Schach -- ein Glücksspiel?

Das ist ja nun wirklich unerhört! So werden vermutlich nicht nur die eingefleischten und hochrangigen Schachspieler reagieren. Was, bitte schön, sollte das(!) König unter den Spielen mit Glück zu tun haben? Jenes erhabene Spiel, bei welchem vorsätzlich sämtliche Zufallsfaktoren eliminiert wurden? Jenes, bei dessen Kampf sich eindeutig herausbekommen lässt, welcher der beiden Protagonisten über das höhere Verständnis, die höhere Spielstärke verfügt, selbst wenn es ab und an mehr als einer einzelnen Partie bedarf? Jenes Spiel, was ausgerechnet vom Menschen für den Menschen erschaffen, um ihm in seiner Domäne, der reinen Geisteskraft, eine Möglichkeit zu geben, ein spielerisches Kräftemessen mit einem anderen Ableger der gleichen Gattung durchzuführen und so den – wenn auch dadurch für den Verlierer besonders schmerzhaften – besseren Denker zu ermitteln?

Nein, Schach nun wirklich nicht. Jedes andere Spiel, jede andere Sportart (Wieso andere? Das hieße ja, das Schach auch Sport ist?), ganz sicher. Aber nicht im Schach, Klares Veto. Hier und nur hier ist es nicht mehr erforderlich, vorm Turnierstart das bei anderen, im Vergleich lächerlichen Wettkämpfen  so beliebte „Möge der Bessere gewinnen“ auszurufen, hier, beim Schach, kann man es getrost ersetzen durch ein „der Bessere wird gewinnen. Punkt.“

A.T.U - Auto Teile Unger

Andererseits wird vermutlich ein jeder Schachspieler – unabhängig von seinem Niveau – immer wieder nach geschlagenen Schlachten, die nicht zu seinen Gunsten verliefen, diesen oder jenen Moment hervorkramen, in welchem er aus im Nachhinein für ihn unerfindlichen Gründen diesen unfassbaren Zug machte, der schlichtweg einen Bauern einstellte oder auch jenen einfachen Gewinnzug, nach selbstverständlich aus seiner Sicht absolut systematisch erarbeiteter Gewinnposition, nicht gesehen zu haben, welcher ihm laut Fritz ein Übergewicht von satten 4.5 Bauerneinheiten – und damit sicher alsbald den vollen Punkt -- eingebracht hätte. Er wird sich auch zumindest im Geiste vor den Kopf schlagen, er wird sich auch gehörig ärgern können und diese (gepaart mit der anderen) als „Pechgeschichte des Jahres“ verkaufen wollen, wird dennoch aber im Hinterkopf stets, spätestens ein paar Tage danach, realisieren, dass nur er die Püppchen auf die Felder gezogen hat, wo sie letztendlich landeten und dass kein Würfel oder keine Roulettekugel oder kein Windhauch und auch keine Platzunebenheit  für das erzielte Resultat verantwortlich waren. Vermutlich wird er sich Mut machen und aufgrund der vergebenen Möglichkeiten Besserung gelobigen und sich bald in die nächste Schlacht stürzen – mit offenem Ausgang.

In aller Regel wird er jedoch für die verpassten Chancen immer den optimalen Zeitpunkt herausgepickt haben und das Zustandekommen dazu sowie die Perspektive der Gegenseite, welche mit der allergleichen Argumentation die nachteilige Stellung erklären würde, ignorieren. Die gewonnene Partie hingegen, auf welche sich genau Gegners identisches Wehklagen im Anschluss bezieht, hätte er längst abgehakt, und die Umstände, die dazu führten mit einem Lächeln und einem eigens auf-die-Schulter-klopfen wohlwollend seinen eigenen überragenden Fähigkeiten zugeschrieben.

Nun, allein diese Ansätze zur versuchten Objektivität, bei welcher sich jeder Schachspieler selbst zu hinterfragen hätte – aber dies zugleich auch einfach sein lassen kann – rechtfertigen noch nicht im Geringsten den Titel dieses Textes. Erwähnt sei nur noch kurz, dass man feststellen dürfte, je höher man geht in den Spielstärkekategorien, dass diese Art der Subjektivität nachlässt und dabei, bei Wortantipoden wohl üblich, zugleich die Objektivität anwächst – damit zugleich einen Hinweis zur eigenen möglichen Verbesserung gebend. Vielleicht gibt es doch einen Zusammenhang?

Nach dieser gewohnt länglichen – aber hoffentlich doch unterhaltsamen, vielleicht gar lehrreichen? – Einführung praktisch direkt hinein ins Thema: welche Glücksaspekte gibt es denn wirklich, welche nur angeblich? Gibt es nicht doch irgendwie ein paar, allseits anerkannte, die als Glück durchgehen würden? Natürlich – Objektivität und Wohl oder Weh hin oder her – gäbe es automatisch mit dem Glück zugleich Pech, welches dann die Gegenseite beträfe.

Immerhin kann man doch auf einige Bekanntschaft und Vorgeschichte mit diesem Thema und zahlreichen gehörten Reaktionen – vor allem jener: „Was??? Du hast ja keine Ahnung!“ – verweisen. Dies hat zu einer Erkenntnis geführt, welche hier gerne noch vorweggeschickt wird: niemand wird es letztendlich leugnen können – so meist auch die Ergebnisse in den Gesprächen – nur, und dies erst die Erkenntnis: es lohnt eigentlich nicht, darüber nachzudenken. Was hätte man davon, wenn einem bescheinigt werden könnte, dass man in jener Partie, jenem Turnier in der Summe, Pech hatte (der Glückliche wird ja gar keinen Antrag stellen)? Ineffektiv, nutzlos, vielleicht gar kontraproduktiv, weil man eine Neigung an den Tag legen könnte, nach ungünstigen Umständen zu suchen – anstatt weiterhin auf dem Brett nach bestem Wissen und Gewissen den chancenreichsten Zug zu suchen.

Ja, war hier ein „hinein ins Thema“ versprochen worden? Nun, denn sei es: welche Glückselemente könnte man nennen – so sehr sich vielleicht dem Leser längst die Nackenhaare kräuseln?

Eine Reihenfolge muss gewählt werden, diese ist aber nicht gewichtet (und auch sonst keiner Sortierung unterworfen; sie entspringt freien Assoziationen). Als Punkt 1 nun erwähnt die...

1) Zugauswahl des Gegners

Sofern der Gegner sämtliche Schachregeln kennt – also jeden legalen Zug finden könnte – gelingt es ihm mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bereits, ohne Wenn und Aber, jeweils den Kasparowschen Zug aufs Brett zu zaubern. Dies muss man einfach anerkennen. Man könnte vielleicht noch mutmaßen, ob einige der Züge so absurd erschienen für den Anfänger (so er denn „zufällig“ einer ist), dass er sie noch seltener findet, als sie ein Zufallsgenerator finden würde (der berühmte Affe, der Tschaikowski komponiert), aber eine Chance gibt es.

Wenn die Anerkennung  -- nach einigem Schlucken – denn stattgefunden hat, so muss man im nächsten Atemzug (ja, genau: erstmal Luft holen) eingestehen, dass es nur noch um Quantitäten ginge. Es ist möglich. Ja. Unterschrift drunter. Aber es geht auf die Frage über: wie wahrscheinlich soll das denn sein? „Da kann ich 86 Trilliarden Jahre spielen – und es wäre noch immer nicht passiert.“ Sehr richtig. Aber es könnte eben auch heute oder morgen sein. Man könnte sich der Wahrscheinlichkeit noch etwas weiter annähern – hat dies autorenseitig auch getan, und landet bei etlichen Zehnerpotenzen. Nur ändert dies auch nichts und es steht halt fest, dass die Chance größer 0 ist – und somit aus mathematischer Sicht die Möglichkeit eingeräumt werden muss..

Hier wurde ja nun auch ein extremes Beispiel genommen. Eine Zugmaschine, die nach dem Zufallsprinzip auswählt – und immer wie Kasparow zieht. Kurios nur, wenn man etwas weiter denkt, dass man vermutlich nach dem 34. Keulenschlag des Gegners – der nichts weiter als die legalen Züge beherrscht, wohingegen man selbst über ein solides 2000er (Plus) Rating verfügt – vermutlich ihm die Rechte, die Kapitulation anzeigend, entgegenstrecken würde – nicht ohne noch einen raschen Blick auf sein Ohr oder seinen Rucksack zu werfen oder sich über der  Häufigkeit der Toilettengänge zu entsinnen, nur um sicher zu gehen, dass da nicht irgendwo fremde Hilfe... --, und mit dieser Reaktion den größten Fehler der Partie begangen hätte. Denn: selbst wenn man vor dem einzügigen Matt stünde, so würde dieses der Gegner nur mit einer Chance von etwa 1/35 finden, und man im Anschluss, auch ohne die Mattdrohung und beispielsweise nur mit einem Turmminus im Gepäck, die Partie mit einer geschätzten Wahrscheinlichkeit von 99.99999% locker gewinnen würde (mit der weiteren winzigen Einschränkung wie oben: er nutzt die 0.000001%).

Also: in jeder Partie, die man spielt, ist man von dieser Zufälligkeit abhängig. Man hat fast keinen Einfluss auf die gegnerische Zugauswahl. Es ist ja in der Regel gar nicht erforderlich, dass er fortgesetzt wie Kasparow spielt. Er kann ja in einer Schlüsselposition einen sehr starken Zug finden, diesen aber mit einer völlig falschen Begründung – beispielsweise auf einem Übersehen begründet, welches sich aber letztendlich positiv auswirkt, da er den Zug bei Nichtübersehen gar nicht ausgeführt hätte.

Es gibt sehr viele Möglichkeiten, dass sich die gegnerische (zum Großteil von nicht selbst beeinflussbaren, aber dennoch Zufälligkeiten) Zugauswahl vorteilhaft oder nachteilig auswirkt. Dies ist ein Aspekt von Glück und Pech. Er wird von Schachspielern gerne ignoriert. „Der Gegner spielt nun mal so gut, wie er spielt.“ Falsch. Manchmal spielt er besser, manchmal schlechter. Und einiges davon geschieht zufällig.

2) Befindlichkeit des Gegners

Selbstverständlich ist an sich auch, dass die Befindlichkeit des Gegners dessen Zugauswahl mit beeinflusst. Dies kann sich klarerweise beizeiten positiv, beizeiten negativ auswirken. Der Gegner hätte in allen Fällen seine 2135 Elo, spielt aber einmal wie 2400 und einmal wie 1900 – weil gerade dies ein Gegner ist, der größeren Leistungsschwankungen unterworfen ist (oder sind wir es nicht alle?).

coveru1anzHier sei zumindest noch an den alten Berliner Meister Walbrot erinnert, jenen mit den kernigen Sprüchen: „Ick hab noch nie jehng eenen Jesunden jewonnen.“ Meist stellt sich die Unpässlichkeit zwar erst nach dem Unterzeichnen der Niederlage heraus, aber immerhin. Ab und an könnte es ja wirklich eine geben – man profitiert. Der Konkurrent hingegen trifft auf den gleichen Gegner an dessen ausgesetzter Unpässlichkeit. Unmöglich? Und, falls nicht: hätte man da nicht ein wenig Glück gehabt?

3) Übersehen

a. eigene

Tja, auch dies ein etwas heikler Aspekt, gerade bei den eitlen (heikel – eitel) Schachspielern, da man Derartiges sehr selten von ihnen wirklich zu hören bekommt. Hier sollte man möglichst mit sich selbst ins Gericht gehen. Vor allem, nachdem „alles gut gegangen ist“ nach einem Übersehen, man die Partie gar gewann (bei Niederlagen kommt es schon vor, meist im Tenor: „Stell dir mal vor, diesen einfachen Zug habe ich übersehen!“), wird meist recht gerne der Mantel des Schweigens darum gehüllt.

Natürlich könnte man diese Kategorie noch beliebig weiter unterteilen. Erwähnt als Beispiel aber nur noch, dass es oft genug vorkommt (wo ist die eigene Nase? Ach ja, hier, mitten im Gesicht), dass man eine mögliche Kombination übersieht. Sei es, dass es sich auf eine gegnerische oder auf eine eigene bezieht. Man sieht die Möglichkeit also nicht -- aber sie ging gar nicht. Nun wird insbesondere der (noch eitlere) Schachspieler sagen: „Na, gesehen habe ich es natürlich genau deswegen nicht, weil es gar nicht ging. Da war es ja überflüssig, es zu sehen.“ Nur liegt er damit leider oftmals ziemlich weit neben der Wahrheit. Gerade von Großmeistern wird man oft genug hören können, dass man nur herausfinden kann, ob eine Möglichkeit sich vorteilhaft oder nicht auswirkt durch konsequente, gute, und möglichst korrekte Rechenarbeit. Das Übersehen kann langfristig kein Vorteil sein, Im Einzelfall aber schon: nicht gesehen – ging nicht – viel Zeit gespart, als eine Auswirkung. Nur: wäre es gegangen, hätte man vielleicht in einer anderen Partie den Sieg ausgelassen.

Oft genug wird es wohl jedem passieren, dass man gegen einen besseren Gegner spielt und dieser für einen mitdenkt und zugleich mithilft. Man bekommt nach der Partie vorgeführt, welche versteckte und selbst nicht einmal erahnte Möglichkeit es gegeben hätte – für einen selbst oder für den Gegner – und beide Male zeigt der Meister auf, dass es nicht gegangen wäre. Warum hat er sich denn die Rechenarbeit nicht erspart? Eben: weil er es VORHER nicht wusste.

Aus der eigenen Praxis einmal folgendes Beispiel, an welchem einem Einiges klar wurde, als es geschah: als man in einer Partie gegen Großmeister Vaganjan einmal in einen Angriffwirbel geriet und jener mit einem Opfer die Königsstellung aufgerissen hatte, nun kurz vor der Skalpierung des meist begehrten Objektes auf dem Schachbrett stand, mit der Ausführung des Abschlusszuges der Kombination – welche wohl unweigerlich das Shakehand zur Folge gehabt hätte – aber zögerte, noch weiter zögerte, und noch immer nicht zog. Da nahm man die eigene Rechenarbeit wieder auf: es musste doch eine versteckte Verteidigungsmöglichkeit geben? Und: Tatsache, sie fand sich. Der scheinbare Gewinnzug hätte mit einem völlig unerwarteten Gegenschlag ausgekontert, widerlegt werden können. Der Großmeister führte einen anderen Zug aus – welcher aber die Niederlage, selbst wenn es sich um die objektiv beste Lösung handelte, nicht verhindern konnte. Man sollte nur wissen und so objektiv sein (und blieb es auch nach der Partie): der Gegner hatte sich selbst besiegt, wenn man so möchte, zumindest waren die Umstände anerkannt glücklich, und dies nicht in unerheblichem Maße. Das durch diese Partie aufgegangene Licht kann der Leser zum Teil in diesem Text (vermutlich missmutig) begutachten.

b. gegnerische

Selbstverständlich gibt es immer den Gegenaspekt: hat der Gegner eine eigene Möglichkeit ausgelassen? Gerade in Zeiten der wachsenden Strahlkraft der Silizium Giganten wird es sicher jedem schon mal passiert sein, dass er im Anschluss an eine aus eigener Sicht gut geführten Partie, die er gerade bei einem abschließenden Bierchen genießt, aber doch (dummerweise) zeitgleich seinem Computer „vorführt“, dass dieser die Vorzeichen kurzerhand umgekehrt und einen selbst vorführt: hier hättest du gewinnen können (sagen wir: sofort). Na gut, süffisant zur Kenntnis genommen, aber doch im Geiste auf den „Endsieg“ verwiesen, aber, noch schlimmer: hier hätte dein Gegner die Partie nicht nur retten, nein, er hätte sie komplett drehen können.

Man konnte, siehe auch oben, nicht sicher sein, dass der Gegner diese Möglichkeit nicht findet. Nein, im Gegenteil.

Es kann aber auch passieren, dass man (sehr beliebt dabei: direkt NACH der Ausführung) eine gegnerische Möglichkeit entdeckt, also noch am Brett sozusagen aufwacht (wie meinte Schachgroßmeister Lau in gemeinsamen Jugendtagen so trefflich? „Der gesündeste Schlaf ist noch immer der Brettschlaf.“), nun aber nicht recht weiß, wo hinschauen, aus Scham und in der Hoffnung, damit am besten das sich ankündigende Unheil abwenden zu können, aufsteht und möglichst gelangweilt auf andere, ferner liegende Bretter schaut, jedoch nur mühsam die Aufmerksamkeit abwenden kann? „Sieht er es, oder sieht er es nicht?“ Man könnte nun, symbolisch gesprochen, auch die Münze rausholen. Nichts weiter als das eigene Auftreten, von dessen Effektivität man wenig weiß, was man dem Schicksal entgegen halten könnte. Reiner Zufall (und jener war, der Erinnerung nach, Spekulant).

4) Auslosung und Punktausbeuten

Sicher müsste man die erwähnten Glücksaspekte noch weiter differenzieren: „Sprichst du von Partieausgängen oder von Turnierausgängen?“ Einsichtig dürfte aber jedem sein, dass es ab und an zu günstigen Auslosungen, gelegentlich natürlich, dem Widerpart von Gustav Gans betreffend,  zu ungünstigen Paarungen kommt. Ganz zu schweigen von einer Punktausbeute, welche bei dem einen Turnier locker zum Sieg ausreichen kann, beim nächsten aber nur den 5. Platz einbringt.

(dazu das Beispiel aus der Praxis? In einem Schnellturnier jüngst gelang es, aus 9 Partien stattliche 8 Punkte zu ergattern. Nur hatte der Turniersieger eben 9 erzielt. Dies veranlasste gar den die Sieger ehrenden Turnierleiter zu der Bemerkung, dass es nicht schwer sei, herauszubekommen, wo der {hier schreibende} Zweitplatzierte seinen Punkt abgegeben hätte. Da es sich jedoch beim Sieger um den dies gleichermaßen in Serie tuenden Großmeister Robert Rabiega handelte, ist man weit entfernt davon, dieses Ereignis etwa als „unglücklich“ einzustufen. Im Gegenteil, und das ist so gemeint, wie es hier steht.)

5) Farbzuteilung

Selbstverständlich kann auch die Farbzuteilung ihren Beitrag leisten, im gleichen Maße wie im Punkte zuvor, die Auslosung. Sicher hätte dies aber hier zugleich eine gewisse schachliche Komponente. Man bekäme günstigerweise jenen mit Schwarz nicht so schlagkräftigen Gegner, den anderen, welcher eher mit der dunkleren Farbe auftrumpft, mit dessen Farbe.  Ein kleiner Aspekt nur, aber es darf doch mal erwähnt werden?

6) Zeiteinteilung

Die Zeit spielt immer, bei jeder Zugentscheidung eine Rolle. Also: man könnte ein Stellungsproblem lösen, es hapert nicht an der schachlichen Befähigung. Nur muss man auch (irgendwann) ziehen. Dies betrifft zugleich den Gegner. Es ist nur eine Nuance, nur kann es oft genug vorkommen, dass das Pendel für die Zugauswahl gerade zum entscheidenden Zeitpunkt für den – sich im Nachhinein erst als solchen erweisenden – besseren Zug ausschlägt, auf Gegners Seite vielleicht, völlig unbeeinflusst, umgekehrt.

Man hat nur einen Aspekt hinzugefügt. Es kann sich alles positiv oder negativ auswirken, das versteht sich, und eingestanden bleibt, dass es, unabhängig vom Zutreffen der Beobachtungen, keinerlei Einfluss nehmen sollte, also in dem Sinne irrelevant bleibt.

Aus eigener Praxis dennoch diese kleine (natürlich subjektiv verfärbte) Geschichte. Die Erinnerung sagt aber, dass es so und nicht anders war. Nur ist möglicherweise die Wahrnehmung getrübt. Dennoch war das Ereignis bis dahin ziemlich einzigartig:

Man hatte sich eine sehr vorteilhafte Stellung herausgespielt, in einem Mannschaftskampf. Man spürte, dass in dieser Stellung nun die Entscheidung fallen müsste. Es gab zwei (kombinatorische) Möglichkeiten, den Vorteil umzuwandeln in ein materielles oder eindeutig positionelles Plus im Endspiel. Nach etwa 10 Minuten intensiven Nachdenkens wurde der Blasendruck zunehmend lästig. Man stand direkt vor der Entscheidung und, bitte sehr, gerne angebracht, am Zug befindlich das Brett zu verlassen erschien weit mehr als nur unschicklich. Der Zug war quasi schon ausgeführt, die Vernunft schaltete sich immer wieder ein – bei soliden 30 Minuten auf der Uhr: „Geh doch lieber erst zur Toilette.“ Der Gewinn war aber berechnet, eigentlich, so war man sicher, war alles klar.

Der Toilettengang wurde eingeschoben, bei Rückkehr mit verändertem Blick auf die Stellung und etwas der Stellung (und dem Leben sicherlich) entrückt – wurde die Entscheidung aufgehoben, durch die Alternative ersetzt. Die gewählte Fortsetzung vergab den Vorteil, man wollte sich – so die häufig erzählte und ebenso gehörte und daher nicht nur hier unglaubwürdige Geschichte – mit dem Remis nicht abfinden aufgrund des nachteiligen Verlaufes des Mannschaftskampfes und verlor, wie es sich gehört. Die Analyse – in welcher der Gegner natürlich bedenkenlos anerkannte, überspielt worden zu sein – brachte zum Vorschein, dass der vor dem Toilettengang (so die vernebelte Erinnerung) ausgewählte Zug zu einer einfachen Gewinnstellung geführt hätte.

Ob nun Zeiteinteilung oder was auch immer: es war eine Kuriosität. Natürlich ist ein andersartiger Ausgang der Partie, selbst bei alternativer Zugauswahl keineswegs garantiert. Die Geschichte soll nur vor Augen führen, dass es teils völlig andere, nicht direkt den schachlichen Befähigungen unterworfenen Kriterien gibt, welche die Zugauswahl entscheidend beeinflussen können.

Die Zeit gehört dazu, das bestreitet sicher niemand, und ist halt ein Aspekt, der irgendwie mit den schachlichen Ergebnissen korreliert wird. Nur geht es manchmal vielleicht auch um den Zeitpunkt?

7) Der richtige Zug – die falsche Begründung

Vermutlich kommt dies doch am häufigsten vor: es gibt einen kritischen Moment in der Partie. Nun ist Aufmerksamkeit gefragt. Finde auch ja den richtigen Zug, sonst geht die Partie den Bach runter. Es kann auch eine Kombination sein, auf welche man sich einlässt, ohne die Konsequenzen (vielleicht eben, siehe oben, wie Großmeister Vaganjan) endgültig absehen zu können im Gegensatz zu einem (noch) besseren Spieler. Man macht die Augen zu – und schlägt zu. Es sind einige Möglichkeiten gesehen worden, man schätzt es ab, wie auch immer, nur weiß man es nicht (sicher). Am Ende stellt sich heraus, dass es sich – auf Ehre und Gewissen NICHT vorhergesehen, nicht etwa wie Kasparow einst bei seiner Traumkombination gegen Topalow, als er zunächst eingestand, nur das sichere Remis gesehen zu haben, aber plötzlich, etwas später, behauptete, doch das Matt am Horizont gesehen zu haben und man doch bei ausreichend viel Verstand Zweifel anmelden musste – positiv auswirkte. Nun wird man auch in diesem Falle sein eigenes überragendes Schachverständnis ins Feld führen, ohne dass jemand dies ernsthaft widerlegen könnte, nur ist es vermutlich eben nicht die Wahrheit.

Auffällig wird Derartiges sicher Jedem, der sich mal eine jener echt höchst komplizierten und nur zum Nachspielen, nicht aber zum Lösen geeigneten Studien ansieht, bei der einem immer wieder der Mund offen stehen bleibt, weil man eine Lösung, und gar noch eine solche, nun wirklich niemals für möglich gehalten hätte. Der Laie staunt, der Fachmann wundert sich, so in etwa.

Dies noch lange nicht sämtliche Kriterien und unter jenen längst keine ausreichende Differenzierung getroffen, was noch alles beitragen kann zu einem möglichen Partieausgang. Beim nächsten Turnier wird sicher wieder der Elo-Favorit die Nase vorn haben – und der Autor wird weiterhin ausgelacht, falls ihm nicht gleich hier und jetzt mal ordentlich der Kopf gewaschen werden sollte...

Diese Ausführungen sollen auch keineswegs das Schachspiel mit einem anderen (!! Ja, ja, der Wortwitz und die Hinterhältigkeit) Glücksspiel gleichsetzen. Vielleicht wäre es im Sinne der Spannung – um jene geht es nämlich demnächst in einem Folgeartikel – gar erfreulich oder wünschenswert, wenn dem Spiel ein Zufallselement hinzugefügt wurde, welches die (eventuell zu große) Vorhersagbarkeit ein wenig auffrischt, aber auch dafür möchte man nicht unbedingt Werbung machen.  Das Spiel ist, wie es ist, es ist für alle Ausübenden offensichtlich ausreichend aufregend und man erfreut sich wohl doch immer wieder an der Vielfalt der Möglichkeiten, durch welche man sich, einem Urwald gleich, einen Weg zu bahnen sucht und möglicherweise in dieser oder jener Partie gar einen ordentlichen, eine kurzen oder einen schadensfrei begehbaren findet.

Die Existenz von Glückselementen sollte auch bitte nur anerkannt werden – und wird es merkwürdigerweise auch in höheren Spielstärkeregionen viel eher, wo man durchaus und überzeugt und wiederholt und keiner falschen Bescheidenheit geschuldet den folgenden Satz hören kann: „In der Partie habe ich eine Menge Glück gehabt.“ Zweifel?

Die Existenz also anerkennen, was auch eine Beruhigung und Motivation darstellen kann: wenn man verliert muss man sich nicht unbedingt gleich selbst kasteien oder sich schwören, nie wieder eine Figur anzurühren, da man offensichtlich ungeeignet, unbegabt und einfach zu blöd ist... Dranbleiben, weiter machen, es erneut versuchen – und nach der nächsten Perle suchen. Die Relevanz oder die Notwendigkeit, sich mit Glück und Pech zu beschäftigen, ist nicht gegeben, dies bleibt eingeräumt.

Also, man schließt daraus: viel Lärm um nichts?

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