlangt Aagaard von seinen Lesern, das weiße Spiel (Ivanchuk-Anand, Linares 2009) zu verbessern.
Weiß ist am Zug.
Kleinigkeit oder?
Jedenfalls, Ivanchuk hat den Zug nicht gefunden und patzte mit 1.Kd5? Richtig gewesen wäre 1.Kd4!
Ich will Sie jetzt auch nicht mit zu vielen Varianten langweilen, deswegen lasse ich es auch. Sie müssen sich einfach damit begnügen, dass 1.Kd4! der richtige Zug ist, über das wieso und weshalb würde auch die Wiedergabe von Varianten versagen. Man muss es verstehen. Und das ist auch gleich meine Quintessenz des Ganzen: sehen, erleben, verstehen, lernen. Was mir persönlich an dem Buch fehlt: das Verstehen und das Lernen. Klar, ein gestandener Großmeister kann sicher gut mit dem Buch arbeiten wollte er noch an seinem Endspiel feilen. Aber leider sind nun mal 99% aller Schachspieler keine Großmeister, sie sind Hobbyspieler, Vereinsspieler, ambitionierte Turnier- oder Fernschachspieler.
Eines ist jedoch klar, Aagaard kann man nicht den Vorwurf machen, er habe es sich zu einfach gemacht mit der Auswahl von Stellungen. Es gibt sehr viele gute Beispiele im Buch die etwas vermitteln auch wenn mir auch hier eindeutig erklärende Textpassagen fehlen. Doch diese guten Beispiele sind mir einfach zu wenig für ein Buch, das den Anspruch erhebt, Endspieltraining auf eine neue Stufe zu stellen. Dafür hätte Aagaard sich noch mehr in seine Leser hineinversetzen müssen. Die Aufgaben sind in der Mehrzahl verdammt schwierig wenn nicht sogar fast unmöglich zu lösen. Das obige Beispiel mit der Stellung aus der Ivanchuk-Partie zeigt es ganz gut: Der normale Schächer soll eine Stellung korrekt weiterspielen, die ein Spieler, der seit gut 25 Jahren jenseits der 2700 Elo-Marke angesiedelt ist, verpatzt hat. Das halte ich für wahnwitzig bis bestenfalls verwegen. Das wäre genauso, als müssten sie zum ersten Mal in Ihrem Leben ein Flugzeug landen mit Hilfe einer Beschreibung. Der Absturz wäre vorprogrammiert. Genauso ist es mit dem Buch: Sie können sich schon hinsetzen und es aufmerksam studieren, die Übungsaufgaben lösen so gut es eben geht. Doch einen wirklichen Nutzen für die Praxis würde das nicht ergeben. Wie auch, wenn man nicht weiß, was man da tut, geschweige denn wieso und warum. Nochmal: man muss verstehen warum man das tut was man da tut. Außer natürlich man ist eine Computerengine und kann auf Tablebases zugreifen ;-)
Aagaard hat es meiner Ansicht nach klar versäumt, seine einzelnen Kapitel und die darin befindlichen Beispiele dem Leser verständlich und mit Hilfe von Regeln und Merksätzen näher zu erläutern. Kurz 2-3 Seiten eine Einleitung in den kommenden Stoff und dann einige sehr happige Übungsaufgaben, das kann nicht klappen.
Was bleibt also übrig von diesem Endspielbuch, das GM Karsten Müller im Vorwort in den höchsten Tönen lobt?
Nicht viel. Leider.
Eine Ansammlung sehr schwerer Aufgaben mit der der Leser alleine im Regen stehen gelassen wird. Keine Erklärungen, nichts mit denen sich der Lernende Eselsbrücken bauen könnte, keine eingängigen Faustregeln. Daran ändern auch die wohlwollenden Worte im Vorwort wenig.
Das Buch ist empfehlenswert, wenn sie ein Titelträger und ambitioniert sind, gewisse Endspielschwächen natürlich vorausgesetzt. Für alle anderen gibt es auf dem Schachbuchmarkt genügend andere, sehr gute und empfehlenswerte Endspielbücher (u.a. Understanding Chess Endgames von John Nunn, Die Endspiel Universität von Mark Dworetzki oder auch Fundamental Chess Endings von Karsten Müller und Frank Lamprecht).
Daneben gibt es auch noch eine äußerst bequeme Art, sich vor dem Endspiel zu drücken: Sie setzen ihren Gegner einfach davor schachmatt!
Bewertung:
1 von 5 Sternen
Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von Schach Niggemann (http://www.schachversand.de/) überlassen.
Kommentare
Interessante Rezension auch - das erste Buch von Aagard (Excelling at Chess) gefiel mir wirklich sehr sehr gut, aber dann, alles was danach kam, hatte schon mehr so Seriencharakter, und lehrreich war es auch nicht immer. Bei seinem ersten Taktikbuch begann ich mit großen Erwartungen, doch dann blieb davon nicht viel übrig. Seitdem lasse ich eigentlich die Finger von seinen Büchern.
Bei dem Buch, das Du jetzt hier vorstellst, scheint es ähnlich zu sein. Gut, dass Du gewarnt hast!
Dass Du, Martin, hier Merksätze oder Eselsbrücken vermisst, liegt wohl daran, dass der Autor mutmaßlich unter dem Titel versteht, die Denktiefe des Lesers zu stärken. Diese ist in der Tat ein wichtiger Erfolgsfaktor in Endspielstellungen.
Schön gelöst finde ich dieses Thema beim leider vergriffenen "125 große Endspiele" von Lauterbach/Treppner. Die Auswahl in diesem kleinen Büchlein ist meines Erachtens sehr gut gelungen. Die Beispiele sind so, dass ich die meisten unter einigen Anstrengungen lösen kann.
Vermutlich kommen 90% der Turnierpatzer aber bezüglich des Turmendspiels ohnehin mit zwei Uralt-Büchern aus, die trotz ihres bescheidenen Aussehehens einfach großartig sind:
1.) Karl-Otto Jung, "Was man über Turm-Endspiele wissen sollte. Handbuch für den aktiven Turnierspieler", Edition Jung, Neu-Jung Verlag, Homburg-Einöd 1998 (vielleicht gibt es spätere Auflagen als diese)
2.) Arpád Földeák, "Turmendspiele in Schachpartien. Theorie und Praxis mit 252 Diagrammen", Falken-Verlag Erich Sicker KG, Leinfelden, Wiesbaden, Budapest 1976 (auch hier ist es nicht völlig unmöglich, dass es erheblich spätere Ausgaben gibt ...)
Wer das durchgearbeitet hat und vor allem
a.) am Brett repetieren kann
und
b.) auf diese Stellung zusteuern (bzw. sie vermeiden) kann
ist garantiert schon ein paar Schritte weiter als die überwiegende Zahl der Schachspieler, von Profis und Semi-Profis natürlich abgesehen.
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